"Stereo, das": Stereo bezeichnet den Gegensatz zu Mono und
bedeutet den Einsatz von mehreren Schallquellen zur Erzeugung räumlichen Klangs.
- Spoilerwarnung -
Der Film STEREO lebt von dem ein oder anderen Kniff. Wir bemühen uns, Spoilerfrei zu bleiben, dennoch sind einige Hinweise zur Handlung enthalten.
Biancas Blick:
Was kann man von einem Film erwarten, der verglichen wird
mit David Finchers legendärem FIGHT CLUB? Der im Vorfeld beschrieben wird als der
deutsche Genrefilm überhaupt?
So etwas kann mächtig in die Hose gehen, da Vergleiche wie
diese die Erwartungen immens in die Höhe katapultieren. Es kann aber auch ein
sensationelles Kinoerlebnis werden – wenn der Film es schafft, sich von den gemeinsamen
Grundthemen zu emanzipieren.
STEREO gelingt Letzeres und er schafft einen Meilenstein im deutschen
Genrekino.
Bisher hat sich das deutsche Kino nicht unbedingt mit Ruhm
bekleckert, wenn es um die Inszenierung actiongeladener Thriller ging. Wobei
gesagt werden soll, dass es zwar „Action“ in diesem Film gibt, diese aber nicht
im Mittelpunkt steht, wie man es gemeinhin von einem Actionfilm erwartet. Sie
dient lediglich als Stilmittel, das gezielt und pointiert eingesetzt wird.
Der deutscher Film der letzten Jahre ist gekennzeichnet von einschlägigen
Komödien oder von Themen um „Das
geteilte Deutschland“ oder „Der Zweite Weltkrieg“ in vielfachen Varianten. Eine
stringente und oft gelungene Filmkultur. Aber einen wahren Genrefilm sucht man weitestgehend
vergeblich. OH BOY wäre hier als gelungenes Slackermovie noch zu nennen, der
sich an Klassikern wie CLERKS orientiert, aber seine eigene Geschichte erzählt.
Fern des Einheitsbreis bedient sich der deutsche Genrefilm
an Erzählformen des Thrillers, des Dramas oder der Komödie, grenzüberschreitend
und stilbrechend. Er wagt sich an bereits vorhandene Filmideen heran und
stattet sie mit aktuellen Bezügen aus, findet seine eigene Form und strickt die
Geschichten in eine eigene, kreative und neue Richtung. Er nutzt die
Möglichkeiten des Kinos, indem er Leinwand und Tonkapazität voll ausnutzt und hinterlässt
die Erkennntnis, dass man den Film im Kino gesehen haben sollte, da die dichte
Atmosphäre auf DVD nur unzureichend wiedergegeben werden kann.
© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold) |
2013 gibt es bereits in QUELLEN DES LEBENS einen kurzen
gemeinsamen Auftritt der beiden Stars (Vogel spielt Bleibtreus Vater), aber erst
STEREO bringt das erste gemeinsame psychische „Kräftemessen“ der beiden - im wahrsten Sinne des Wortes.
Erlenwein arbeitet 2009 erstmals mit Jürgen Vogel in SCHWERKRAFT
zusammen, ebenso mit Fabian Hinrichs, der in STEREO einen Gastauftritt als
Krankenhausarzt hat.
STEREO ist nach SCHWERKRAFT Erlenweins zweiter Langfilm, und
bereits sein Erstling erntet gute Kritiken und wird mehrfach ausgezeichnet,
etwa mit dem Max Ophüls Preis für den besten Langfilm 2010. Schon dort
beleuchtet Erlenwein die Psyche seiner Figuren intensiv und gibt ihnen die
Möglichkeit, nach einschneidenden Erlebnissen aus ihren Leben auszubrechen und
neue Wege zu gehen.
STEREO bekleidet ein anderes Genre, strickt diese Grundidee
aber konsequent weiter.
Aufgabe: Schreiben
Sie eine spoilerfreie Synopsis!
