- Spoilerwarnung –
Dieser Beitrag enthält Details zur Handlung und zur Auflösung des
Films!
Als die beiden kleinen Töchter der Familien Birch und Dover
entführt werden, geraten die geordneten Familienstrukturen aus den Fugen. In
Alex Jones, einem geistig zurückgebliebenen jungen Mann, findet die Polizei einen Verdächtigen,
doch aus Mangel an Beweisen wird er wieder frei gelassen. Jetzt handelt Keller
Dover nach seinen eigenen Regeln. Er hält Alex für den Entführer der Kinder und
setzt ihn mit seinen eigenen Mitteln unter Druck. Doch je extremer diese Mittel
werden, desto mehr verwischen die Grenzen zwischen Opfer und Täter, zwischen
Entführer und Entführten.
Biancas Blick:
Seit 13. Februar auf DVD / Blu Ray |
Es
ist das seelische Kammerspiel eines Verfalls.
Die
Moralität wird zu einem Spielball des Gewissens.
Nicht
nur Kelly Dovers Gewissen, sondern auch unser eigenes.
Selten hat mich ein Film so gefesselt und beeindruckt wie
PRISONERS.
Die Kernfrage des Films: „Wie weit würdest du gehen?“ ist allgegenwärtig und drängt
sich immer wieder auf.
Die Moral ist liquide, biegsam, passt sich den dargestellten
Situationen stetig an, ist kein festes Material. Gerade deshalb ist man als
Zuschauer immer wieder gefordert, sich selbst abzuklopfen, sich zu überprüfen –
in Frage zu stellen.
Man bleibt nicht distanziert im Dunkeln des Kinosaals,
sondern wird aufgesogen und erschreckt manches Mal über die Selbsteinschätzung
der eigenen Moralvorstellungen.
Die Gewalt nimmt diametral zur Verzweiflung zu, wird eigenständig
und bedrohlich im Zusammenspiel zwischen Dover und Alex Jones, je weiter die
Zeit verrinnt.
Nur in wenigen Szenen wird sie physisch gezeigt, oft bleibt
sie in Schreien und Ankündigungen und Geräuschen nur angedeutet, die Bilder
spielen sich im Kopf des Zuschauers ab und das macht es so unfassbar.
Gefangene auf allen Ebenen
Auch der Titel PRISONERS ist auf allen Ebenen spürbar, denn
jeder der Protagonisten ist gefangen, entweder physisch oder psychisch oder
auch beides.
Da wäre Keller Dover, brillant von Hugh Jackman verkörpert,
der einst in seiner Alkohol– und Kontrollsucht gefangen war und sich nun im
Wahn verfängt, den Entführer seiner Tochter zu finden. Er wird zu einem
Gefangenen seiner rachsüchtigen, gewalttätigen Mission, die schon längst
verloren zu sein scheint.
Quelle: DVD & Blu-ray „Prisoners” (Universal Pictures) |
Alex Jones, der junge Mann, wird zu einem Gefangenen Keller
Dovers und seiner Unfähigkeit, die Situation zu erfassen.
Detective Loki, faszinierend gespielt von Jake Gyllenhaal,
wird zu einem Gefangenen im Kampf, die beiden Kinder zu retten. Auch er droht,
sich in einem Wahn zu verirren, auch wenn er stets ruhig und überlegt bleibt.
Franklin Birch, der Vater des anderen vermissten Mädchens
und Freund von Keller Dover, wird zu einem Gefangenen seines Mitwissertums. Er
weiß um die Taten seines Freundes und beginnt, dessen Methoden zu missbilligen.
Trotzdem kann er ihn nicht verraten, zu sehr erhofft er sich durch Dovers Methoden
die Rettung der Mädchen.
Die beiden Mädchen wiederum sind physische Gefangene.
Der Zuschauer wiederum wird zu einem Gefangenen des
Geschehens. Er wird so hineingesogen, dass er sich dem Gezeigten kaum entziehen
kann und seiner eigenen Moral ebenso wenig.
Die Atmosphäre des Films ist sehr düster und unterstreicht
den menschlichen Abstieg Dovers durch Dunkelheit und Dauerregen, kein Licht,
keine Sonne, alles ist Grau in Grau, durchsetzt mit Schneematsch.
Kaum Musik.
Gewalt als Mittel zum Zweck
Die Gewaltszenen zwischen Keller Dover und Alex Jones wurden
nur in einigen Szenen genau im Drehbuch festgehalten.
Denis Villeneuve (Regisseur, es ist sein erster
englischsprachiger Film) und Hugh Jackman besprachen diese Szenen im Vorfeld
genau und waren sich darüber einig, dass die Gewalt aus der Situation entstehen
müsse, nur so könne der Zuschauer erahnen, was Gewalt im Affekt (und später in
wachsender Verzweiflung) bedeutet. So ist der Hammerschlag Dovers gegen die
Wand ungeplant entstanden und im Film verarbeitet worden.
Villeneuve wollte bewusst nur wenige Folterszenen, doch
sollten diese so roh, kalt und grausam wie möglich erscheinen. „Man kann 1000
Faustschläge im Kino sehen und nichts fühlen, bei PRISONERS soll es anders
sein.“
Hugh Jackman hat sich im Vorfeld Videobänder betroffener
Eltern in Verhören angeschaut, die nicht wussten, dass sie gefilmt wurden.
