WER DIE NACHTIGALL STÖRT gilt als
einer der wichtigsten Filme aller Zeiten – einfühlsam, sensibel,
berührend. Ein Film, der von Integrität erzählt. Von Freundschaft,
Menschlichkeit, und von Gerechtigkeit. Für seinen Star Gregory Peck
wird der Kleinstadtanwalt Atticus Finch, der den Staffelstab des
Humanismus an seine Kinder weiterreicht, zur Rolle seines Lebens.
Doch wo so viel Nächstenliebe ist, da
ist der Hass nicht weit ...
1960 fegt ein Sturm durch die USA. Die Amerikanerin Harper Lee legt mit ihrem Erstlingswerk „Wer die Nachtigall stört“ einen Roman vor, der mit 40 Millionen verkauften Exemplaren und der Übersetzung in 40 Sprachen nicht nur zu einem der wichtigsten Romane der Welt avanciert und den Pulitzer-Preis gewinnt, sondern auch einen Schrei der Entrüstung in weiten Teilen der USA auslöst.
Die konservativen Kreise stören sich an der kritischen Sichtweise zur Rassentrennung, die aufkommende Bürgerrechtsbewegung hingegen an der unverblümten, häufig politisch unkorrekten Sprache, die Schwarze immer noch als „Nigger“ bezeichnet.
Bis in die 90er wird Lees Roman deshalb immer wieder aus vielen, vor allem konservativen, Schulen Amerikas verbannt!
Zwei Jahre später, 1962, hat sich Amerikas Konservative
gerade wieder etwas beruhigt, als der Regisseur Robert Mulligan sich
anschickt, den brisantesten Roman seiner Zeit zu verfilmen, und zwar
mit keinem Geringeren als Gregory Peck in der Rolle des Atticus
Finch.
Zu diesem Zeitpunkt kann niemand ahnen, dass der Film – vom American Film Institute – zu einem der 25 Besten Filme aller Zeiten gewählt werden würde, oder dass die Figur des Atticus Finch bis heute als Synonym für Humanität, Ethik und Menschlichkeit Bestand haben würde. Dass es Gregory Pecks bedeutendste Rolle werden würde.
Zu diesem Zeitpunkt kann niemand ahnen, dass der Film – vom American Film Institute – zu einem der 25 Besten Filme aller Zeiten gewählt werden würde, oder dass die Figur des Atticus Finch bis heute als Synonym für Humanität, Ethik und Menschlichkeit Bestand haben würde. Dass es Gregory Pecks bedeutendste Rolle werden würde.
Nein, 1962 ahnt noch niemand, welchen
Weg der Film einmal gehen wird ...
Eine Kindheit anno 1930
Der Film erzählt, wie das Buch, eine
Familiengeschichte. Die sechsjährige Scout wächst gemeinsam mit
ihrem drei Jahre älteren Bruder Jem in den frühen 30er Jahren auf – der
Zeit der großen Depression. Sie lebt mit ihrem Vater, dem Anwalt Atticus
Finch, im Süden der USA, wo Atticus die Kinder allein großzieht, da
die Mutter bereits früh verstarb.
Atticus ist nicht nur Vater, sondern auch Freund, Lehrer und Hüter der Kinder und nimmt eine besondere Stellung in ihrer Welt ein. Als er jedoch die Pflichtverteidigung des schwarzen Tom Robinson übernimmt, hält der Rassismus Einzug in diese idyllische, friedliche Kindheit und setzt Scouts Unbeschwertheit ein Ende.
Atticus ist nicht nur Vater, sondern auch Freund, Lehrer und Hüter der Kinder und nimmt eine besondere Stellung in ihrer Welt ein. Als er jedoch die Pflichtverteidigung des schwarzen Tom Robinson übernimmt, hält der Rassismus Einzug in diese idyllische, friedliche Kindheit und setzt Scouts Unbeschwertheit ein Ende.
Der unbeschwerten Kindheit wird bald die Realität des Hasses entgegengesetzt - und sie wird an keinem der Kinder spurlos vorübergehen.