STEREO erzählt von Erik, der ein beschauliches Leben auf dem
Land führt. Er lebt mit seiner Freundin Julia und deren kleiner Tochter
zusammen und führt eine Motorradwerkstatt. Diese Idylle wird jäh unterbrochen,
als der mysteriöse Henry auftaucht und Eriks Leben aus den Fugen gerät. Wer ist
Henry und was will er? Schritt für Schritt nähert sich Erik der Wahrheit und
muss sich entscheiden, ob er zu Henry oder zu sich selbst stehen will.
Es ist schwer, die Handlung des Films zu erzählen, ohne
zumindest den ersten von einigen Kniffen vorweg zu nehmen.
Dieser erste Kniff wird zwar schnell aufgelöst und spielt
eher eine zündende als eine auflösende Rolle in der Geschichte, hier und da
muss er, so wie einige andere Ideen des Films, dennoch angesprochen werden, will
man etwas darüber sagen.
Deshalb an dieser Stelle eine letzte Warnung – Wer sich
wirklich alle Kniffe des Films bewahren möchte, springt an dieser Stelle zu
Marcos Blick hinunter oder bricht ab, bis er das Werk selbst gesehen hat.
Ein „neuer“ Fight
Club?
© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold) |
Ein „neuer“ Fight
Club?
Es ist falsch, zu denken, dass sich der Film des Themas
„Prügeln zur Selbstbefreiung“ annimmt, wie einige Kritiken in ihren Headlines ausrufen.
Richtig ist, dass es sich um eine ungewöhnliche Männerfreundschaft
handelt, in der einer dem anderen vorgibt, was er zu tun hat, so wie Tyler
Durden dem namenlosen Erzähler in FIGHT CLUB Aufträge erteilt und ihm sagt, wo‘s
langgeht.
Richtig ist auch, dass Henry eine Art abgespaltenes „Ich“
von Erik ist, dass also nur Erik ihn sehen und hören kann. Doch im Gegensatz
zum agressiven Alter Ego eines Tyler Durden in FIGHT CLUB, der die
Konfrontation sucht und sich gegen die
konforme Gesellschaft wendet, ist Henry besonnen und zum Rückzug auffordernd,
wenn auch mit deutlich anderem Sprachduktus und wenig sympathisch wirkend. Er hat,
im Gegensatz zu Erik, einen Überblick über die Situation und die Gefahr, in die
Erik hineinrutscht und versucht ihn zu beschützen.
Dass Henry ein Alter Ego Eriks ist, wird dabei nicht erst am
Ende des Films offenkundig gemacht, sondern bereits beim ersten skurrilen
Auftritt Henrys im Schneidersitz auf einem Camper. Es geht nicht wie in FIGHT
CLUB um den Endkniff, sondern die Erkenntnis, dass Henry fiktiv ist, dient als
Plotpoint, der die Suche nach dem Wie und Warum auslöst. Es geht um die
Aufarbeitung der Geschichte, die seinem Erscheinen Zugrunde liegt. Erik nimmt
den Zuschauer mit auf die Reise in sein Innerstes.
Wie auch der namenlose Erzähler in FIGHT CLUB wohnt Erik in
„spießigen“ Verhältnissen in einem Haus auf dem Land – abgeschieden und
idyllisch mit Fröschen im Teich. Er lebt seinen Alltag, Tag für Tag und genau
in diesem Moment taucht Henry auf. Doch im Gegensatz zu FIGHT CLUB wird das
„angepasste“ Leben nicht als ein Gefängnis inszeniert, aus dem man ausbrechen
muss, um sich zu emanzipieren, sondern es symbolisiert Sicherheit, Frieden und
Ruhe. Es dient einem anderen Zweck, was dem vorangegangenem Leben Eriks
geschuldet ist.
Wie FIGHT CLUB lebt STEREO von zwei starken Hauptdarstellern.
Allerdings ist nur Jürgen Vogel in der Lage, sich beeindruckend zu entfalten,
während Moritz Bleibtreu nicht ganz so zu überzeugen weiß, was sicherlich auch
zum Teil am Drehbuch und seiner Rolle liegen mag.
