01.05.16

Das Dschungelbuch (USA 1967) - Disneys letztes Meisterwerk

1967 erscheint mit DAS DSCHUNGELBUCH einer der bemerkenswertesten Filme von Walt Disney. Nicht nur wird es der letzte Film, den Disney vor seinem Tode persönlich anleitet, sondern auch ein Film, der für ordentlich Zoff in der Oscar-Academy sorgt und auch hinter den Kulissen mächtig Zündstoff bietet – und von dem schließlich das Schicksal des ganzen Studios abhängt.
Vor allem wird DAS DSCHUNGELBUCH ein unsterblicher Klassiker, der ganzen Generationen deutscher Kinder klar macht: Wenn alles hoffnungslos erscheint, dann probier's mal mit Gemütlichkeit.
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Marcos Blick:

1893 und 1894 veröffentlicht der britische, in der indischen Kolonie geborene Autor und Journalist Rudyard Kipling eine Reihe von Kurzgeschichten in einem Magazin. Es sind Fabeln, die Kipling für seine Tochter verfasst, und mit deren Hilfe er ihr einige moralische Weisheiten auf den Weg geben will.
Die Fabeln erzählen, häufig düster und in der bedrohlichen Welt des Dschungels angesiedelt, vom „Menschenjunges“ Mowgli, der als Findelkind von Wölfen aufgezogen wird und sich dem Anspruch des alten Tigers Shere-Khan widersetzen muss. Ihm zur Seite stehen ein Bär namens Baloo und ein schwarzer Panther namens Bagheera.
1894 werden die ersten dieser Geschichten (drei davon mit Mowgli, vier weitere ohne ihn) unter dem Titel „The Jungle Book“ erstmals herausgegeben.
Ein weiterer Band, mit acht weiteren Kurzgeschichten, erscheint 1895 unter dem Titel „The Second Jungle Book“.

Im gleichen Jahr verfasst Kipling übrigens auch einen Brief, in dem er zugibt, große Teile der Geschichten von anderswo übernommen zu haben, gesteht also ein Plagiat, wenngleich er sich auch nicht erinnern mag, wo genau er seine Inspirationen her hat.

Der Weg in den Dschungel


Kipling hätte sich wohl niemals träumen lassen, dass aus seinen düsteren Fabeln über die Natur von Mensch und Tier einmal ein kunterbuntes Feel-Good Musical für Kinder werden würde, und einer der erfolgreichsten Filme der Welt.

Und tatsächlich ist der Weg dorthin auch lang. Denn Disney ist nicht der erste, der sich an eine Verfilmung der Geschichten traut. 
1942 wagen sich die Zoltan Brüder als erste Filmemacher an den Stoff. 
Die Hauptrolle in DAS DSCHUNGELBUCH der Zoltans spielt Sabu Dastagir, der kurz zuvor, 1940, im Meisterwerk DER DIEB VON BAGDAD zum Star avanciert und in den folgenden Jahren zum bekanntesten indischen Schauspieler der Welt heranwächst. DAS DSCHUNGELBUCH wird ein enormer Erfolg an den Kinokassen, für vier Oscars nominiert und verändert die Art, wie Soundtracks vermarktet werden: Zuvor arrangierte man die Soundtracks stets um und nahm sie neu auf, bevor sie auf Platte erschienen. DAS DSCHUNGELBUCH, der sich an insgesamt fünf der Geschichten über Mowgli bedient, ist 1942 der erste Film, der die Originalaufnahmen auf Platte presst und damit einen überragenden Erfolg einfährt, so dass diese Gangart zukünftig zum Standard wird.
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1967, kurz bevor Disneys Version erscheint, entsteht in der UDSSR ebenfalls eine Zeichentrickversion der Geschichte. Hier werden zwischen 1967 und 1971 fünf zwanzigminütige Kurzfilme produziert, die man 1973 zu einem Spielfilm zusammenschneidet. Bemerkenswert an dieser Version ist vor allem, dass Bagheera eine Pantherdame ist, vermutlich, da bereits die russische Übersetzung der Bücher diese Transformation enthält. 
Die Geschichten sind deutlich dichter an Kiplings Büchern angelehnt als Disneys parallel erscheinende Version, wodurch die Filme spürbar abenteuerlicher und heroischer wirken.

