17.05.14

Stereo (D 2014)

"Stereo,  das": Stereo bezeichnet den Gegensatz zu Mono und bedeutet den Einsatz von mehreren Schallquellen zur Erzeugung räumlichen Klangs.
© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold)

- Spoilerwarnung - 
Der Film STEREO lebt von dem ein oder anderen Kniff. Wir bemühen uns, Spoilerfrei zu bleiben, dennoch sind einige Hinweise zur Handlung enthalten.

Biancas Blick:

Was kann man von einem Film erwarten, der verglichen wird mit David Finchers legendärem FIGHT CLUB? Der im Vorfeld beschrieben wird als der deutsche Genrefilm überhaupt?
So etwas kann mächtig in die Hose gehen, da Vergleiche wie diese die Erwartungen immens in die Höhe katapultieren. Es kann aber auch ein sensationelles Kinoerlebnis werden – wenn der Film es schafft, sich von den gemeinsamen Grundthemen zu emanzipieren.
STEREO gelingt Letzeres und er schafft einen Meilenstein im deutschen Genrekino.

Bisher hat sich das deutsche Kino nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, wenn es um die Inszenierung actiongeladener Thriller ging. Wobei gesagt werden soll, dass es zwar „Action“ in diesem Film gibt, diese aber nicht im Mittelpunkt steht, wie man es gemeinhin von einem Actionfilm erwartet. Sie dient lediglich als Stilmittel, das gezielt und pointiert eingesetzt wird.
Der deutscher Film der letzten Jahre ist gekennzeichnet von einschlägigen Komödien oder von Themen um  „Das geteilte Deutschland“ oder „Der Zweite Weltkrieg“ in vielfachen Varianten. Eine stringente und oft gelungene Filmkultur. Aber einen wahren Genrefilm sucht man weitestgehend vergeblich. OH BOY wäre hier als gelungenes Slackermovie noch zu nennen, der sich an Klassikern wie CLERKS orientiert, aber seine eigene Geschichte erzählt.
Fern des Einheitsbreis bedient sich der deutsche Genrefilm an Erzählformen des Thrillers, des Dramas oder der Komödie, grenzüberschreitend und stilbrechend. Er wagt sich an bereits vorhandene Filmideen heran und stattet sie mit aktuellen Bezügen aus, findet seine eigene Form und strickt die Geschichten in eine eigene, kreative und neue Richtung. Er nutzt die Möglichkeiten des Kinos, indem er Leinwand und Tonkapazität voll ausnutzt und hinterlässt die Erkennntnis, dass man den Film im Kino gesehen haben sollte, da die dichte Atmosphäre auf DVD nur unzureichend wiedergegeben werden kann.

© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold)
Maximilian Erlenwein gelingt es, mit Moritz Bleibtreu und Jürgen Vogel zwei der charismatischsten Schauspieler des deutschen Films erstmalig als Hauptdarseller in einem Film zu vereinen und der Filmwelt zu beweisen, dass der deutsche Film auch „Thriller“ kann. Und wie!
2013 gibt es bereits in QUELLEN DES LEBENS einen kurzen gemeinsamen Auftritt der beiden Stars (Vogel spielt Bleibtreus Vater), aber erst STEREO bringt das erste gemeinsame psychische „Kräftemessen“ der beiden  - im wahrsten Sinne des Wortes.
Erlenwein arbeitet 2009 erstmals mit Jürgen Vogel in SCHWERKRAFT zusammen, ebenso mit Fabian Hinrichs, der in STEREO einen Gastauftritt als Krankenhausarzt hat.
STEREO ist nach SCHWERKRAFT Erlenweins zweiter Langfilm, und bereits sein Erstling erntet gute Kritiken und wird mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Max Ophüls Preis für den besten Langfilm 2010. Schon dort beleuchtet Erlenwein die Psyche seiner Figuren intensiv und gibt ihnen die Möglichkeit, nach einschneidenden Erlebnissen aus ihren Leben auszubrechen und neue Wege zu gehen.
STEREO bekleidet ein anderes Genre, strickt diese Grundidee aber konsequent weiter.

