Niko erwacht. Draußen
ist es bereits hell, es ist Sommer. Er schaut aus dem Fenster und sieht die
S-Bahn vorbeifahren. Er schaut zurück ins Zimmer und beobachtet Elli. Wie lange
waren sie nun zusammen? Was empfindet er für sie? Was will er eigentlich? Er
weiß es nicht. Eigentlich weiß er gar nichts. Aber der Funke ist nicht mehr da.
Kein Gefühl. Er wird Elli verlassen. Er weiß es. Sie weiß es noch nicht, aber
er wird es sie spüren lassen. Einfach nicht mehr sehen. Er muss sich nicht mal
erklären. Abwimmeln und im Nichts schwimmen. Da erwacht auch Elli und schaut ihn
auffordernd an ...
© 2013 X-Verleih |
Dieser Moment ist die Ausgangssituation des Films. Niko wird
Elli tatsächlich abwimmeln, sie von sich weisen, wie er alles von sich weist,
besonders die Verantwortung für sein eigenes Leben. Ohne Erklärung, ohne ihr
eine Interventionsmöglichkeit zu geben. Sie wird gehen. Er muss nur warten.
Im Sog der Zeit hat er sich verloren, in seinen Ambitionen,
seinem Antrieb. Er treibt nicht an, er lässt sich treiben. Ein ums andere Mal.
"Kennst du das Gefühl, dass dir die Leute um dich herum
merkwürdig erscheinen? Und je länger du darüber nachdenkst, desto klarer wird
dir, dass nicht die Leute, sondern du selbst das Problem bist?" sind Nikos
erste Worte und zeigen die innere Zerrissenheit, die ihn begleitet und ihm das
eigene Handeln erschwert.
Einfach und doch genial
2013 kommt mit OH BOY ein faszinierender kleiner
Independentfilm in Schwarzweiß in die deutschen Kinos, dessen Siegeszug
weltweit bis heute andauert. In Deutschland wird er vielfach ausgezeichnet
(u.a. mit dem Deutschen Filmpreis für die beste Regie, das beste Drehbuch und
den besten Hauptdarsteller und dem Europäischen Filmpreis für den besten
Nachwuchsfilm). In Europa, Amerika und Asien feiert er glanzvolle Premieren und
wird hoch gelobt.
Dabei ist die Story so simpel und berührt in ihrer
Einfachheit doch eine ganze Generation.
Niko Fischer, Ende zwanzig, will eigentlich nichts mehr, als
eine Tasse schwarzen Kaffee. Doch bevor er diese bekommt, begleiten wir ihn 24
Stunden in Berlin auf der Suche nach eben diesem Kaffee, und vor allem nach
sich selbst. Er trifft auf skurrile Nachbarn, noch skurrilere Amtsmitarbeiter,
Freunde, Exfreundinnen, seinen Vater und schließlich auf einen alten Trinker,
der ihm aus seinem Leben erzählt und durch den er für einen Moment Ruhe und
Frieden zu finden scheint.
Wer wagt, gewinnt!
Der Film und sein Erfolg sind ein absoluter Glücksfall und
Geniestreich, denn Regisseur Jan Ole Gerster bricht mit vielen Tabus des
aktuellen Erfolgskinos.
Zunächst einmal ist Jan Ole Gerster ein Filmstudent, der mit
diesem Werk seinen Abschlussfilm vorlegt. Wobei das ja des Öfteren zu großen
Erfolgen führt. Ein prominentes Beispiel dafür ist Florian Henckel von
Donnersmarcks DAS LEBEN DER ANDEREN, der 2007 mit dem Oscar ausgezeichnet wird.
Schaut man sich aber an, was in den letzten zwei Jahren für
gewöhnlich Erfolg an den Kinokassen bringt, sind es zumeist Komödien oder
Actionkracher. Gut ausgestattet, in Farbe fotografiert, mit bekannten
Gesichtern von bekannten Regisseuren oder von Schauspielern, die zu Regisseuren
werden. Und das ein ums andere Mal. Erfolgreiche Genrefilme gibt es selten:
Gelungene Ausnahmen sind etwa PRISONERS und STEREO.