Ein bisschen leichter, ein bisschen netter 


Dass Disneys Studio eine so entdüsterte Feel-Good-Variante herausbringt, war allerdings nicht immer so geplant.

Nachdem die Produktion von DIE HEXE UND DER ZAUBERER im Jahre 1963 abgeschlossen ist, schlägt Bill Peet, Geschichtenschreiber in Disneys Animationsstudio, dem Chef vor, dass sie die populären Tierrollen ihrer letzten Filme ausweiten und in einem eigenen Film verarbeiten sollten. Er schlägt Kiplings Geschichtensammlung als Grundlage vor. Disney sagt zu. 
Allerdings muss Peet, der zuvor an 101 DALMATINER und DIE HEXE UND DER ZAUBERER noch ohne große Aufsicht vom Boss arbeiten durfte, enorme Einschnitte seiner kreativen Freiheit hinnehmen, denn gerade DIE HEXE UND DER ZAUBERER hat sich als veritabler Flop erwiesen. Nun will sich Disney wieder stärker persönlich in sein neues Werk einbringen. Weggenossen schildern später, er habe sich komplett im Dschungel verloren und habe nur noch für diesen Film gelebt.

Peet erstellt ein Treatment, das sich an den düsteren und dramatischen Ton der Vorlage hält und kreiert mit seinen Autoren und seinem Komponisten eine Grundgeschichte (und erste Songentwürfe), die zwei Originalfiguren einführt: Ein Menschenmädchen, um Mowgli einen Grund zu geben, den Dschungel zu verlassen, und King Louie, den Anführer der Affen, der Mowgli entführt und ihm das Geheimnis des Feuers entlocken will. 
Disney ist das alles jedoch zu düster. Er verlangt von Peet, dass dieser den Film familienfreundlicher und fröhlicher gestalten soll. Peet weigert sich. Es kommt zu einem bösen Streit, an dessen Ende Peet 1964 die Walt Disney Studios verlässt.
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Also übergibt Disney das Projekt Larry Clemmons. Der Legende nach drückt er ihm Kiplings Buch in die Hand und meint: „Das erste, was Sie damit tun sollen, ist, es nicht zu lesen.“ 
Disney ist von Anfang an aktiv bei allen Story-Meetings dabei und legt den Ton des Films fest. Er will die Geschichte so simpel wie möglich halten und sich stattdessen voll und ganz auf die Figuren konzentrieren. Sie sollen dem Publikum ans Herz gehen, die Zuschauer sollen Spaß mit ihnen haben, wie mit alten Freunden. Er werkelt bis zuletzt an den Gags mit, an emotionalen Szenen, an kleinen visuellen Füllern und Spielereien, die den Film zauberhaft machen sollen.

Premiere hinterm Mikrofon 


Schließlich überlegt man sogar, wie man die Sprecher des Films am besten zur Geltung kommen lassen könne. 
Dafür kommt Disney die Idee, etwas gänzlich Neues auszuprobieren: Anders als in seinen bisherigen Filmen beschließt er, bereits bekannte Persönlichkeiten aus dem Showgeschäft als Stimmen für seine Figuren zu gewinnen.

Einer dieser Stars, der im Team von Disney große Verwunderung auslöst, ist der seinerzeit bereits gut sechzigjährige Phil Harris.
Harris ist, als er an Bord kommt, ein nahezu in Vergessenheit geratener Megastar. Seit den Zwanzigern ist der Musiker und Sänger in diversen Bands im Radio zu hören, und startet in den Dreißigern voll durch: Als Bandleader und Komiker wird Harris in, mit und durch unzählige Radioshows im ganzen Land bekannt und populär. Seine Mischung aus lockerer Comedy und grandiosem Swing und Jazz begeistert die Zuhörer im ganzen Land. Das Ende der Radioära und das Aufkommen des Fernsehens bekommt ihm jedoch nicht besonders, so dass er zwar noch immer Beschäftigung findet, aber allmählich in Vergessenheit gerät.

