Zwei Männer stehen in einem Raum, der eine das Drama, der
andere die Farce. Sie halten eine Spinne, die zu Boden fällt. Die Szene
wiederholt sich. Was tut der Mann?
Wer auf Fragen wie diese eine Antwort findet, und wem DONNIE
DARKOs Kinoversion zu offensichtlich war, findet in ENEMY einen niemals
versiegenden Schatz.
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- Spoilerwarnung -
Wir haben uns bemüht, ENEMY ohne große Spoiler zu besprechen. Da zumindest Andeutungen aber nicht vermieden werden können, weisen wir gerne darauf hin: Dieser Beitrag kann Hinweise zur Handlung enthalten. Wer den Film völlig unvoreingenommen genießen will, kommt nach dem Filmbesuch zu uns zurück.
Marcos Blick:
ENEMY ist möglicherweise einer der besten und gleichzeitig absonderlichsten Filme der letzten Jahre. Wenigstens seit MULLHOLLAND DRIVE oder dem Independent-Klassiker DONNIE DARKO, in dem Jake Gyllenhaal schon 2001 die Kinogänger herausfordert. Und wie ENEMY die Rollen für Gyllenhaal verdoppelt, scheint er auch die Anforderungen an die Zuschauer zu multiplizieren.
Um das klar zu sagen: ENEMY ist kein Film für jeden. Wer im Kino nur unterhalten werden will, ist hier gänzlich fehl am Platze. Wer Filmen etwas abgewinnen kann, die ihre Wirkung erst nach dem Abspann entfalten, die den Zuschauern einen Samen einpflanzen, die einen dazu nötigen, das Gesehene zu verarbeiten, wird reicher belohnt als in vielen anderen Filmen.
AB + AC = Chaos x Ordnung
Das englischsprachige Filmdebüt des Kanadiers Denis Villeneuve erzählt von dem Geschichtslehrer Adam Bell, der durch Zufall von dem Schauspieler Anthony Claire erfährt, der ihm bis in die letzte Pore gleicht. Er nimmt Kontakt auf ...
Was folgt, ist ein Fest der Symbolsuche, der Metaphysik und der Philosophie.
Der Film beginnt mit einer Anleitung. Mit einer Herausforderung geradezu: „Chaos ist Ordnung – jedoch unentschlüsselt“, lautet die Texttafel, die den Film eröffnet. Das Zitat stammt aus dem zugrunde liegenden Roman „Der Doppelgänger“, den der mittlerweile verstorbene portugiesische Autor José Saramago 2002 veröffentlicht und ist eine augenzwinkernde Anweisung, wie der Film zu sehen ist. Was der Zuschauer zu leisten hat.
Anleitungen für ein Unterhaltungswerk sind selten, und daher umso bemerkenswerter. Und tatsächlich serviert Villeneuve in den folgenden 90 Minuten ein reichhaltiges, mehrgängiges Menü voller Chaos und Symbole. Das ist mutig. Das macht Spaß, wenn man derartige Puzzles mag. Allerdings, und das nehmen ihm viele Kinogänger übel, weigert er sich konsequent, sich in irgendeiner Art an der Zusammensetzung des Puzzles zu beteiligen. Zwar lässt Villeneuve sich in einem Interview dazu hinreißen zu erklären: „Wenn ihr einen zweiten Blick auf ENEMY werft, werdet ihr sehen, dass alles eine Antwort und einen Sinn hat.“ Doch der gesamte Cast muss eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, der Presse nichts über die Bedeutung oder den Sinn gerade der rätselhaftesten Symbole zu verraten.
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Dementsprechend quillt das Internet über vor Theorien, Interpretationen, Ansichten, Bedeutungsansätzen. Manche davon runder, andere eher holperig. Und genau hier liegt die Stärke des Films. Und das ist eine enorme, eine überbordende Stärke.
Denn was der Film nicht tut, ist kaltlassen. Er teilt das Publikum mit scharfer, wohl platzierter Klinge. Zuschauer, die erwarten, nach dem Abspann eine fertige, maximal etwas ambivalente Meinung und Deutung im Kopf zu haben, werden enttäuscht sein, womöglich wütend. Wer es erträgt, vielleicht sogar genießt, dass der Film lediglich eine lose Ansammlung von Puzzleteilen serviert, wird ihn lieben. Einen Mittelweg, einen Kompromiss, lässt der Film nicht zu.
Erstlingswerk als Nachfolger
Villeneuve dreht den Film noch vor seinem Hollywooddebüt PRISONERS. Er dreht ENEMY im kanadischen Toronto, beweist aber in beiden Filmen seinen Stil und sein Talent für Stimmung, Figuren und Schauspielführung. Wie in PRISONERS (dem definitiv erheblich zugänglicheren Film) inszeniert Villeneuve eine farblich monochrom-erdige, Sepia-gefilterte und düstere Welt. Sein Toronto ist trist, stimmungsvoll, rätselhaft, auch und vor allem weil die Stadt nahezu menschenleer wirkt. Neben den vier Haupt- und zweieinhalb Nebenfiguren kriegt man so gut wie niemanden zu sehen.