OH BOY nun ist eine Komödie, doch ist sie tragischer, als
man es zunächst vermutet.
Der Filmtitel ist ein Zitat des Beatles-Songs A Day In The Life. Dort wird es dahingeseufzt,
melancholisch, fast traurig, mit einem Hauch von Resignation.
Der Siegeszug weit über die deutschen Grenzen hinaus resultiert
sicherlich auch aus der Tatsache, dass der Film in Berlin spielt, schwarzweiß fotografiert
und sehr reduziert inszeniert ist. Das macht die Stadt, den Film so international,
viele Nuancen anderer Weltstädte sind zu spüren, zum Beispiel New York oder
London.
Auch die Dialoge sind fein gestreut. OH BOY ist wahrlich
kein geschwätziger Film. Der Humor ist feinsinnig, manchmal steht er zwischen
den Zeilen oder er liest sich in der Mimik und Gestik ab.
Das macht den Film so kosmopolitisch und weltoffen. Er lässt
thematisch an DIE REIFEPRÜFUNG oder an den Antihelden in DER FÄNGER IM ROGGEN
denken oder an das eine oder andere neurotische Filmstück eines Woody Allen.
Der Soundtrack besteht nicht, wie so oft, aus schmissigen
Popsongs oder unheilschwangeren Klängen, sondern aus still gewähltem Jazz. Passend
zu den melancholischen, ironischen und auch einsamen Bildern, die wir vor uns
sehen. Wieder so ein Wagnis. Und wieder zahlt es sich aus.
Der Held des Films ist absolut passiv. Eine sehr
ungewöhnliche Herangehensweise, denn anders als in den aktuellen Filmen agiert
er nicht, er wird vielmehr agiert,
das heißt, ihm geschieht mehr, als dass er handelt. Das zeigt bereits die oben
beschriebene Eingangssequenz. Nicht er wird gehen, Elli wird es tun, weil er
nichts mehr mit ihr tut. Kein Treffen, kein Gespräch.
Was Jan Ole Gersters erster Job beim Film ist? Er hakt 40 Mal telefonisch nach und bekommt dann den Job als Produktionsassistent bei GOODBYE, LENIN! – Nachhaltigkeit und notwendige Penetranz öffnen ihm die ersten Filmtüren. Da weiß er: Das will ich beruflich machen. Er studiert Regie und Drehbuch an der Deutschen Filmakademie, ein Langzeitstudium, wie er im Interview etwas verschämt beifügt.
Kurz nach diesem Job beginnt seine Arbeit am Drehbuch zu OH BOY.
Was lange währt ...
Was Jan Ole Gersters erster Job beim Film ist? Er hakt 40 Mal telefonisch nach und bekommt dann den Job als Produktionsassistent bei GOODBYE, LENIN! – Nachhaltigkeit und notwendige Penetranz öffnen ihm die ersten Filmtüren. Da weiß er: Das will ich beruflich machen. Er studiert Regie und Drehbuch an der Deutschen Filmakademie, ein Langzeitstudium, wie er im Interview etwas verschämt beifügt.
Kurz nach diesem Job beginnt seine Arbeit am Drehbuch zu OH BOY.
Fünf Jahre dauert das Feilen an der Idee und am Drehbuch. Es
verschwindet zwischendurch immer wieder in der Schublade, Zweifel legen Jan Ole
Gerster lahm.
Als das Script steht, schickt er es seinem Freund Tom
Schilling. Der ewig jungenhafte Schauspieler ist gerade Vater geworden und auch
äußerlich gereift, so dass er für die Rolle in Frage kommt. Und Schilling ist
begeistert! Er sagt sofort zu und schreibt darüber hinaus einen fünfseitigen
Brief an Gerster, mit Gedanken zu der Rolle und zum Film.