Stimmungslagen
Vogel spielt die Klaviatur der Gefühlslagen rauf und runter,
vor und zurück, und bleibt dabei jederzeit absolut glaubwürdig. Für mich nach
DER FREIE WILLE seine beste schauspielerische Leistung.
Manchmal genügen ihm eine feine Mimik oder Gestik, um den
Zuschauer wissen zu lassen, welcher Charakter da gerade agiert. Die Übergänge
werden im Verlauf des Films fließender, und umso mehr braucht es einen
erfahrenen Schauspieler der die Zuschauer führt, damit diese nicht die
Orientierung verlieren.
Auffällig und gelungen sind in dem Film der Drehorte und
Schauplätze, die die vordergründigen Gefühlswelten ideal unterstreichen: Hier
Gefühle von Isolation und Verlorensein, dort Gefühle von Geborgenheit und Frieden.
So steht das Häuschen auf dem Land im undefinierten Nirgendwo,
es könnte überall in Deutschland stehen. In diesen Bildern ist es immer sonnig,
immer warm, immer freundlich. Nur wenn Henry erscheint, zieht sich der Himmel zu
und die Idylle wirkt in ihrer Isolation bedrohlich.
Demgegenüber steht die graue Großstadt, zugepflastert mit
Hochhäusern, bedrohlich, regnerisch, dunkel. Hier versucht Erik, sich von einer
Art Medium helfen zu lassen. Diese Bilder entstanden in Halle und
konterkarieren perfekt die ländliche Idylle, das andere Ich. Die Wohnung des
vermeintlichen Mediums ist klein, beengt und in seiner Ausstattung in den 70ern
steckengeblieben, wiederum ein perfekter Gegensatz zur Weite des Landes, der
Natur, wo Erik sich zu Hause wähnt.
© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold) |
Atmosphärisch dicht, im wahrsten Sinne atemberaubend und
bedrückend.
Wenn die Drehorte und Beleuchtung es schaffen, sowohl die
Geschichte als auch die Gefühlslagen und Situationen der Protagonisten in
dieser prägnanten Form zu unterstreichen, dann ist ein Glücksgriff gelungen,
der Filme adelt.
Der Soundtrack ist ebenfalls perfekt gewählt. Enis Rotthoff
wählt eine unheilsverkündende Musik, die im Verlauf des Films stetig anschwillt
und kurz vor dem Finale in harte, laute, schnelle Dubstep-Klängen kulminiert. Auch musikalisch werden der Verlauf
der Geschichte und Eriks Psyche widergespiegelt.
Alles im Film unterstreicht und unterstützt die Handlung,
der wir auf der Leinwand folgen. Szenisch zeigt er Parallelen zu Filmen wie HISTORY
OF VIOLENCE, FIGHT CLUB oder auch THE DESCENT. Gelungen! Präzise! Markant!
Die Finanzierung auf die Beine zu stellen war bei diesem
Projekt, das radikale und ungewöhnliche Wege geht, äußerst schwer. Es gab viele
Förderausfälle und das Projekt stand lang auf der Kippe.
„Sicher sind wir angetreten, um einen radikalen Film zu
machen und ihn auch von Anfang bis Ende konsequent durchzuziehen und nicht auf
halber Strecke abzuknicken. Die Schauspieler haben es natürlich besser gemacht,
als ich es mir vorgestellt habe“, sagt Erlenwein im Interview.
Ich sage DANKE! für dieses Kinoerlebnis und hoffe, dass der
deutsche Film diesen Weg weiterbeschreitet. Über Grenzen und Hindernisse
hinweg!
Marcos Blick:
STEREO ist einer der Filme, der es schwer hat in deutschen
Kinos, und damit eine der großen Krisen des deutschen Films sichtbar macht. Er
orientiert sich gänzlich, in Optik, Geschichte, Spiel, Schnitt, Rhythmus und
Musik, an großen internationalen Vorbildern. Und er tut das so geschickt, dass
er diesen Vorbildern auf Augenhöhe begegnet.