Der Cast überzeugt dabei soweit, dass man sich in ihre Welt gesogen fühlt, allen voran Jake Gyllenhaal, dem man zu jeder Zeit abnimmt, zwei Figuren zu sein. Soweit, dass man im Anschluss versucht ist, von vier Hauptdarstellern zu sprechen.
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Villeneuve ist von Gyllenhaal so begeistert, dass er ihm
augenblicklich die Rolle des Ermittlers Loki in PRISONERS anbietet und es dort erneut schafft, dem Darsteller eine der besten Leistungen seiner Karriere
abzuringen.
Erstaunlich ist, dass tatsächlich kaum ein Rezensent die geistige Verwandtschaft von ENEMY zu DONNIE DARKO anspricht (Vergleiche zu David Lynch fallen öfter). Die Geschichte eines Teenagers, der zwischen Tod und Zeitreise Halloween feiert, führt 2001 zu einer Spaltung des Publikums, in jene, die dem Film keinen Sinn abringen können und ihn dafür verfluchen und jene, die ihren Spaß daran haben, ihm einen Sinn zu geben. Im damals noch verhältnismäßig jungen Internet entbrennt ein reger Austausch an Deutungen, Interpretationen und Ideen, was der Film vermitteln möchte.
Der 2005 auf DVD veröffentlichte Director’s Cut nimmt dem Film viel von seiner Undeutbarkeit, macht ihn klarer, lenkt ihn in eine sichere Interpretation. Damit findet er viele Fans, denen die nun viel stringentere Aussage mehr zusagt, viele Freunde der ehemaligen Unklarheit fühlen sich allerdings verprellt und bevorzugen bis heute die Kinofassung.
Der Club der toten Interpreten
Erstaunlich ist, dass tatsächlich kaum ein Rezensent die geistige Verwandtschaft von ENEMY zu DONNIE DARKO anspricht (Vergleiche zu David Lynch fallen öfter). Die Geschichte eines Teenagers, der zwischen Tod und Zeitreise Halloween feiert, führt 2001 zu einer Spaltung des Publikums, in jene, die dem Film keinen Sinn abringen können und ihn dafür verfluchen und jene, die ihren Spaß daran haben, ihm einen Sinn zu geben. Im damals noch verhältnismäßig jungen Internet entbrennt ein reger Austausch an Deutungen, Interpretationen und Ideen, was der Film vermitteln möchte.
Der 2005 auf DVD veröffentlichte Director’s Cut nimmt dem Film viel von seiner Undeutbarkeit, macht ihn klarer, lenkt ihn in eine sichere Interpretation. Damit findet er viele Fans, denen die nun viel stringentere Aussage mehr zusagt, viele Freunde der ehemaligen Unklarheit fühlen sich allerdings verprellt und bevorzugen bis heute die Kinofassung.
Ob ENEMY eine ähnliche Anhängerschaft finden wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist aber: Er ist ein Filmfest für Interpretationsfreunde, für offene Menschen, die Rätsel mögen, die Puzzles mögen. Alle anderen könnten enttäuscht werden. Sie erfreuen sich vielleicht an einem atmosphärisch dichten Thriller, der trotz weniger Worte fesseln kann.
Und wen es interessiert: Ich habe den Film nicht verstanden! Aber ich habe ein paar tolle Ideen und genieße die Lektüre anderer toller Ideen im Netz. Aber ich steh auch auf Puzzles!
Biancas Blick
Wir haben lange überlegt, wie wir diesen Film besprechen und uns dazu entschlossen, so viel wie nötig und so wenig wie möglich inhaltlich zu betrachten, um die Überraschungen des Films offenzuhalten und jedem, der sich nach dem Schauen des Films selbst Gedanken machen möchte, das unbeeinflusst zu ermöglichen.
Deutungen haben wir uns also weitestgehend verkniffen, das Netz quillt derer über und wir schließen uns der einen oder anderen Deutung an, bzw. kombinieren sie miteinander.
Und es gibt fast nichts, was man in diesen Film nicht hineindeuten kann.
Selbst zunächst spinnert wirkende Deutungen finden – nach längerem Nachdenken – ihr Fundament im Film.
Und das macht den Film so besonders, genau das ist es, was die Zuschauer jubeln oder wütend davonstapfen lässt.
Wer PRISONERS schon als schwere Kost bezeichnet, wird in ENEMY einen Versuch sehen, einen Hähnchenschenkel mit einem Haps zu vertilgen.
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Doppelt hält besser
Als erstes sind die Doppelungen und Dualitäten zu erwähnen, die den Film durchziehen. Fast alles im Film taucht zwei Mal auf. Da wären zwei der bedeutendsten Symbole, die zusammen am Beginn auftauchen und gemeinsam in selbiger Reihenfolge den Film beschließen.