Mit 32 einer der Besten
In Berlin aufgewachsen, spielt Tom Schilling mit 12 Jahren
am Berliner Ensemble und ab 1988 in Film- und Fernsehproduktionen. Seine Rollen
werden im Laufe der Jahre vielfältiger und anspruchsvoller. Den Durchbruch
schafft er 2000 mit CRAZY. Es folgen VERSCHWENDE DEINE JUGEND, NAPOLA,
ELEMENTARTEILCHEN sowie weitere Film- und Fernsehrollen. Der TATORT – AM ENDE
DES TAGES gerät 2010 in die Kritik, da er ein totes Baby auf dem
Obduktionstisch zeigt. Schilling hingegen erntet als verzweifelter Vater großes
Lob und empfiehlt sich für zwei der charismatischsten Rollen, die folgen
sollen: die des desillusionierten Soldaten in dem international höchst
umstrittenen Dreiteiler UNSERE MÜTTER – UNSERE VÄTER und eben Niko in OH BOY.
Für seine Darstellung des ziellosen Berliner Studienabbrechers erhält er seinen
zweiten Bayerischen Filmpreis, den Deutschen Filmpreis und wird für den Preis
der Deutschen Filmkritik nominiert. Ebenfalls für diese Rolle wird er für den
Europäischen Filmpreis 2014 in der Kategorie bester Schauspieler nominiert. Für
seine schauspielerischen Leistungen der letzten Jahre erhält er 2013 den Bambi.
Die Komik in diesem Werk konterkariert brillant die
ernsthaften, fast zu Tränen rührenden Szenen.
Marcos Blick:
OH BOY ist auch und vor allem deshalb ein so faszinierendes
Stück Kino, weil es ihm gelingt, ein durch und durch amerikanisches Genre zu
nehmen, und es in einer Art und Weise an deutsche Verhältnisse anzupassen, die
weder peinlich, noch bemüht oder aufgesetzt wirkt. Im Kern ist OH BOY
Deutschlands vielleicht erster, in jedem Fall eindringlichster Slacker-Film!
Slacker (Slak'er), N.: Eine Person, die ihren Pflichten und Verantwortungen ausweicht
1991 gibt der König des lakonisch geschriebenen Dialogs,
Richard Linklater, mit seinem Film SLACKER dem Genre einen Namen. Absoluten
Kultstatus erreicht es später mit NAPOLEON DYNAMITE. Dazwischen finden sich mit
Kevin Smiths CLERKS und THE BIG LEBOWSKI der Coen Brüder ebenfalls zwei
Schwergewichte. (Auch SWINGERS ist ein wundervoller Slacker-Film!)
Besonders Letztere zeigen anschaulich, wie Slacker Filme
funktionieren.
Zunächst einmal handelt es sich grundsätzlich um Komödien.
Die „Helden“ sind Figuren, die sich passiv durchs Leben treiben lassen, die
ihren Weg darin gefunden haben, keinen Weg zu haben. Sie sind zufrieden, in den
Tag hinein zu leben und besitzen wenig Zielstrebigkeit, die über ihre
aktuellsten, oft impulsiven Bedürfnisse hinausginge.
Doch natürlich ist diese Antriebslosigkeit lediglich
Stilmittel, denn die Figuren „slacken“ nicht allein. Die Handlungsstränge sind
in der Regel dünn und dienen nur dazu, die „Slacker“ mit Alltagssituationen zu
konfrontieren und sie über das Leben sinnieren zu lassen.
SLACKER bemüht sich 1991 erst gar nicht, eine klare Story
einzubinden und serviert einen lose zusammenhängenden Episodenfilm. In NAPOLEON
DYNAMITE dient ein Martial Arts Turnier dazu, die Dialoge und Szenen zu
entspinnen. CLERKS nimmt eine ungeplante Samstagsschicht im Convenience Store als
Ausgangspunkt des Dahinlebens und THE BIG LEBOWSKI erzählt vom langsamen
Sterben eines Autos und der Odyssee eines Mannes, der einen neuen Teppich
sucht. (The old one really tied the room together!)