Aufgabe: Schreiben Sie eine spoilerfreie Synopsis!


STEREO erzählt von Erik, der ein beschauliches Leben auf dem Land führt. Er lebt mit seiner Freundin Julia und deren kleiner Tochter zusammen und führt eine Motorradwerkstatt. Diese Idylle wird jäh unterbrochen, als der mysteriöse Henry auftaucht und Eriks Leben aus den Fugen gerät. Wer ist Henry und was will er? Schritt für Schritt nähert sich Erik der Wahrheit und muss sich entscheiden, ob er zu Henry oder zu sich selbst stehen will.

Es ist schwer, die Handlung des Films zu erzählen, ohne zumindest den ersten von einigen Kniffen vorweg zu nehmen.
Dieser erste Kniff wird zwar schnell aufgelöst und spielt eher eine zündende als eine auflösende Rolle in der Geschichte, hier und da muss er, so wie einige andere Ideen des Films, dennoch angesprochen werden, will man etwas darüber sagen.
Deshalb an dieser Stelle eine letzte Warnung – Wer sich wirklich alle Kniffe des Films bewahren möchte, springt an dieser Stelle zu Marcos Blick hinunter oder bricht ab, bis er das Werk selbst gesehen hat.

© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold)
  

Ein „neuer“ Fight Club?


Es ist falsch, zu denken, dass sich der Film des Themas „Prügeln zur Selbstbefreiung“ annimmt, wie einige Kritiken in ihren Headlines ausrufen.
Richtig ist, dass es sich um eine ungewöhnliche Männerfreundschaft handelt, in der einer dem anderen vorgibt, was er zu tun hat, so wie Tyler Durden dem namenlosen Erzähler in FIGHT CLUB Aufträge erteilt und ihm sagt, wo‘s langgeht.
Richtig ist auch, dass Henry eine Art abgespaltenes „Ich“ von Erik ist, dass also nur Erik ihn sehen und hören kann. Doch im Gegensatz zum agressiven Alter Ego eines Tyler Durden in FIGHT CLUB, der die Konfrontation sucht und  sich gegen die konforme Gesellschaft wendet, ist Henry besonnen und zum Rückzug auffordernd, wenn auch mit deutlich anderem Sprachduktus und wenig sympathisch wirkend. Er hat, im Gegensatz zu Erik, einen Überblick über die Situation und die Gefahr, in die Erik hineinrutscht und versucht ihn zu beschützen.
Dass Henry ein Alter Ego Eriks ist, wird dabei nicht erst am Ende des Films offenkundig gemacht, sondern bereits beim ersten skurrilen Auftritt Henrys im Schneidersitz auf einem Camper. Es geht nicht wie in FIGHT CLUB um den Endkniff, sondern die Erkenntnis, dass Henry fiktiv ist, dient als Plotpoint, der die Suche nach dem Wie und Warum auslöst. Es geht um die Aufarbeitung der Geschichte, die seinem Erscheinen Zugrunde liegt. Erik nimmt den Zuschauer mit auf die Reise in sein Innerstes.

Wie auch der namenlose Erzähler in FIGHT CLUB wohnt Erik in „spießigen“ Verhältnissen in einem Haus auf dem Land – abgeschieden und idyllisch mit Fröschen im Teich. Er lebt seinen Alltag, Tag für Tag und genau in diesem Moment taucht Henry auf. Doch im Gegensatz zu FIGHT CLUB wird das „angepasste“ Leben nicht als ein Gefängnis inszeniert, aus dem man ausbrechen muss, um sich zu emanzipieren, sondern es symbolisiert Sicherheit, Frieden und Ruhe. Es dient einem anderen Zweck, was dem vorangegangenem Leben Eriks geschuldet ist.
Wie FIGHT CLUB lebt STEREO von zwei starken Hauptdarstellern. Allerdings ist nur Jürgen Vogel in der Lage, sich beeindruckend zu entfalten, während Moritz Bleibtreu nicht ganz so zu überzeugen weiß, was sicherlich auch zum Teil am Drehbuch und seiner Rolle liegen mag.