Mit STEREO gelingt tatsächlich ein deutscher Film, der
internationales Kino ausatmet – eines jener seltenen Prestigeprodukte, von
denen so viele Nörgler des deutschen Films immer reden, dass wir mehr davon
bräuchten.
Allerdings – genau diese Tugend wird ihm zur Last. Denn der
deutsche Kinozuschauer tut sich schwer mit deutschen Filmen, die sich derart
offenkundig an den großen Produktionen orientiert. „Abklatsch“, „Billige Kopie“
und andere Wörter fallen schnell, wenn ein deutscher Film es wagt, kein
Weltkriegsdrama und keine Komödie zu inszenieren. Dass auch diese sich mehr und
mehr an Hollywood und anderen Großkalibern orientieren, scheint nicht
aufzufallen.
Im Falle von STEREO ist das bedauerlich, denn es ist ein
ganz und gar großartiger Film. Er ist makellos und hochwertig fotografiert, die
Handlung bewegt sich auf einem Niveau, das weltweit begeistern könnte und
Jürgen Vogel beweist erneut, dass er einer von Deutschlands größten Charakterdarstellern
ist.
Die Menge guter deutscher Thriller oder Actionfilme ist
überschaubar. Fatih Akins Debüt KURZ UND SCHMERZLOS etwa, oder Peter Thorwarths
BANG BOOM BANG. Wer mag, darf sogar das Schweiger-Vehikel KNOCKING ON HEAVENS
DOOR mit einbeziehen.
Was STEREO abhebt, ist sein unglaublich smartes Drehbuch.
Auch wenn Elemente und Stilmittel daraus aus diversen Klassikern zusammengeklaubt
sind, und man als aufmerksamer Beobachter immer eine Prise FIGHT CLUB hier, und
einen Hauch PULP FICTION dort erspäht, vermengt Erlenwein die Zutaten derart
geschickt und mit soviel Herz und Seele, dass ein vollkommen eigenständiges
Werk mit eigenem Charakter herauskommt. Und eben das unterscheidet die guten
von den schlechten deutschen Genrefilmen – die schlechten sind Remake, Hommage,
im schlimmsten Fall ein verbilligter Nachdreh. STEREO bleibt eigenständig,
findet seinen eigenen Ton, seine eigene Handlung, weit genug, dass auch Kenner
des Genres überrascht bleiben – bis zum Schluss.
Und er gibt seiner Geschichte Tiefe!
Er erzählt eine durchweg dualisierte Geschichte, einen Lebensentwurf
der ist, und einen, der sein könnte, und changiert so elegant zwischen den
Polen, dass man als Zuschauer nie genau weiß, welches Lebensmodell nun welches
ist.
Das gelingt ihm auch durch das bis ins Letzte hervorragend
besetzte Ensemble, das glaubwürdig spielt, einen anrührt, und nie die pappige
Lächerlichkeit erreicht, die Schauspieler in deutschen „Actionfilmen“ oft
einnehmen. Bleibtreus Figur bleibt dabei etwas dünn und stark aufs Visuelle
beschränkt, doch selbst das dient als Funktion im Film.
Und der Film lässt dem Zuschauer die Wahl, ihn zu deuten. So
halte ich es für keinen Zufall, dass die Geschichte in einem Club endet, dessen
Eintrittssymbol das Chinesische Zeichen für „Himmel“ ist. Der Film legt schon
vorher einige Elemente an den Tag, die fantastisch anmuten, ohne sich jemals
völlig in diese Richtung zu begeben. Immer bleiben diese Elemente gekonnt auf
der Grenze zwischen wissenschaftlich und übernatürlich, bleiben der Deutung des
Zuschauers überlassen. Doch wer will, kann in dem Film eine Erlösungsgeschichte
sehen, den Fall und Wiederaufstieg einer getriebenen Seele, der Erfüllung ihrer
Funktion – bis zum Happy End.
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