04.03.14

Gravity (GB/USA 2013)

Ein mittlerweile vielzitierter Ausspruch Alfred Hitchcocks lautet sinngemäß: "Der perfekte Thriller handelt von zwei Personen in einer Telefonzelle" und besagt, dass Spannung am ehesten entsteht, wenn möglichst wenig Leute sich innerhalb eines möglichst engen Raums ans Leder wollen.
Im Jahr 2002 inspirierte das Zitat Joel Schumacher zu seinem Telefonzellenthriller NICHT AUFLEGEN!
Gänzlich andere Wege beschritt Alfonso Cuarón mit seinem Thriller GRAVITY: Er reduzierte das Personal um die Hälfte und erweiterte den Raum dafür in die Unendlichkeit. Und erschuf einen Thriller in Reinform.

© Courtesy of Warner Bros. Pictures
- Spoilerwarnung -
Dieser Beitrag kann Details zur Handlung enthalten

Marcos Blick:

Über die Frage, was genau ein "Thriller" eigentlich sei, streiten sich Geisteswissenschaftler seit es "Thriller" gibt. Im Kern sind sie sich zumindest einig, dass ein Thriller eine Geschichte ist, in der die Figuren um etwas Wichtiges kämpfen müssen, was im Leser oder Zuschauer Gefühle von Spannung und Mitfiebern erzeugt. Oder weniger akademisch: Wenn uns der Überlebenskampf des Helden die Nägel anknabbern oder Nächte durchlesen lässt, genießen wir einen Thriller!
Wie immer sind die Grenzen fließend, es muss gar nicht hochdramatisch zugehen oder unbedingt Lebensgefahr bestehen. Gerade Hitchcocks Thriller waren gewöhnlich von aufreibender Langsamkeit - auch wenn es nur darum ging, nicht ins Gefängnis zu müssen.


Die Eckpfeiler des Spannungs-Thrillers


"Langsam" ist kein Merkmal, das sich mit Gravity verbinden lässt. Trotzdem ist es ein Paradebeispiel für einen nahezu perfekt aufgebauten Thriller. Und besteht aus drei ideal aufeinander abgestimmten Komponenten:

1. Die hilflose Hauptfigur

Dr. Ryan Stone ist vermutlich die Definition von "überfordert". Eine "Zivilistin", die mit der notdürftigsten Grundausbildung im Weltraum agiert. Noch dazu wird sie zum "ganz normalen Menschen" deklariert, erzählt von ihrer Tochter, ihrer Heimat, ihrem Alltag.
Die andere Figur, der Astronaut Matt Kowalski, bleibt menschlich blass und eindimensional, was nicht mal verwerflich ist. Immerhin dient er nur dazu, die hilflose Hauptfigur durch die ersten Momente des Films zu geleiten und dem Zuschauer ein paar Fakten zu vermitteln. Die Handlung dreht sich nicht um ihn, weshalb er auch ersetzbar ist.

Ryan Stone findet sich, nachdem sie Kowalskis Hilfe verliert, in einer fremdartigen, lebensbedrohlichen Situation wieder, die sie kaum kontrollieren kann. Dazu ist sie sympathisch gezeichnet worden. Der Grundstock für einen guten Thriller ist also gelegt: Wir haben einen Sympathieträger, mit dem wir mitfiebern können. Nun gilt es, dem sympathischen Helden in seiner ausweglosen Lage eine Bedrohung vorzusetzen. Und hier lässt Gravity sich nicht lumpen!

2. Der übermächtige Gegner

Die gängigen Gegner in Thrillern sind überschaubar. Mörder, Trickgangster, psychopathische (wahlweise hyperintelligente) Super-Serien-Killer, Monster und Aliens aller Couleur und manchmal ein abstürzendes Flugzeug, ein sinkendes Schiff oder eine Naturkatastrophe. (Kombinationen sind möglich.)
GRAVITY serviert nichts weniger als die vielzitierten unendlichen Weiten, die Ryan Stone das Lebenslicht auspusten wollen. Die Mischung aus Vakuum und Schwerelosigkeit entpuppt sich als perfider Gegenspieler. Ein falscher Griff - oder ein falsches Loslassen - und unsere geliebte Hauptfigur ist erledigt. Ihr Handlungsspielraum ist trotz des ausufernden Schauplatzes arg begrenzt. Ein paar Raumstationen, ein paar Raumkapseln und ein paar Steuerdüsen - mehr hat sie nicht, um im grenzenlosen Nichts zu agieren.
Tatsächlich führt das im Film zu einer Unzahl an Wiederholungen - immer wieder wird etwa mit Mühe nach dem letzten rettenden Rohr/Kabel/Gebimmsel gegriffen, bevor Ryan in die tödliche Unendlichkeit abgleitet.