Disney lernt Harris auf einer Party kennen und findet ihn dank seiner sonoren, brummigen Tonlage ideal als Sprecher für eine kleine, eher unbedeutende Rolle in seinem Script, die des Bären Balu.
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Die Mitarbeiter, die Harris noch als fröhlichen Musik-Comedian kennen, können kaum glauben, dass dieser plötzlich in einem Film nach Rudyard Kipling auftreten soll (nach heutigen Maßstäben vermutlich so verwunderlich wie ein Stefan Raab, der in einer Thomas-Mann-Verfilmung aufläuft), und tatsächlich erweist sich die Besetzung als folgenschwer.

Harris beginnt, seine Zeilen einzusprechen, ist aber unzufrieden. Zu steif und zu schwach findet er den knappen Text, den Balu erhalten hat. Er schlägt Disney etwas anderes vor, wirft das Script weg, und beginnt, mit der ihm eigenen flappsigen Art drauflos zu improvisieren. Das Team ist begeistert und lacht sich bei den Sprüchen des Altstars kaputt.
Disney knickt ein. Er stellt die gesamte Geschichte um und erweitert Balus Rolle massiv. Außerdem passen seine Autoren Balus Dialoge an Harris' einmalige Art an, doch auch später sind viele der Textzeilen des flappsigen Bären improvisiert.

Übrigens: Als kleiner Elefantenjunge ist im englischen Original Clint Howard zu hören, der kleine Bruder von Ron Howard und wie sein Bruder ein vielbeschäftigter Kinderstar jener Zeit. Noch heute ist Clint Howard einer der beschäftigsten Schauspieler Hollywoods, wenn auch meist in kleinen Rollen. Und selbst wer seinen Namen nicht kennt – sein Gesicht ist derartig markant, dass es für gewöhnlich zumindest auffällt.

Visuelle Tricks und Kniffe


Die Zeichner beschließen, die wachsende Starpower hinter dem Mikrofon auch auf die Leinwand zu übertragen, und gestalten alle Figuren so, dass sie ihren Sprechern optisch ähneln. Besonders auffällig ist das bei George Sanders, einem populären, britischen Schauspieler, der als Shir Khan mit süffisant böser Miene Jagd auf Mogli machen darf.

Als unerwartet schwierig erweist sich die Schlange Kaa. Nicht nur, weil die Zeichner Probleme damit haben, eine Figur zu gestalten, die keine Extremitäten besitzt. Man verpasst der Schlange große Augen, um ihre Emotionen deutlicher erkennbar zu machen, und entwickelt kreative Lösungen, mit denen sie ihren Körper als Handersatz verwenden kann.
Allerdings verlangt Disney eine Änderung zur Vorlage. Denn in Kiplings Geschichten ist Kaa einer seiner treuesten Verbündeten und Helfer. Disney jedoch erklärt, dass es unmöglich sei, dass irgendjemand im Publikum glauben könne, eine Schlange könne ein positiver Charakter sein, so dass er aus ihr einen weiteren Schurken machen lässt wohl verständlich für einen derart überzeugten Christen.