Stimmungslagen


Vogel spielt die Klaviatur der Gefühlslagen rauf und runter, vor und zurück, und bleibt dabei jederzeit absolut glaubwürdig. Für mich nach DER FREIE WILLE seine beste schauspielerische Leistung.
Manchmal genügen ihm eine feine Mimik oder Gestik, um den Zuschauer wissen zu lassen, welcher Charakter da gerade agiert. Die Übergänge werden im Verlauf des Films fließender, und umso mehr braucht es einen erfahrenen Schauspieler der die Zuschauer führt, damit diese nicht die Orientierung verlieren.
Auffällig und gelungen sind in dem Film der Drehorte und Schauplätze, die die vordergründigen Gefühlswelten ideal unterstreichen: Hier Gefühle von Isolation und Verlorensein, dort Gefühle von Geborgenheit und Frieden.
So steht das Häuschen auf dem Land im undefinierten Nirgendwo, es könnte überall in Deutschland stehen. In diesen Bildern ist es immer sonnig, immer warm, immer freundlich. Nur wenn Henry erscheint, zieht sich der Himmel zu und die Idylle wirkt in ihrer Isolation bedrohlich.

© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold)
Demgegenüber steht die graue Großstadt, zugepflastert mit Hochhäusern, bedrohlich, regnerisch, dunkel. Hier versucht Erik, sich von einer Art Medium helfen zu lassen. Diese Bilder entstanden in Halle und konterkarieren perfekt die ländliche Idylle, das andere Ich. Die Wohnung des vermeintlichen Mediums ist klein, beengt und in seiner Ausstattung in den 70ern steckengeblieben, wiederum ein perfekter Gegensatz zur Weite des Landes, der Natur, wo Erik sich zu Hause wähnt.
Atmosphärisch dicht, im wahrsten Sinne atemberaubend und bedrückend.
Wenn die Drehorte und Beleuchtung es schaffen, sowohl die Geschichte als auch die Gefühlslagen und Situationen der Protagonisten in dieser prägnanten Form zu unterstreichen, dann ist ein Glücksgriff gelungen, der Filme adelt.
Der Soundtrack ist ebenfalls perfekt gewählt. Enis Rotthoff wählt eine unheilsverkündende Musik, die im Verlauf des Films stetig anschwillt und kurz vor dem Finale in harte, laute, schnelle Dubstep-Klängen  kulminiert. Auch musikalisch werden der Verlauf der Geschichte und Eriks Psyche widergespiegelt.
Alles im Film unterstreicht und unterstützt die Handlung, der wir auf der Leinwand folgen. Szenisch zeigt er Parallelen zu Filmen wie HISTORY OF VIOLENCE, FIGHT CLUB oder auch THE DESCENT. Gelungen! Präzise! Markant!

Die Finanzierung auf die Beine zu stellen war bei diesem Projekt, das radikale und ungewöhnliche Wege geht, äußerst schwer. Es gab viele Förderausfälle und das Projekt stand lang auf der Kippe.
„Sicher sind wir angetreten, um einen radikalen Film zu machen und ihn auch von Anfang bis Ende konsequent durchzuziehen und nicht auf halber Strecke abzuknicken. Die Schauspieler haben es natürlich besser gemacht, als ich es mir vorgestellt habe“, sagt Erlenwein im Interview.
Ich sage DANKE! für dieses Kinoerlebnis und hoffe, dass der deutsche Film diesen Weg weiterbeschreitet. Über Grenzen und Hindernisse hinweg!