© Universal Pictures Germany GmbH |
Heutzutage ist die Erzählung aus der
Sicht eines Kindes ein regelmäßig wiederkehrendes
Stilmittel, zuletzt im herausragenden Drama RAUM. 1962 jedoch ist
dieser Trick vollkommen neu!
Trotz der Ernsthaftigkeit der zugrundeliegenden Geschichte bleibt der Film dadurch leicht und „gut verdaulich“, ja, er wirkt beinahe unschuldig.
Durch Scout und Jem, durch ihre Sicht der Dinge und die Fragen, die sie während der politischen Situation und des Prozesses aufwerfen, werden wir Zuschauer auf besondere Art und Weise in die Geschichte gesogen. Immer wieder ertappt man sich selbst dabei, viele Selbstverständlichkeiten, Ereignisse und Handlungen zu hinterfragen, und den Status Quo anzuzweifeln.
Wenn uns europäischen Zuschauer das
schon so innovativ vorkommt, wie revolutionär muss es dann erst dem
amerikanischen Publikum der frühen 60er Jahre erscheinen? In
einer Zeit, in der der Rassismus noch offen und mit einem Gefühl der
Gerechtigkeit praktiziert wird?
Scouts Fragen beziehen sich auf humanistische, menschliche und soziale Zusammenhänge und bestechen gerade durch die Einfachheit und Unschuld, in der sie gestellt werden.
Jem, ihr älterer Bruder ist in seiner moralischen Entwicklung schon wesentlich weiter und setzt somit einen fein ausbalancierten Gegenpart zur oft noch etwas naiven Scout.
Er steht sozusagen eine Stufe höher in der ethisch-moralischen Entwicklung und hat bereits stärker von der Erziehung des Vaters profitiert.
Scouts Fragen beziehen sich auf humanistische, menschliche und soziale Zusammenhänge und bestechen gerade durch die Einfachheit und Unschuld, in der sie gestellt werden.
Jem, ihr älterer Bruder ist in seiner moralischen Entwicklung schon wesentlich weiter und setzt somit einen fein ausbalancierten Gegenpart zur oft noch etwas naiven Scout.
Er steht sozusagen eine Stufe höher in der ethisch-moralischen Entwicklung und hat bereits stärker von der Erziehung des Vaters profitiert.
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Dem Film gelingt es, dass man als
Zuschauer das Amerika seiner Zeit hinterfragen muss, zum einen, weil
er eben dieses Amerika immer wieder durch seine eigene Metaebene
anzweifelt, aber auch, weil wir den Reifungsprozess eines
sechsjährigen Kindes mitverfolgen, das sich aufgrund der
Gerichtsverhandlung auf die nächste Stufe seiner moralischen
Entwicklung erhebt. WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist damit ein
lupenreines Coming-Of-Age-Drama.
Eine frühe Coming-Of-Age-Perle
Heutzutage ist der Genrebegriff der
“Coming-Of-Age“-Geschichte aus der Filmwelt nicht mehr
wegzudenken.
Unter dem Begriff „Coming-Of-Age“
versteht man Geschichten und Filme, in denen Kinder oder Jugendliche
von grundlegend menschlichen Fragen bewegt werden. Zumeist verändert
sich das Wesen des Jugendlichen aufgrund solch ernster und prägender
Themen und Ereignisse, so dass es zu einem „Reifungsprozess“
kommt. Das Kind oder der Jugendliche verliert ein Stückweit seine
Naivität und geht geläutert oder verändert aus den Ereignissen
hervor. Damit ist die „Coming-Of-Age“-Geschichte eine Nebensparte
des von Goethe „erfundenen“ Bildungsromans.
1962 ist dieser Begriff noch im
Bestehen – vor allem mit J.D.Salingers „Fänger im Roggen“
wurde die Gattung in den USA populär. Filmisch ist das Genre im
Studiosystem Hollywoods aber noch wenig vertreten und begrifflich
kaum genutzt. (Eine genauere Abhandlung über den Coming-Of-Age-Film
und seine Entwicklung findet ihr in unserem Blick auf den Film
BOYHOOD.)
Wir sind einfach so frei und setzen WER
DIE NACHTIGALL STÖRT als einen der ersten Vertreter dieses Genres
mit auf die Liste. Die neuartige Erzählperspektive und das noch
unverbrauchte Genre unterstreichen jedenfalls die Einzigartigkeit des
Films zu seiner Entstehungszeit.