Eine weitere Schlappe muss Disney bei einem ganz besonderen Coup hinnehmen, der ihm vorschwebt. Die vier Geier, mit denen Mogli sich anfreundet, sollen von den Beatles gesprochen werden, die seinerzeit auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs stehen - die „Beatlemania“ donnert mit Volldampf um die Welt. Und die Jungs sagen tatsächlich zu!
Man beginnt, einen Song zu schreiben, der zum Stil der Beatles passt, die Zeichner gestalten die Tiere so, dass eine äußerliche Ähnlichkeit erkennbar ist. Alles ist vorbereitet, als die Nachricht kommt: Die vier Superstars aus Manchester steigen aus.
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Zum einen gibt es Terminschwierigkeiten mit einer Tour, zum anderen hat John Lennon, der in dieser Zeit den Ton in der Band angibt, keine Lust, in einem Zeichentrickfilm aufzutreten. (Nur ein Jahr nach DAS DSCHUNGELBUCH erscheint ironischerweise der Beatles-Animationsfilm YELLOW SUBMARINE.)
Disney muss in den sauren Apfel beißen. Er lässt die Nummer ein wenig umschreiben, behält das Aussehen der Geier jedoch bei, und organisiert auch Sprecher, die den Vögeln einen breiten Manchester-Akzent verpassen.

Affenkönige und schwarze Legenden


Als Politikum mit Ansage erweist sich eine der von Disney erschaffenen Figuren: King Louie, der Orang-Utan und König der Affen, wird extra für den Film erfunden, weil Disney die im Buch vorkommende Entführung durch die Affen aufpeppen will. Schnell entscheidet man, dass der Film an dieser Stelle eine beherzte Swing-Nummer bieten soll, und den Machern fällt auch sofort das perfekte Vorbild ein: Louis Armstrong, der Jazz- und Soul-Trompeter, den die Macher anhimmeln. So kommt die Figur auch zu ihrem Namen: King Louie. 

Doch als die Zeichner vorschlagen, Louie auch optisch an Louis Armstrong anzulehnen, stellt Disney sich quer. Er erkennt die Zeichen der Zeit – immerhin befindet man sich Mitte der Sechziger, die Bürgerrechtsbewegung nimmt rapide Fahrt auf, und er weiß, welchen Aufschrei er provozieren würde, wenn er ausgerechnet für seine Affenfigur einen Schwarzen als Vorbild nehmen würde. 
Stattdessen wendet man sich also an den aus New Orleans stammenden, lateinamerikanischen Swingmusiker Louis Prima, ein weiterer absoluter Megastar seiner Zeit und Komponist einer der noch heute bekanntesten und populärsten Swing-Nummern überhaupt: Sing, Sing, Sing (with a Swing)! Prima ist sofort Feuer und Flamme für die Rolle und entwickelt immer wieder selbst Gags und Ideen für seine Figur. Er schlägt Disney sogar vor, Louie am Ende sterben zu lassen, da er eine herausragende Sterbeszene spielen könne.
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Trotzdem wird der Charakter zum Politikum! Louie ist die einzige Figur, die weder in einem elaborierten Britisch spricht, wie etwa Baghira oder vor allem Shir Khan, noch in einem sauberen Amerikanisch wie viele andere Figuren, sondern einen verschliffenen Straßenslang anschlägt, der üblicherweise den Schwarzen zugeordnet wird. Auch wird bekannt, dass Louis Armstrong als Vorbild gedient haben soll. Trotz aller Umsicht wird King Louie, als der Kinostart näher rückt, als rassistische Diffamierung der Schwarzen gewertet und führt noch vor Kinostart zu heftigen Protesten der Bürgerrechtsbewegung.

Not und Erfolg


Doch bevor DAS DSCHUNGELBUCH in die Kinos kommen kann, erschüttert eine ganz andere, und die vermutlich größtmögliche Katastrophe die Walt Disney Studios und droht, alles zunichte zu machen: Am 15. Dezember 1966, zehn Tage nach seinem 65. Geburtstag, stirbt Studiopatriarch Walt Disney, der seit dem Ersten Weltkrieg starker Raucher war, an den Folgen seines Lungenkrebses.
Für die Walt Disney Animation Studios ist der Tod ihres Gründers der alles entscheidende Schicksalsschlag. DAS DSCHUNGELBUCH ist zwar durchgeplant, aber noch nicht fertig. Die letzten beiden Filme waren keine nennenswerte Erfolge, und keiner der Manager oder Zeichner weiß, wie es nun weitergehen soll. Finanziell steht das Studio auf wackeligen Beinen, und es stellt sich schnell heraus, dass das gesamte Schicksal des Studios und der Angestellten mit einem Mal von dem Erfolg oder Misserfolg abhängt, den DAS DSCHUNGELBUCH hat. Scheitert der Film, wird das mittlerweile als Traditionshaus etablierte Studio seine Pforten schließen müssen.