Diese dialogfokusierte Filmart beeinflusst seit über 20 Jahren
vor allem junge amerikanische Filmemacher: Sie bietet ihnen ein Sprachrohr für
ihre eigenen Gefühle und Ansichten. In Deutschland findet dieses
Ausdrucksverlangen der Generation X vor allem literarisch sein Ventil: Die
Pop-Romane eines Christian Kracht („Faserland“) oder eines Benjamin von
Stuckrad-Barre („Soloalbum“) sind die direkten deutschen Vertreter des
Slacker-Motivs.
Mit OH BOY gibt es nun, endlich, einen deutschen Slacker-Film, der alles richtig macht. Natürlich profitiert er davon, dass er sich kosmopolitisch gibt und Berlin nicht als deutsches Berlin, sondern als nahezu austauschbare Großstadt inszeniert.
Interdeutschional
Mit OH BOY gibt es nun, endlich, einen deutschen Slacker-Film, der alles richtig macht. Natürlich profitiert er davon, dass er sich kosmopolitisch gibt und Berlin nicht als deutsches Berlin, sondern als nahezu austauschbare Großstadt inszeniert.
Dennoch balanciert er gekonnt auf der Linie zwischen „deutschem“
Film und „internationalem“ Slacker Movie.
Wie in THE BIG LEBOWSKI geht es um eine Kleinigkeit – die
Suche nach einer Tasse Kaffee –, die den Helden durch die „Handlung“ treibt und
seine Ziel- und Antriebslosigkeit durch diverse aberwitzige Situationen führt.
Und wie in CLERKS sind es die klare schwarzweiße Optik und die Alltäglichkeit
der Situationen und Dialoge, die mitfühlen lassen und unterhalten.
Selbst in Amerika hat sich das Bild des „Slackers“
gewandelt. Mittlerweile wäre der Begriff „Hipster“ womöglich passender. Die
Slackerfilme der Neunziger und frühen Zweitausender sind Klassiker, die keine
Fortsetzungen mehr finden, aber weiterhin einer Generation ein Zusammengehörigkeitsgefühl
gegeben haben. Mit Hitserien wie GIRLS oder dem britischen SHAMELESS findet
auch dieses Genre nun seinen Weg ins Fernsehen.
Weshalb es so lange gedauert hat, bis auch Deutschland einen
guten, einen erfolgreichen Slacker-Film produziert hat, ist schwer zu sagen.
Bisherige Versuche aus Deutschland, wie ABSOLUTE GIGANTEN
oder LAMMBOCK, krankten noch daran, dass ihnen eine Moral, ein tieferer Sinn
untergemogelt werden sollte. Auch OH BOY tappt, ganz zum Schluss, scheinbar noch
in die Falle – die Erzählungen des alten Mannes zur Reichskristallnacht wirken
innerhalb des Films seltsam auffällig. Als wolle der Film hier nun doch noch
die moralische Keule bringen, den großen Gedanken zum Abschluss, den großen
Zeigefinger, der die Besucher entlässt.
Doch dann endet die Szene, und, wie in jedem guten
Slackerfilm, steht nur für sich. Sie verändert Niko nicht. Viel eher scheint
es, als habe Jan Ole Gerster hier mit einem Augenzwinkern sagen wollen: Nicht
nur die jungen Leute, die Studenten und Weltverbesserer haben etwas zur Welt zu
sagen. Auch die alten. Denn am Ende ist auch der alte Mann, der Stammgast und
Drink-Schnorrer, nichts weiter als ein Slacker, der das tut, was sie alle tun: Herumtreiben
und über sein Leben und seine Gedanken reden. Und damit seiner Generation eine
Stimme geben.
Danke für diese Gedanken. Ihr sprecht mir da aus der Seele. Hübsch!
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