Zum Sinnbild für Scouts Entwicklung in
jenem Jahr der 30er Jahre wird die titelgebende Nachtigall (die, wie
wir wissen, im Originaltitel eigentlich eine Spottdrossel ist). Die
bisher in Geborgenheit und Unschuld aufgewachsene Scout lernt in jenem Jahr, in dem die Geschichte spielt, viel über Ethik, Menschlichkeit,
Ungerechtigkeit und Rassismus, über die Menschen, ihre Ängste und
Standpunkte, über Vorurteile und Diskriminierung – und das so
unvermittelt, dass es sie verändert und sie etwas lehrt.
Ein Jahr nach Beginn der Handlung wird sie anders mit Vorurteilen und Ängsten umgehen, denn auch sie selbst erfährt am eigenen Leib, dass Menschen nicht immer so sind, wie sie von anderen dargestellt werden. Und dass Humanität und Menschlichkeit auch im Kleinen zu finden und zu geben sind.
Ein Jahr nach Beginn der Handlung wird sie anders mit Vorurteilen und Ängsten umgehen, denn auch sie selbst erfährt am eigenen Leib, dass Menschen nicht immer so sind, wie sie von anderen dargestellt werden. Und dass Humanität und Menschlichkeit auch im Kleinen zu finden und zu geben sind.
Diese Erfahrung wird für sie zur
Erkenntnis, als es ihr gelingt, es mit dem Verbot ihres Vaters
gleichzusetzen, der seinen Kindern stets auftrug, keine Nachtigallen
zu töten (oder zu stören …), da diese keine Gefahr darstellen und
den Menschen nur mit ihrem Gesang erfreuen wollten. Sie nutzt dieses
Gleichnis auf äußerst erfahrene Art und Weise, um sich schützend
vor einen anderen Menschen zu stellen, und tritt damit in die nächste
Stufe ihrer Entwicklung ein.
Sie ist gereift und hat sich von einem oft egozentrischen Kind zu einem Menschen gewandelt, der Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmt, der es für sich selbst nicht mehr zu tun vermag.
Sie ist gereift und hat sich von einem oft egozentrischen Kind zu einem Menschen gewandelt, der Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmt, der es für sich selbst nicht mehr zu tun vermag.
Das macht WER DIE NACHTIGALL STÖRT zu
einem läuternden Film über das Erwachsenwerden.
Dreieinhalb Stufen der Moralentwicklung
Interessanterweise lässt sich WER DIE
NACHTIGALL STÖRT auch als Paradebeispiel für eine bis heute weit
verbreitete Theorie der Moralentwicklung verstehen.
1958 entwickelt der amerikanische Erziehungswissenschaftler Lawrence Kohlberg in seiner Dissertation das „Stufenmodell der Moralentwicklung“, mit dem er die moralische Intention der menschlichen Handlungen zu ergründen versucht. Kohlberg, der sein Modell auf den Theorien von Jean Piaget aufbaut, geht davon aus, dass die Moralentwicklung des Menschen aus sechs Stufen besteht, deren letzten Stufen jedoch nicht immer erreicht werden. Die Entwicklung dieser Stufen verläuft Kohlberg zufolge stets in derselben Reihenfolge.
1958 entwickelt der amerikanische Erziehungswissenschaftler Lawrence Kohlberg in seiner Dissertation das „Stufenmodell der Moralentwicklung“, mit dem er die moralische Intention der menschlichen Handlungen zu ergründen versucht. Kohlberg, der sein Modell auf den Theorien von Jean Piaget aufbaut, geht davon aus, dass die Moralentwicklung des Menschen aus sechs Stufen besteht, deren letzten Stufen jedoch nicht immer erreicht werden. Die Entwicklung dieser Stufen verläuft Kohlberg zufolge stets in derselben Reihenfolge.
In der ersten Stufe handeln Kinder
gänzlich ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend und kontrollieren
ihr Handeln allein danach, ob sie fürchten, von einer Autorität
bestraft zu werden.