Die Anspannung und Unsicherheit ist also enorm hoch, als der Film am 18. Oktober 1967 seine Premiere in Amerika feiert. 
Und was für ein Erfolg der Film wird.
Disneys Konzept, einen heiteren, seichten Gute-Laune-Film für die ganze Familie zu konzipieren, geht voll auf. Kinder und Erwachsene sind gleichermaßen beschwingt und begeistert von der kunterbunten Dschungelparty, und die Songs entwickeln schnell Ohrwurmcharakter.
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DAS DSCHUNGELBUCH wird für knapp vier Millionen produziert und beendet das Jahr trotz seines späten Starts als vierterfolgreichster Film des Jahres. Mehr als dreiundsiebzig Millionen Dollar spielt die Dschungelrasselbande bis Jahresende ein. Nach einigen Wiederaufführungen hat der Film allein in den USA inzwischen mehr als 140 Millionen eingespielt, weltweit kratzen die Einspielergebnisse an den 500 Millionen.

Oscarstreit, Ironie und sprechende Tiere


Der Erfolg sorgt für ein weiteres Politikum, diesmal allerdings branchenintern. 
1967 wird Gregory Peck zum Präsidenten der Academy for Motion Pictures Arts and Sciences gewählt, jenem elitären Club, der alljährlich die Oscars vergibt. Und der Mann hat einige Veränderungen im Sinn. Eine davon sieht vor, dass er erreichen will, dass Animationsfilme stärker als filmische Kunst betrachtet werden. Er beginnt eine Kampagne, die dafür sorgen soll, dass ein Animationsfilm bei den Oscars nicht nur für die Kategorie Bester Film nominiert wird, sondern den Preis auch gewinnt, und DAS DSCHUNGELBUCH kommt ihm für diese Kampagne gerade recht.

Doch so sehr Peck sich auch einsetzt, er kann die Academy nicht überzeugen. Erst 1990 wird mit DIE SCHÖNE UND DAS BIEST, ebenfalls aus dem Hause Disney, ein Animationsfilm in der Kategorie Bester Film nominiert. Bis heute wird erst zwei weiteren Animationsfilmen diese Ehre zuteil: TOY STORY 3 und OBEN, beide von Pixar, die allerdings erst in die Nominiertenliste rutschten, als diese auf bis zu zehn Filme erweitert wird.

Peck gibt seinen Kampf für mehr Würdigung von Animationsfilmen in der Academy übrigens nicht auf, und auch nicht seine anderen Versuche, etwas zu verändern. 1970 wirft er entnervt das Handtuch und tritt als Präsident der Academy zurück, da ihm keinerlei Erfolg beschienen ist. 

Die Oscarverleihung gerät für DAS DSCHUNGELBUCH ohnehin zu einer Show der Sonderbarkeiten. Denn: Gemeinsam mit Bill Peet arbeitet zu Beginn der Vorbereitungen an DAS DSCHUNGELBUCH auch der Komponist Terry Gilkyson an ersten Songs. Doch Disney ist nicht nur Peets Storyentwurf zu düster, auch die frühen Kompositionen von Gilkyson entsprechen nicht seinen Vorstellungen. Disney zieht also nicht nur Peet von dem Projekt ab, sondern auch Gilkyson.
Stattdessen holt er die Sherman Brothers, Robert und Richard, als Komponisten und Texter ins Boot, die er regelmäßig an den Story-Meetings teilnehmen lässt. Die erfahrenen Musical-Komponisten steuern am Ende fünf Songs zu dem Film bei. 
Allerdings bestehen sie gegen Disneys Proteste darauf, zumindest einen von Gilkysons Songs zu übernehmen, den sie für dermaßen gut halten, dass sie auf keinen Fall darauf verzichten wollen. Schließlich gibt Disney nach, und so schafft es am Ende wenigstens eine von Gilkysons Kompositionen in den Film: „The Bare Necessities“, oder auf Deutsch: „Probier's mal mit Gemütlichkeit“. Und ausgerechnet dieser Song bringt dem Film dann auch seine einzige Oscarnominierung für den Besten Filmsong ein.