3. Die unumgängliche Konfrontation

Eine beliebte Nerdfrage lautet: Sind Vampire oder Zombies gruseliger? Und häufig heisst es: Zombies! Der Grund ist meist derselbe: Mit einem Vampir kann man zumindest scheinbar reden, argumentieren, sinnvoll Kontakt aufnehmen. Das lässt einigen Spielraum, was den eigenen Todeskampf angeht. Beim Zombie gibt es am Ende nur die Wahl zwischen Kopfschuss und gefressen werden.
Tatsächlich sind die spannendsten Filmgegner die, mit welchen sich nicht verhandeln lässt. Und das aus einem simplen Grund. Es reduziert die Konfrontation auf das Wesentliche: töten oder getötet werden. Einige der besten Thriller basieren auf dieser Unausweichlichkeit des Konflikts.

Auch hier nutzt GRAVITY einen smarten Kniff: Die Konfrontation ist nicht nur unausweichlich, der Gegner kann nicht mal getötet werden.
Vakuum, Endlosigkeit, der sichere Tod! All das umgibt die Heldin zu jeder Sekunde des Films. Nur ihr Raumanzug, nur die ein oder andere Raumbasis schützen sie mit hauchdünnen Wänden vor dem Ende. Und das Drehbuch leistet ganze Arbeit, ihr jede vermeintlich sichere Insel Stück für Stück wegzunehmen. Ryan Stone KANN sich dem Konflikt nicht entziehen. Nirgendwo hin. Und: Sie kann den "Gegner" nicht töten. Sie kann nur eines tun: Versuchen, zur Erde zurückzukehren. Das Weltall lässt weder mit sich verhandeln, noch sich töten, und es lässt der Heldin immer weniger Rückzugsraum übrig.


© Courtesy of Warner Bros. Pictures
Insgesamt schafft der Film so die perfekten Bedingungen für einen Thriller: Eine sympathische, nachvollziehbare Heldin, die gegen einen übermächtigen Gegner kämpft und dem Konflikt auch nicht ausweichen kann. Das Erfolgsrezept für gute und spannende Thriller. Noch dazu einige der berühmtesten.
Ridley Scotts ALIEN beispielsweise sperrt eine simple "Weltraumtruckerin" mit einem supertödlichen Außerirdischen (Der ebenfalls nicht der verhandelnde Typ ist) in ein beengtes Raumschiff und nötigt sie zur Konfrontation. (Ein Rezept, welches in zwei Fortsetzungen erfolgreich recycelt und erst im vierten Teil unsauber umgesetzt wurde.)
Auch DER TERMINATOR setzt auf die Kombi Alltagsheld / unbesiegbarer Gegner / unausweichlicher Konflikt.
Und sogar im Klassiker STIRB LANGSAM findet sich diese Konstellation, wenn auch nicht mit ganz so starkem Gefälle, dafür ist der Held zu mächtig - man weiß irgendwie nie, ob nicht vielleicht die Terroristen am Ende mit John McClane eingesperrt sind.

Egal wie, all diese Beispiele (Und Hunderte mehr) verfolgen Hitchcocks Prämisse des unvermeidlichen Konflikts (Daher die Telefonzelle), und erweitern sie um den überforderten Helden, der sich dem übermächtigen Gegner entgegensetzen muss.
Kreativ hervorzuheben wäre hier beispielswise der Film MEMENTO, in welchem der Akteur vor allem gegen die eigene Unfähigkeit zur Erinnerung ankämpfen muss.


Alte Tricks, neu vorgeführt


Dabei ist die Konstellation in GRAVITY nicht einmal neu. Schon der Klassiker APOLLO 13 - und noch früher der TV-Movie STARFLIGHT ONE - IRRFLUG INS ALL - nutzten die Situation, einige Alltagshelden im Weltall stranden zu lassen, um ihren Kampf zurück auf die Erde zu schildern. Und beide Filme sind dabei ungemein spannend.
GRAVITY führt die Konstellation lediglich ins Extrem: Er erzählt von einer Einzelheldin, die keinerlei Hilfe mehr erhält, keinen Ansprechpartner hat, die keinen Rückzugsraum findet und der die Möglichkeiten nahezu in Echtzeit ausgehen.
Das dramaturgische Grundgerüst in GRAVITY schafft also bereits einen äußerst spannenden Film. Auch wenn er sich dafür einige Freiheiten herausnimmt. Hier und dort nimmt er es weder mit der Realität noch der Physik allzu genau, tut das jedoch, um die obige Konstellation möglichst spannend ausführen zu können.