Die zweite Stufe erkennt die
Bedürfnisse anderer Personen an, und man richtet sein Handeln daran
aus. Wie auf einem Marktplatz wird das eigene Handeln jedoch am
konkreten Handeln des anderen ausgerichtet: Gute Taten werden mit
guten belohnt, schlechte Taten hingegen mit schlechten vergolten –
ebenso handelt man oft gut, um etwas Gutes im Gegenzug zu erwarten.
Die dritte Stufe, oft im Jugendalter,
nimmt die Erwartungen anderer Menschen als für sich selbst
existierend wahr und möchte diese erfüllen, wenn auch häufig noch,
um eigene Schuldgefühle zu vermeiden. Auf der vierten Stufe
erweitert der Mensch diese Sicht soweit, dass er derlei Regeln und
Gesetze für ein Funktionieren der Gesellschaft als notwendig erachtet.
Die Stufen fünf und sechs sind
typischerweise Erwachsenen vorbehalten. In der fünften Stufe erkennt
man Moral als „Gesellschaftsvertrag“ an, hinterfragt jedoch die
Motivationen und Nützlichkeiten einzelner Menschen und der
untereinander geschlossenen Moralnormen. Die sechste Stufe, die
Kohlberg zufolge nur von 5% der Bevölkerung erreicht wird, legt die
konkrete Moralbegründung ab. Das eigene Handeln wird an abstrakten
Universalprinzipien wie Kants „Kategorischem Imperativ“
orientiert, Konflikte sollen argumentativ und unter Einbeziehung
aller Beteiligten gelöst werden.
Kohlberg arbeitete bis zu seinem Tod 30
Jahre lang immer weiter an seiner Theorie.
Anhand der Figuren in WER DIE
NACHTIGALL STÖRT lässt sich dieses Modell hervorragend
darstellen.
Der Vater Atticus Finch etwa hat seine Entwicklung bereits abgeschlossen.
Er hat – wenn man Kohlbergs ausgearbeitete Theorie zugrunde legt – die sechste und letzte Stufe der Moralentwicklung erreicht, und handelt unter Einbeziehung der Sichtweisen aller Beteiligten. Die Lösung von Konflikten werden rein argumentativ gesucht.
(Als kleine Randnotiz: Filmfiguren, die derartig stark die sechste Stufe der Moralentwicklung vertreten, sind extrem selten. Das vielleicht einzige weitere Beispiel wäre der Geschworene Nummer 8 in DIE ZWÖLF GESCHWORENEN. Diese Figur führt die sechste Stufe argumentativ so gekonnt aus, dass der Film bis heute in Lehrseminaren zur moralischen Entwicklung und ihrer Bedeutung gezeigt wird und als Orientierung dient.)
Der Vater Atticus Finch etwa hat seine Entwicklung bereits abgeschlossen.
Er hat – wenn man Kohlbergs ausgearbeitete Theorie zugrunde legt – die sechste und letzte Stufe der Moralentwicklung erreicht, und handelt unter Einbeziehung der Sichtweisen aller Beteiligten. Die Lösung von Konflikten werden rein argumentativ gesucht.
(Als kleine Randnotiz: Filmfiguren, die derartig stark die sechste Stufe der Moralentwicklung vertreten, sind extrem selten. Das vielleicht einzige weitere Beispiel wäre der Geschworene Nummer 8 in DIE ZWÖLF GESCHWORENEN. Diese Figur führt die sechste Stufe argumentativ so gekonnt aus, dass der Film bis heute in Lehrseminaren zur moralischen Entwicklung und ihrer Bedeutung gezeigt wird und als Orientierung dient.)
Jem, Scouts älterer Bruder, befindet
sich am Übergang zur 3. Stufe, ist also für sein Alter schon sehr
reif.
Er erkennt die moralischen Werte der Gesellschaft und die
Anforderungen, die seine engsten Bezugspersonen an ihn stellen und
will diese erfüllen. Dass Jem den Wunsch äußert, seinen Vater zu
brisanten Terminen zu begleiten, ihn trotz Verbots sogar dort
aufsucht (bei der Familie Robinson etwa, oder während der Wache vor dem
Gefängnis, sowie heimlich während des Prozesses), zeigt, dass er
das übergeordnete moralische Prinzip der Handlungen seines Vaters
verstehen will.