Und als wäre das nicht bereits schräg genug, zeigt sich das Leben am Abend der Oscarverleihung von seiner besonders ironischen Seite. „The Bare Necessities“ gewinnt den Oscar nicht. Stattdessen geht der Preis für den Besten Filmsong ausgerechnet an den Titelsong von DR. DOOLITTLE, mit dem Titel: „Talk To The Animals“. Sprechende Tiere waren also 1967 echtes Musicalgold. Aus heutiger Sicht allerdings eine weitere Fehlentscheidung der Academy.

Dennoch werden nahezu alle Songs aus DAS DSCHUNGELBUCH echte Hits. Mit „Walk like you, talk like you“ entsteht eine echte Ohrwurm-Swingnummer. Phil Harris und Louis Prima, beides Vollblutmusiker, verstehen sich bei den Aufnahmen zum Song hervorragend und beginnen im Überschwang ein spontanes Scat-Duell, das schließlich auch im Film zu finden ist.
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Trust in Me“, der Song, mit dem Kaa den kleinen Mogli verzaubert, ist hingegen ein Recycling-Stück. Ursprünglich wird es von den Sherman Brothers unter dem Titel „Land of Sand“ für MARY POPPINS geschrieben, doch die geplante Sequenz wird aus dem Film gestrichen, und so können die Brüder ihn in DAS DSCHUNGELBUCH doch noch verwenden.

Fabelhaftes Erfolgsmusical


Der sensationelle Erfolg von DAS DSCHUNGELBUCH ist nur schwer zu erklären. Mit Sicherheit liegt es an Disneys Anspruch, einen seichten und einfachen Gute-Laune-Film zu gestalten, und auch die hohe Qualität der Songs tut ihr übriges bei.

Was oft vergessen wird ist, dass der Film trotz seines geringen Tiefgangs aber tatsächlich auch jede Menge moralischer Leitgedanken bereithält, wie es sich für eine Fabel gehört, und wie auch Kipling sie, wenn auch düsterer, in seinen Geschichten verwob. 
Denn natürlich geht es auch in Disneys DSCHUNGELBUCH um die Frage, wie Menschen und Tiere miteinander leben können. Der Grundkonflikt besteht auch hier darin, dass Shir Khan in Mogli eine potentielle Bedrohung sieht – eine Bedrohung, die er aus dem Weg räumen will, solange es noch möglich ist, denn wenn Mogli erst einmal erwachsen ist, wird er zum Feind der Tiere werden, so wie alle Menschen. 
Man muss nicht erst auf die aktuell europaweit lodernde Flüchtlingsdebatte schauen um zu erkennen, wie zeitlos diese Frage ist: Wie geht man mit einer potentiellen oder gefühlten Bedrohung um, wenn diese noch gar nicht bedrohlich ist?