Die Möglichkeit mit ihnen direkt zu sprechen nahm er nicht
an Zu „gering“ und „trivial“ kam ihm sein Anliegen im Angesicht der Trauer und
Angst real Betroffener vor. Schließlich ging es nur um die Fertigstellung eines
Films.
Da Dover im Film als sehr religiös dargestellt wird, stellt
sich die Frage, inwieweit Religiosität mit Gewalt zusammenpasst und ob PRISONERS
Religiösität ad absurdum führt?
Im Film wird die Religion, Dovers Glaube, als Rechtfertigung
für die Folter, für sein Tun benutzt. Denis Villeneuve wollte mit diesem
Hintergrund nicht die Religion an sich in Frage stellen, sondern den
Fanatismus, der solchen Aktionen oft zugrunde liegt.
Quelle: DVD & Blu-ray „Prisoners” (Universal Pictures) |
Auf die Frage, ob er selbst in solche Situation geraten
würde, antwortet er, dass er die Verzweiflung nachvollziehen kann (er ist
selbst mehrfacher Familienvater). Zu der ausgeübten Gewalt seiner Figur aber
nimmt er bewusst Abstand.
Im Gespräch für die Rollen des Dover und Loki waren unter
anderem Mark Wahlberg und Christian Bale (die aber aufgrund des THE
FIGHTER-Drehs absagen mussten) und Leonardo DiCaprio. Schließlich bekommt Jake Gyllenhaal die Rolle, nachdem er kurz zuvor mit dem Regisseur bereits an ENEMY gearbeitet hat.
Der doch sehr ruhige und stille Film hat einige
Thrilleraspekte neu definiert.
Langsame, sich stetig neu entwickelnde Gewalt, innerlich wie
äußerlich, treibt die eigentliche Handlung voran.
Der Sympathieträger, der langsam zum Monster wird.
Der vermeintliche Täter, der sich aufgrund seiner wachsenden
Hilflosigkeit und Verletzlichkeit in unser Herz spielt und die Rolle der
ursprünglichen Opfer, der beiden Mädchen, einnimmt. Ein dramaturgisch
gelungener Kunstgriff.
Die Involvierung des Zuschauers, der sich stets neu
hinterfragen muss.
PRISONERS war am Startwochenende ein enormer Erfolg in den
USA, womit niemand gerechnet hatte.
Schnell wurde er als heißer Oscarkandidat gehandelt.
Am Ende jedoch wurde er weder bei den Golden Globes noch bei
der Oscarverleihung berücksichtigt. Woran das gelegen hat, ist mir
schleierhaft. Zu früher Start? Zu wenig Publicity?
Für mich einer der besten Filme der letzten Jahre.
Marcos Blick:
Filme über verschwundene Kinder, rachsüchtige Väter und
Selbstjustiz gibt es viele. Und viele davon konzentrieren sich auf die
psychologische Tragweite der Situation. DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER mag eines der
bekanntesten Beispiele sein.
Trotzdem gelingt es PRISONERS mit einigen geschickten
Kniffen, aus der Masse hervorzustechen und dem Genre neue Impulse zu geben.
Zunächst einmal erspart er sich und uns, mit den Opfern mitzuleiden. Viele andere Drehbücher hätten vermutlich der Versuchung nachgegeben, immer wieder zu den entführten Kindern zu schalten. Dem Zuschauer Informationen zu vermitteln. Aus dem Leid der Opfer Spannung und Notwendigkeit zu erschaffen, mit dem Vater mitzufühlen.
PRISONERS nutzt die entführten Kinder lediglich als
Aufhänger. Bis zum Schluss tappt der Zuschauer komplett im Dunkel, was das
Schicksal der Mädchen betrifft. Genau dadurch zwingt der Film den Zuschauer
aber, seine Stellung zu Dovers Methoden aus sich selbst zu erschaffen. Wüsste
man, was den Mädchen geschieht, hätte der Film eine Lesart vorgeschrieben.
Quelle: DVD & Blu-ray „Prisoners” (Universal Pictures) |
Zugegebenermaßen mogelt der Film hier ein wenig, denn der
niedrige IQ allein ist keine Erklärung dafür, dass Alex Thomas nichts erklärt.
Dennoch – Paul Danos Spiel bleibt undurchsichtig, zweideutig. Ist er Täter oder
Opfer?
Der Film lässt den Zuschauer allein mit seiner Meinung,
bietet weder Hinweis und Rechtfertigung. Genau das macht ihn so unbequem.
Anstatt zum passiven Zuschauer macht es ihn zum aktiven Mitwisser, der allein
auf seinen eigenen Moralkodex zurückgreifen kann.
Und genau hierin unterscheidet er sich vom Großteil seiner
Genrekollegen. Natürlich ist er spannend. Natürlich geht es um zwei entführte
Kinder und einen Vater, der alles Erdenkliche tut, nur um etwas zu tun! Aber es geht ihm nicht allein um Spannung, es geht
ihm nicht darum, die Geschichte eines Vaters zu erzählen.
Er will den Zuschauer in eine Situation zwängen, der er sich
nicht entziehen kann. Er will ihm einen Spiegel vorhalten. Und das gelingt ihm
durch mutige Reduktion, durch den Entzug von Information, durch einige
erzählerische Kniffe und nicht zuletzt durch das hervorragende Spiel der
beteiligten Hauptfiguren.
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