Er erkennt die Rolle seines Vaters und die Bedeutung des Prozessausgangs für den Erhalt der Gerechtigkeit, was Scout noch nicht vermag, sowie die Gefahr, in der sein Vater schwebt, weil er sich auf die Seite eines Schwarzen stellt.
Er ist eindeutig der Sohn seines Vaters und wird einmal ebenso moralisch und ethisch handeln wie er.
Er erkennt die Rolle seines Vaters und die Bedeutung des Prozessausgangs für den Erhalt der Gerechtigkeit, was Scout noch nicht vermag, sowie die Gefahr, in der sein Vater schwebt, weil er sich auf die Seite eines Schwarzen stellt.
Er ist eindeutig der Sohn seines Vaters und wird einmal ebenso moralisch und ethisch handeln wie er.
Scout ist zu Beginn des Films noch der
ersten Stufe zuzuordnen.
Sie versucht, die ihr auferlegten Regeln zu befolgen, ist allerdings noch sehr von ihren eigenen Bedürfnissen getrieben. Sie kann das Erleben anderer oft nicht einordnen oder akzeptieren (so zum Beispiel die Scham, die ein stolzer Farmer verspürt, als er Atticus nicht mit Geld bezahlen kann, und deshalb zu Naturalien greifen muss. Oder auch das Verhalten anderer Kinder, die weniger zu essen haben als sie selbst und das, was sie angeboten bekommen, im Übermaß und oft seltsamen Kombinationen in sich reinstopfen, wie zum Beispiel als Fleisch mit Sirup).
Scouts Charakter ist nun deshalb so spannend und zentral wichtig für WER DIE NACHTIGALL STÖRT, weil sie sich während der Handlung moralisch weiterentwickelt. Sie erreicht am Ende der Geschichte die zweite Stufe, denn sie erkennt das Prinzip menschlicher Beziehungen als Austausch gegenseitig zugebrachter Handlungen.
Und genau dieser Aufstieg auf die zweite Stufe wird in einer der wunderbarsten und eindringlichsten Szenen am Ende des Films sichtbar gemacht: Atticus hebt seine Tochter auf einen Stuhl (auf die nächste Stufe), um ihr zu erklären, weshalb sie den geistig zurückgebliebenen Nachbarn „Boo“ Radley nicht der Polizei ausliefern sollten, der Scout und Jem gerade das Leben gerettet hat.
Sie versucht, die ihr auferlegten Regeln zu befolgen, ist allerdings noch sehr von ihren eigenen Bedürfnissen getrieben. Sie kann das Erleben anderer oft nicht einordnen oder akzeptieren (so zum Beispiel die Scham, die ein stolzer Farmer verspürt, als er Atticus nicht mit Geld bezahlen kann, und deshalb zu Naturalien greifen muss. Oder auch das Verhalten anderer Kinder, die weniger zu essen haben als sie selbst und das, was sie angeboten bekommen, im Übermaß und oft seltsamen Kombinationen in sich reinstopfen, wie zum Beispiel als Fleisch mit Sirup).
Scouts Charakter ist nun deshalb so spannend und zentral wichtig für WER DIE NACHTIGALL STÖRT, weil sie sich während der Handlung moralisch weiterentwickelt. Sie erreicht am Ende der Geschichte die zweite Stufe, denn sie erkennt das Prinzip menschlicher Beziehungen als Austausch gegenseitig zugebrachter Handlungen.
Und genau dieser Aufstieg auf die zweite Stufe wird in einer der wunderbarsten und eindringlichsten Szenen am Ende des Films sichtbar gemacht: Atticus hebt seine Tochter auf einen Stuhl (auf die nächste Stufe), um ihr zu erklären, weshalb sie den geistig zurückgebliebenen Nachbarn „Boo“ Radley nicht der Polizei ausliefern sollten, der Scout und Jem gerade das Leben gerettet hat.