Daneben findet sich, bis heute oft unbemerkt, aber auch ein faszinierender Diskurs über Erziehungstechniken in dem Film. Moglis engste Vertraute im Dschungel, neben den Wölfen, sind Baghira und Balu, und beide vertreten gänzlich unterschiedliche Ansätze. Während Baghira die autoritäre, regelkonforme Erziehung propagiert, spiegelt Balu die antiautoritäre „mach, wonach dir ist, wenn dir danach ist“-Einstellung wider, ein Lebensstil, der ab Mitte der Sechziger in den USA dank der Beat Generation und der aufkommenden Hippieära immer größere Verbreitung findet. Nicht umsonst erscheint der Film in Deutschland ausgerechnet 1968, dem Jahr, nach dem bis heute der antiautoritäre, regelfeindliche Lebensstil einer ganzen Generation benannt ist.
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Der Film positionierte seinen Helden Mogli und seine Probleme also exakt in dem sozialen Kreuzfeuer, das seinerzeit in der westlichen Gesellschaft tobt: Regeltreu wie Baghira oder nach Lust und Laune wie Balu – wie sollte man leben?
Dass in diesem Spannungsfeld ein nahezu propagandistischer Song wie „Probier's mal mit Gemütlichkeit“ auf fruchtbaren Boden fällt, verwundert also nicht, und neben vor allem den Kindern, denen eine solche Einstellung immer gelegen kommt, finden seinerzeit wohl auch viele Erwachsene Balus Art, an die Dinge heranzugehen bewunderns- und nachahmenswert.

Im deutschen Dschungel


DAS DSCHUNGELBUCH wird ein weltweiter Erfolg, allerdings ist er kaum irgendwo derartig erfolgreich wie in Deutschland, wo der Film am 13. Dezember 1968 startet und auf Anhieb ein Klassiker wird. Und mehr als das. Auch in Deutschland wird DAS DSCHUNGELBUCH mehrfach neu aufgeführt. (Eine gängige Praxis von Walt Disney, der seine Filme zyklisch immer wieder ins Kino bringt und sich testamentarisch sogar dagegen ausspricht, dass seine Filme je anders als im Kino gezeigt werden sollen.)

Insgesamt spielt der Film hierzulande geschätzte 108 Millionen Dollar ein und liegt damit auf Platz drei der erfolgreichsten Filme in Deutschland. Nur AVATAR und TITANIC sind in Deutschland erfolgreicher.
Und doch bleibt DAS DSCHUNGELBUCH der erfolgreichste Film, der je in Deutschland lief. Präzisen Schätzungen zufolge hat der Film während seiner gut fünf Veröffentlichungen über 27 Millionen Besucher in die Kinos gelockt! Mit weitem Abstand mehr als jeder andere Film, der je in deutschen Kinos lief. Auf Platz zwei liegt aktuell TITANIC, der inklusive Wiederaufführung in 3D immerhin 18,8 Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos zog.

Aus dem Dschungel ...


Fast überall auf der Welt liegt der Film noch heute auf den vorderen Plätzen, sowohl was den Erfolg als auch die Popularität betrifft. Auch fünfzig Jahre nach Erscheinen sind die Lieder besonders in Deutschland so gut wie jedem bekannt, insbesondere der Gassenhauer „Probier's mal mit Gemütlichkeit“. Der deutsche Text dazu stammt, wie bei so vielen Disneyfilmen, von Heinrich Riethmüller, der seine Arbeit für Disney mit der Übersetzung der Texte von MARY POPPINS begann.
Witzigerweise spielt ausgerechnet Louis Armstrong später eine Version von „The Bare Necessities“ für sein Album „Disney Songs the Satchmo Way“ ein.
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Für Phil Harris erweist sich die Popularität von Balu als echtes Comeback. In Folge hat er wieder vermehrte Fernsehauftritte und wird als Sprecher für Animationsfilme immer begehrter. Vor allem als Bär ist er immer wieder zu hören, so auch erneut bei Disney, wo er in ROBIN HOOD Little John spricht – ein Bär, der Balus Zwillingsbruder sein könnte. Tatsächlich ist Wolfgang Reithermann, Regisseur beider Filme (und etlicher anderer Disney-Klassiker) berühmt und berüchtigt dafür, mithilfe des Rotoscope-Verfahrens immer wieder alte Animationen für seine Filme zu recyclen, wodurch Little John einfach von Balu abgezeichnet wurde. ROBIN HOOD enthält sogar eine Tanzszene, in der Little John Balus Bewegungen exakt imitiert.

