- Spoilerwarnung -
Dieser Beitrag kann Details zur Handlung enthalten
Biancas Blick:
Marlene Dietrich greift Emil Jannings Arme, windet sich,
ringt nach Luft, hat Todesangst!
Josef von Sternberg muss die Szene abbrechen, es besteht
Lebensgefahr für seine Hauptdarstellerin. Marlene Dietrich will den Dreh
zunächst abbrechen, weigert sich, noch ein Mal mit Jannings vor die Kamera zu
treten. Sternberg kann sie zurückholen. Der Dreh wird dann ohne weitere
Vorkommnisse zu Ende gebracht.
Zwei ähnlich verlaufende Handlungsstränge
Auf der einen Seite ist da der fiktive Professor Rath,
angesehen, konservativ, streng, ordentlich, alleinstehend und rechtschaffen. Lehrer an einem Männergymnasium zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er gerät
zufällig in die Spelunke, in der die Sängerin Lola Lola auftritt, eigentlich um
seine sich heimlich dort aufhaltenden Schüler zur Rede zu stellen. Aber es
kommt alles anders: er erblickt Lola Lola, die Animierdame, die Sängerin, eine
Frau ohne gesellschaftliches Ansehen. Sie weckt in ihm Gefühle der Lust,
sexuellen Anziehungskraft, Begierde. Er beginnt, täglich in die Bar zu gehen
und mit Lola Lola anzubändeln. Sie geht auf seine Annäherungsversuche ein, die
Gründe scheinen rein finanzieller Natur zu sein. Sie heiraten, er verliert
daraufhin sein Ansehen, seine Anstellung und wird als verachtungswürdige Person
von seinem vorigen Wirkungskreis abgelehnt. Er wird buchstäblich zum Clown
seiner Liebe, tritt als selbiger im Varietè seiner Frau auf. Als sie droht, ihn
zu verlassen, verliert er den Verstand, bringt seine Frau fast zu Tode, und
endet in seinem ehemaligen Klassenzimmer, bricht tot am Pult zusammen.
Auf der anderen Seite ist da der egozentrische Weltstar, Emil Jannings, der als erster Darsteller der
Oscargeschichte einen Oscar gewonnen hat (1927: THE WAY OF ALL FLESH; 1928: THE
LAST COMMAND). Er hat Allüren: Er weiß, er ist einer der geachtetsten und
bestbezahlten seiner Zunft. Und er verspricht sich viel von der Rolle. Natürlich! Die Rolle des
Professor Rath! Heinrich Mann hat ihn erschaffen, Josef von Sternberg, ein
aufgehender Stern am Regiehimmel, wird ihn inszenieren! „Professor Unrat“! Die
Titelfigur! Die zentrale Romanfigur! DER ERSTE DEUTSCHE TONFILM! Nelly Mann
soll die Lola Lola spielen! Die Ehefrau des Schriftstellers ist nicht annähernd so talentiert wie Jannings, hat die Rolle nur bekommen, weil ihr Ehemann den Roman
fabriziert hat. Die wird er schön an die Wand spielen! So ähnlich formuliert er
es im Kreise seiner Freunde und Familie.
Aber es kommt alles anders. Eine relativ unbekannte
Schauspielerin des Berliner Varietétheaters bekommt die begehrteste Rolle des Jahres.
Mit ihrer uninteressierten, hingeschmissenen Darstellung bei den Probeaufnahmen
stiehlt sie Sternbergs Überzeugung (und auch sein Herz) und bekommt die Rolle
der Lola Lola gegen viele Widerstände. Und sie spielte wunderbar unaufgeregt,
lasziv, hingebungsvoll. Bereits nach wenigen Drehtagen ist klar: Sie und
niemand sonst ist der Star des Films. Das bemerkt auch Emil Jannings. Er wird
wütend, sehr wütend! Die Zuneigung zwischen Regisseur und Hauptdarstellerin ist
nicht zu übersehen. Von Sternberg stiehlt ihm die großen Momente, um sie dieser
kleinen nichtssagenden Schauspielerin zu geben. Um sie besser in Szene zu setzen, auf seine
Kosten! Und dann wird auch noch der Titel des Films geändert! Aus „Professor
Unrat“ wird „Der blaue Engel“. Emil
Jannings verkommt in seiner Rolle zum Supporter einer grandios aufspielenden
Marlene Dietrich. Er tobt! Geht! Kommt zurück und macht sich selbst vor der
gesamten Crew lächerlich. Diese Frustration und Wut kulminiert in einer
Würgeszene, die außer Kontrolle gerät und Marlene Dietrich fast das Leben
kostet.
Wie ging es weiter?
Marlene Dietrich wird mit diesem Film zum Star, folgt bereits
für den nächsten Film Sternberg nach Amerika und beginnt dort eine
Weltkarriere. „Der blaue Engel“ wurde parallel auch auf Englisch gedreht und
sorgt in Amerika für Furore!
Für den zweiten Film unter Sternbergs Regie (1931: MAROCCO) bekommt
sie ihre erste und einzige Oscarnominierung als beste Hauptdarstellerin.
Inwieweit die Beziehung zwischen Josef von Sternberg und
Marlene Dietrich ebenfalls Parallen zum Roman „Professor Unrat“ aufweist, ist
oft diskutiert worden.
Emil Jannings dreht noch bis 1945 in Deutschland Filme. Den
Ruhm, den er in den Zwanziger Jahren innehatte, erreicht er aber nicht mehr.
Trotz des inhaltlich interessanten Themas bleibt der Film
hauptsächlich wegen drei Punkten in Erinnerung: Dietrichs frivole Darstellung,
als erster deutscher Tonfilm und Emil Jannings Gebaren
am Set.
Die Kritik ist begeistert, insbesondere von Marlene
Dietrich. Sie wirft dem Film jedoch zu recht vor, aus dem
gesellschaftskritischen Roman Heinrich Manns ein Einzelschicksal gemacht zu
haben, in dem der Tod des Professors am Ende steht. Und somit ein
systemstabilisierender und kein anarchistischer Film zu sein.
Bei der Premiere des Films gibt es weit mehr als 60
Vorhänge!
Der Film ist ein Kind seiner Zeit, mit einer
Gesellschaftsstruktur, die wir heute nur noch in Ansätzen kennen. Er wirkt
dadurch manches Mal unfreiwillig komisch.
Die Darstellung erinnert noch sehr ans Theater: stark
geschminkte Gesichter, große Gesten – überzeichnet und kaum subtil.
Marlene Dietrich, für heutige Verhältnisse wenig attraktiv
in Szene gesetzt, spielt überzeugend und eindringlich.
Sie schafft einen neuen Frauentyp: die androgyne,
frivol-attraktive, selbstbeherrschte Frau, die sie von nun an in fast jedem
Film spielt und der dem Publikum in wenigen Jahren über sein wird. Damit gerät sie zum „Kassengift“. Ihr überagierende Spiel wirkt alsbald nicht mehr
zeitgemäß und unfreiwillig komisch.
Die Lieder aus DER BLAUE ENGEL werden zu Gassenhauern,
noch heute gern gesummt und gesungen, bekannt und geliebt: "Nimm dich in Acht vor blonden Frau'n", "Ich bin die fesche Lola" und "Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt."
DER BLAUE ENGEL ist filmhistorisch bedeutend und bis heute nur unzureichend kopiert oder theatralisch inszeniert worden, etwa als Neuverfilmung 1959 von Edward Dmytryk oder 2011 von der Komödie am Kurfürstendamm.
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