Doch Scout kommt ihm zuvor – und
erklärt, dass sie es verstanden hätte. Sie stellt jenes berühmte
Gleichnis zur Nachtigall an. Sie erkennt also an, dass man eine gute
Tat mit einer eigenen guten Tat belohnen sollte – den fröhlichen
Gesang der Nachtigall, indem man ihr nichts tut, und die Hilfe ihres Nachbarn „Boo“, indem man ihn nicht der Polizei ausliefert. Darüber hinaus erkennt sie, dass von beiden keine Gefahr ausgeht, und beide den Menschen nur "Gutes" tun wollen.
Scout gelingt also die Perspektivübernahme
eines anderen Wesens; eine notwendige Voraussetzung, um sich
moralisch zu entwickeln.
Damit zeigt sie, dass sie nun auch einen weiteren Satz verstanden hat, den Atticus ihr an anderer Stelle mit auf den Weg gibt, und der originalgetreu übersetzt bedeutet: „Urteile nicht über einen Menschen, ehe du nicht ein Stück in seinen Schuhen gelaufen bist“.
(Der ursprüngliche Spruch dazu stammt wohl von einem unbekannten Apache-Indianer und lautet „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin“.)
Damit zeigt sie, dass sie nun auch einen weiteren Satz verstanden hat, den Atticus ihr an anderer Stelle mit auf den Weg gibt, und der originalgetreu übersetzt bedeutet: „Urteile nicht über einen Menschen, ehe du nicht ein Stück in seinen Schuhen gelaufen bist“.
(Der ursprüngliche Spruch dazu stammt wohl von einem unbekannten Apache-Indianer und lautet „Großer Geist, bewahre mich davor, über einen Menschen zu urteilen, ehe ich nicht eine Meile in seinen Mokassins gegangen bin“.)
Mit dieser berührenden moralischen
Entwicklung der kleinen Scout endet WER DIE NACHTIGALL STÖRT. Eine
wunderbar geschriebene und inszenierte Reifung!
Ein neuer Heldentyp
Doch den Fragen der kleinen Scout und
dem Erleben ihres Bruders Jem, dieser subtilen Kritik am Amerika der
30er – und sicherlich auch der 60er Jahre, muss etwas
entgegengestellt werden.
Diese Aufgabe übernimmt Atticus Finch, eine der bedeutendsten Figuren der Filmgeschichte. Atticus ist durch und durch Humanist, Menschenfreund und Rechtsvertreter (oder sagen wir lieber: Gerechtigkeitsvertreter).
Er ist der stille Held des Films, und im Hollywood jener Zeit ein Heros mit ziemlich neuen Attributen des Heldentums.
Der Held muss – wie stets – jemanden retten, doch tut er das nicht mit Revolver, Schwert oder Faust, sondern mit Humanität, Ethik und – Argumenten.
Er tritt nicht gegen einen Schurken an, sondern gegen ein Menschenbild, gegen Vorurteile und Vorverurteilung. Das tut er mit ruhigen Worten, Geduld und Vehemenz.
Der Held ist auch nicht „cool“ oder „unumstößlich“, nein er ist tollpatschig und einfach menschlich.
Unvergesslich ist hier die Szene, in der Atticus Finch einen tollwütigen Hund erschießen muss. Der Held kommt, nimmt das Gewehr, legt es an, will schießen, doch da rutscht ihm die auf die Stirn geschobene Brille auf die Nase. Erneut schiebt er sie zurück und wieder rutscht sie hinab. Ruhig nimmt Finch die Brille ab und lässt sie auf den staubigen Boden fallen. Dann erst legt er an und erschießt den Hund.
Diese Aufgabe übernimmt Atticus Finch, eine der bedeutendsten Figuren der Filmgeschichte. Atticus ist durch und durch Humanist, Menschenfreund und Rechtsvertreter (oder sagen wir lieber: Gerechtigkeitsvertreter).
Er ist der stille Held des Films, und im Hollywood jener Zeit ein Heros mit ziemlich neuen Attributen des Heldentums.
Der Held muss – wie stets – jemanden retten, doch tut er das nicht mit Revolver, Schwert oder Faust, sondern mit Humanität, Ethik und – Argumenten.
Er tritt nicht gegen einen Schurken an, sondern gegen ein Menschenbild, gegen Vorurteile und Vorverurteilung. Das tut er mit ruhigen Worten, Geduld und Vehemenz.