Marcos Blick:

STEREO ist einer der Filme, der es schwer hat in deutschen Kinos, und damit eine der großen Krisen des deutschen Films sichtbar macht. Er orientiert sich gänzlich, in Optik, Geschichte, Spiel, Schnitt, Rhythmus und Musik, an großen internationalen Vorbildern. Und er tut das so geschickt, dass er diesen Vorbildern auf Augenhöhe begegnet.
Mit STEREO gelingt tatsächlich ein deutscher Film, der internationales Kino ausatmet – eines jener seltenen Prestigeprodukte, von denen so viele Nörgler des deutschen Films immer reden, dass wir mehr davon bräuchten.
Allerdings – genau diese Tugend wird ihm zur Last. Denn der deutsche Kinozuschauer tut sich schwer mit deutschen Filmen, die sich derart offenkundig an den großen Produktionen orientiert. „Abklatsch“, „Billige Kopie“ und andere Wörter fallen schnell, wenn ein deutscher Film es wagt, kein Weltkriegsdrama und keine Komödie zu inszenieren. Dass auch diese sich mehr und mehr an Hollywood und anderen Großkalibern orientieren, scheint nicht aufzufallen.

Im Falle von STEREO ist das bedauerlich, denn es ist ein ganz und gar großartiger Film. Er ist makellos und hochwertig fotografiert, die Handlung bewegt sich auf einem Niveau, das weltweit begeistern könnte und Jürgen Vogel beweist erneut, dass er einer von Deutschlands größten Charakterdarstellern ist.

© Wild Bunch Germany 2014 (Foto Stephan Rabold)

Die Menge guter deutscher Thriller oder Actionfilme ist überschaubar. Fatih Akins Debüt KURZ UND SCHMERZLOS etwa, oder Peter Thorwarths BANG BOOM BANG. Wer mag, darf sogar das Schweiger-Vehikel KNOCKING ON HEAVENS DOOR mit einbeziehen.
Was STEREO abhebt, ist sein unglaublich smartes Drehbuch. Auch wenn Elemente und Stilmittel daraus aus diversen Klassikern zusammengeklaubt sind, und man als aufmerksamer Beobachter immer eine Prise FIGHT CLUB hier, und einen Hauch PULP FICTION dort erspäht, vermengt Erlenwein die Zutaten derart geschickt und mit soviel Herz und Seele, dass ein vollkommen eigenständiges Werk mit eigenem Charakter herauskommt. Und eben das unterscheidet die guten von den schlechten deutschen Genrefilmen – die schlechten sind Remake, Hommage, im schlimmsten Fall ein verbilligter Nachdreh. STEREO bleibt eigenständig, findet seinen eigenen Ton, seine eigene Handlung, weit genug, dass auch Kenner des Genres überrascht bleiben – bis zum Schluss.

Und er gibt seiner Geschichte Tiefe!
Er erzählt eine durchweg dualisierte Geschichte, einen Lebensentwurf der ist, und einen, der sein könnte, und changiert so elegant zwischen den Polen, dass man als Zuschauer nie genau weiß, welches Lebensmodell nun welches ist.
Das gelingt ihm auch durch das bis ins Letzte hervorragend besetzte Ensemble, das glaubwürdig spielt, einen anrührt, und nie die pappige Lächerlichkeit erreicht, die Schauspieler in deutschen „Actionfilmen“ oft einnehmen. Bleibtreus Figur bleibt dabei etwas dünn und stark aufs Visuelle beschränkt, doch selbst das dient als Funktion im Film.

Und der Film lässt dem Zuschauer die Wahl, ihn zu deuten. So halte ich es für keinen Zufall, dass die Geschichte in einem Club endet, dessen Eintrittssymbol das Chinesische Zeichen für „Himmel“ ist. Der Film legt schon vorher einige Elemente an den Tag, die fantastisch anmuten, ohne sich jemals völlig in diese Richtung zu begeben. Immer bleiben diese Elemente gekonnt auf der Grenze zwischen wissenschaftlich und übernatürlich, bleiben der Deutung des Zuschauers überlassen. Doch wer will, kann in dem Film eine Erlösungsgeschichte sehen, den Fall und Wiederaufstieg einer getriebenen Seele, der Erfüllung ihrer Funktion – bis zum Happy End.

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