Zwei gleich aussehende Männer, zwei sehr ähnlich anmutende Frauen (Helen und Mary), Adams zwei Sexszenen mit Mary, zwei Streitszenen zwischen Anthony und Mary, später dann zwischen ihm und Helen. Zwei trist wirkende Wohnungen der Hauptfiguren, zwei nebeneinanderstehende Wohntürme, die zwei Mal filmisch eingefangen werden. Zweimal „bricht“ Adam ins Leben des Anthony ein – unbeholfen und unsicher, zwei „Verkleidungsszenen“ und so weiter.
Erwähnenswert sind zwei beinahe identische Vorlesungssequenzen zu Beginn des Films, die zu diesem frühen Zeitpunkt schon auf die Umsetzung und einen der philosophischen Stränge des Films hindeuten. Der von Adam in diesen Sequenzen gesprochene Text lautet sinngemäß: „Alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen ereignen sich zweimal (Hegel), doch tun sie das einmal als Tragödie und einmal als Farce (Zusatz von Marx).“
Wie nach dem Lesen oder Anschauen einer Farce wird der Zuschauer am Ende fragend zurückgelassen.
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Angst als Faszination
Villeneuve bringt mit ENEMY nicht nur einen Film mit deutungsfreudigem Inhalt in die Kinos, sondern auch mit einzigartigen Bildkompositionen und Stimmungen.
Die Bilder sind ähnlich farblos gehalten wie in seinem folgenden Thriller PRISONERS, dem auch alle Farbe entzogen zu sein scheint, was die Tristheit und Leere der Figuren perfekt untermalt.
Die Großstadt Toronto wird zudem fast menschenleer und scheinbar unbewohnt gezeigt, nur die nötigsten Figuren wie Türöffner, Verkäufer, Studenten oder Angestellte sind kurz zu sehen. So konzentriert sich der Film auch in Beleuchtung, Fotografie und Ausstattung auf die Atmosphäre und die Verwirrtheit, das Suchen, die Verzweiflung und die Skurrilität der Situationen und der viereinhalb Hauptfiguren (Anthony, Adam, Helen, Mary und Adams Mutter, die nur ein Mal kurz in einem Dialog zu sehen ist und von Isabella Rosselini dargestellt wird).
In beiden Werken - ENEMY und PRISONERS - geht es um Menschen und Ängste, hervorgerufen durch unvorhergesehene Geschehnisse, um eine undeutliche Bedrohung, die in den friedvollen Alltag hereinbricht.
Zwei auf gleichem Weg
Jake Gylllenhaal gelingt mit nur geringer Mimik und Gestik eine klare Trennung der Figuren. So erscheint der Professor mit hängenden Schultern und unsicherem, etwas humpelndem Gang, der Schauspieler hingegen selbstbewusst mit herausgestreckter Brust. Selbst als die Kleidung nicht mehr als Anhaltspunkt dienen kann, sind die Charaktere klar zu erkennen. (Ein deutliches optisches Merkmal bleibt aber bis zum Schluss.)
Gyllenhaal ist allerdings nicht Villeneuves erste Wahl. Das ist Javier Bardem, der sich der Rolle aber nicht gewachsen fühlt. Christian Bale will sie unbedingt spielen, ist aber vertraglich anderweitig verpflichtet.
Mit der Besetzung Gyllenhaals gelingt Villeneuve dennoch ein absoluter Glücksgriff, der ihn selbst so begeistert, dass er Gyllenhaal gleich für seinen nächsten Film PRISONERS besetzt.
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Ist ENEMY noch ein Film, der neben den Kritikern wohl nur in einer kleinen
Filmgemeinde als Meisterwerk angesehen wird, ist ihm mit PRISONERS ein Film
gelungen, der sowohl bei Kritik, aber auch beim Publikum große Erfolge feiert.
Schaut man sich die Einspielergebnisse von ENEMY in den USA genauer an, bemerkt man, dass die Zuschauerzahlen nach zwei bis drei Wochen deutlich anziehen. Der Film wird durch die Berichterstattung und Mundpropaganda zu einem kleinen finanziellen Achtungserfolg.
Das kann für den europäischen Markt aktuell nur gehofft werden.
Denn einen Film, über den man sich den Kopf zerbricht und der nicht eindeutig zu deuten ist, das auch nicht will, der dabei dennoch filmisch und dramaturgisch hochgradig befriedigt, hat es in dieser Konsequenz seit der großen David Lynch Ära nicht mehr gegeben.
Schaut man sich die Einspielergebnisse von ENEMY in den USA genauer an, bemerkt man, dass die Zuschauerzahlen nach zwei bis drei Wochen deutlich anziehen. Der Film wird durch die Berichterstattung und Mundpropaganda zu einem kleinen finanziellen Achtungserfolg.
Das kann für den europäischen Markt aktuell nur gehofft werden.
Denn einen Film, über den man sich den Kopf zerbricht und der nicht eindeutig zu deuten ist, das auch nicht will, der dabei dennoch filmisch und dramaturgisch hochgradig befriedigt, hat es in dieser Konsequenz seit der großen David Lynch Ära nicht mehr gegeben.
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