… in den Dschungel


Die Begeisterung für Rudyard Kiplings Grundgeschichte sowie Disneys heitere Interpretation ist und bleibt bis heute ungebrochen. Das zeigt sich auch daran, dass immer wieder neue Variationen entstehen. 
Disney selbst bleibt dem DSCHUNGELBUCH immer wieder treu. Als der Konzern sich in den Neunzigern breiter aufstellt, spendiert man dem populären Balu mit KÄPT'N BALU eine eigene Fernsehserie, in der auch andere Figuren aus dem Dschungel immer wieder auftauchen. 
Kurz darauf entwickelt man auch die Serie DIE DSCHUNGELBUCH-KIDS, bei der die tierischen Stars des Films als Kinder spannende Abenteuer erleben. Passenderweise steuert Stefan Raab mit seiner Version von „Probier's mal mit Gemütlichkeit“ den Titelsong zur deutschen Version bei.

1994 produziert Disney seine erste Realversion des Buches, auch wenn DAS DSCHUNGELBUCH von 1994 nur wenig Erfolg beschert ist. Die Story weicht massiv von sämtlichen Vorlagen ab, so dass etliche Kritiker dem Film bescheinigen, zwar spannend zu sein, aber auch ein echter Etikettenschwindel. Der Film ist eines der Frühwerke von Stephen Sommers, der fünf Jahre später mit DIE MUMIE seinen größten Triumph feiern sollte.
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2003 produziert Disney eine offizielle Fortsetzung, DAS DSCHUNGELBUCH 2 ist eine der wenigen Fortsetzungen von Disney, die (in diesem Falle gegen ursprüngliche Pläne) sogar ins Kino kommen. Doch trotz Starbesetzung, etwa Haley Joel Osment als Mogli oder John Goodman als Balu, fehlt dem Film jegliche Magie des Vorgängers, und der Erfolg bleibt moderat.

Mitte der 2010er wird der Stoff noch einmal brandaktuell. Disney ist mittlerweile dem Trend erlegen, seine alten Zeichentrickklassiker als Realfilme neu aufzulegen und macht auch vor DAS DSCHUNGELBUCH nicht halt. Unter der Regie von Jon Favreau erscheint im April 2016 die „Real“filmversion des Stoffes, bei der die Tiere durch CGI-Effekte ersetzt werden. Der Film kombiniert einige der populärsten Songs und die heiteren Szenen des Originals mit einer etwas düsteren Abenteuerstimmung, bei der Mogli sich noch stärker und direkter gegen seinen Widersacher Shir Khan behaupten muss. Die Realfilmversion startet derart erfolgreich, dass schon kurze Zeit später die vermutlich unvermeidliche Fortsetzung angekündigt wird.

Im Oktober 2018 soll eine weitere Realverfilmung von DAS DSCHUNGELBUCH erscheinen. Die von Warner Bros. produzierte Fassung stellt das Regiedebüt von Andy Serkis dar, dem Großmeister des Motion-Capture-Schauspiels, in dem sämtliche Tiere auf diese Art verkörpert sein sollen. Auch diese Version ist mit absoluten Topstars wie Benedict Cumberbatch, Christian Bale oder Cate Blanchett bestückt und soll sich, anders als die Disney-Variante, deutlich näher am düsteren Ton von Kiplings Büchern halten.

Fest steht: Rudyard Kipling und Walt Disney erschufen mit ihren Meisterwerken zeitlose Klassiker, die bis heute etwas in uns bewegen, die uns fesseln, begeistern, mitreißen und verzaubern und unsterbliche Charaktere lebendig werden lassen. Man darf gespannt bleiben, wann und wie oft uns Kiplings unermüdliche Dschungelhelden noch in ihre Welt entführen werden. Sicher scheint, dass ein Besuch bei Mogli und seinen Freunden (und Feinden) immer eine Reise wert ist. Gemütlicher kann der Dschungel nicht mehr werden.
© Walt Disney Home Entertainment

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