© Courtesy of Warner Bros. Pictures
Der Clou in GRAVITY, der sicherlich mit dafür verantwortlich ist, dass der Film als so spannend wahrgenommen wird, ist tatsächlich die Schwerelosigkeit und deren neuartige virtuelle Umsetzung.
"Thriller im Weltraum" gibt es viele. Auch ALIEN schränkt Ripleys Bewegungsspielraum mit dem Weltraum konsequent ein (und nutzt ihn später sogar als Waffe). Aber der Einsatz von Schwerelosigkeit, dazu die wie losgelöst agierende Kamera und der dünne Sound im "Vakuum" sind rar und neu und in der visuellen Brillanz von GRAVITY bisher einmalig.
Insgesamt ermöglichen die schwerelosen Bilder und der dumpfe Sound dem Zuschauer, sich noch stärker mit der Hauptfigur zu identifizieren. Lassen das Weltall noch tödlicher und mächtiger erscheinen und ihren Kampf gegen die Schwerelosigkeit noch dramatischer.

Kurz: Technisch und dramaturgisch bietet GRAVITY alles, was ein Thriller bieten muss, um spannend zu sein - was ausschlaggebend für seinen Erfolg ist.


Das Weltall ist weit, nicht tief


Biancas Blick:

GRAVITY ist ein recht spannender Weltraumthriller, der visuelle Maßstäbe setzt und über einen längeren Zeitraum zu fesseln weiß. Leider wiederholen sich die Spannungsmomente häufig, so dass er für mich nicht durchgängig gezogen hat.

Schwerelosigkeit allerdings wurde noch nie so real dargestellt. Oft musste ich mich in meinem Kinosessel festkrallen oder die Augen schließen und wieder öffnen, weil ich sicher gehen wollte, dass das visuell Erlebte tatsächlich nur in einem Film geschieht.

Auch hier, wie bei vielen Filmen 2013, gab es im Vorfeld Unmengen an überragenden Kritiken und Lobhudeleien.
Dem kann der Film nicht standhalten.
Visuelle Faszination macht für mich keinen grandiosen Film aus.
Natürlich ist es schwer, in einem solchen Hintergrund - dem Weltraum - mit nur zwei (bzw. einem) Protagonisten eine fundamentierte Geschichte aufzubauen. 
Die Story ist dünn wie ein Blatt Papier. 
Sandra Bullock agiert in ihrem winzigen Spielareal (innerhalb ihres Helms) famos und kann gegen die Special Effects gekonnt anspielen, wird von ihnen nicht an die Wand gedrückt. Nur reicht mir das nicht. Ein Film, der so mit Lob überschüttet wird, sollte für mich mehr bieten als visuelle Grandiosität, sonst bleibt es für mich "nur" ein guter Film, dem die Mehrdimensionalität fehlt.

(Achtung, Spoilerwarnung! Der folgende Absatz enthält Überlegungen zum Ausgang des Films. Wer sich die Frage nach "Schafft sie's oder schafft sie's nicht" erhalten will, liest diesen Teil des Artikels besser nicht.)

© Courtesy of Warner Bros. Pictures
Wenn ich die Auflösung des Endes metaphysisch deute, gewinnt der Film an Format:
Was wäre, wenn Bullocks Figur in dem von ihr gewählten Moment im Cockpit der fremden Raumkapsel tatsächlich gestorben ist und all das Folgende nur eine filmische Umsetzung ihrer Befreiung ist? Die Befreiung von der Trauer um ihre verstorbene Tochter.
Wenn der erneut (nur in ihrem Geiste) auftauchende Kowalski sie in den Tod hinüberführt, ihr die nötige Kraft zum Loslassen vom Irdischen gibt und als selbst gewählter Fürsprecher zur Selbstaufgabe wirkt? 
Wenn die Reise auf die Erde, ihre Füße in der Meeresbrandung, nur die Reise und die Ankunft in der Welt ihrer Tochter symbolisieren? 
Wenn der Weltraumeinsatz für Ryan letztendlich die Reise ins tiefste Innere bedeutet, welches sie verliert, welches durcheinandergerät und nur im Tod Erlösung erhält?
Zu weit hergeholt?
Vielleicht, aber dann wäre der Film für mich vielschichtiger und griffiger, weniger plakativ, bietet mehr Fundament und Dimensionalität.
Nein, ich glaube nicht, dass der Film so zu deuten ist. 
Und ja, ich jammere hier auf sehr hohem Niveau.

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