Der Held ist auch nicht „cool“ oder „unumstößlich“, nein er ist tollpatschig und einfach menschlich.
Unvergesslich ist hier die Szene, in der Atticus Finch einen tollwütigen Hund erschießen muss. Der Held kommt, nimmt das Gewehr, legt es an, will schießen, doch da rutscht ihm die auf die Stirn geschobene Brille auf die Nase. Erneut schiebt er sie zurück und wieder rutscht sie hinab. Ruhig nimmt Finch die Brille ab und lässt sie auf den staubigen Boden fallen. Dann erst legt er an und erschießt den Hund.
Ja, er schützt seine Kinder vor dem
Hund, ja, er ist ein Held, und dennoch ist er der ungewöhnlichste
Held, der bis dato die Filmbühne betreten hat. Er ist ein
menschlicher Held, dem ganz alltägliche Missgeschicke passieren, die
wir nie mit einem gängigen Kinohelden in Verbindung gebracht hätten. (Einem
Charlton Heston jener Zeit wäre die Brille wohl nicht vom Kopf
gerutscht ...)
Uncooler Held - und doch Bewahrer der Menschlichkeit. Atticus Finch ist eine gänzlich untypische Heldenfigur, nicht nur für seine Zeit.
© Universal Pictures Germany GmbH |
Eine weitere Szene ist hier ebenfalls zu nennen: Atticus Finch muss das Gefängnis vor dem Mob der Kleinstadt verteidigen, der den Angeklagten, Tom Robinson, lynchen will. Zu Hause bereitet er sich vor. Er geht in den Schrank, wühlt ein wenig herum – und nimmt sich schließlich heraus, was er für die Nacht als Wachposten brauchen wird, um seinen Mandanten vor den wütenden Männern schützen zu können. Nein, kein Gewehr, keine Pistole, wie sonstige Helden es getan hätten. Eine Stehlampe und ein Buch sind Atticus' Begleiter für die Nacht.
Für Atticus sind Argumente das Mittel menschlicher Auseinandersetzung, und in seinen Augen sind sie alles, was er braucht, um Robinson in seiner Zelle zu beschützen. Als die Meute kommt, ist Atticus bereit – im Licht einer Stehlampe, deren Kabel in die Zelle führt, um sie mit Strom zu versorgen. Ja, Atticus ist ein Held. Aber ein anderer, als man es gemeinhin erwartet hätte.
Gregory Peck und die Filmhelden
Als bekannt wird, dass Gregory Peck die Rolle des Atticus Finch spielen wird, geht ein Raunen durch die Filmwelt. Peck spielt Finch? Den stillen, eher unspektakulären Anwalt, der sich auf die Seite eines Schwarzen stellt, der eine Weiße vergewaltigt haben soll?
Das scheint so gar nicht Pecks
Rollenspektrum zu entsprechen, hat er doch bisher meist sehr viel
klarer zu Tage tretende Heldenfiguren gespielt.
Harper Lee ist sofort begeistert; sie verehrt Peck und unterstützt die Wahl des Studios.
Harper Lee ist sofort begeistert; sie verehrt Peck und unterstützt die Wahl des Studios.
Für Peck wird es die bedeutendste
Rolle seiner Karriere.
Später wird er darüber sagen: „Ich packte alles was ich hatte in diese Rolle - all meine Gefühle und alles, was ich in den bisherigen 46 Jahren meines Lebens über das Familienleben, Väter und Kinder gelernt hatte. Und natürlich meine Gefühle von Gerechtigkeit, Ungleichheit und Chancengleichheit den Schwarzen gegenüber.“
Peck selbst ist überzeugtes Mitglied der Bürgerrechtsbewegung und unterstützt Martin Luther King im Kampf um die Rechte für Schwarze.
Später wird er darüber sagen: „Ich packte alles was ich hatte in diese Rolle - all meine Gefühle und alles, was ich in den bisherigen 46 Jahren meines Lebens über das Familienleben, Väter und Kinder gelernt hatte. Und natürlich meine Gefühle von Gerechtigkeit, Ungleichheit und Chancengleichheit den Schwarzen gegenüber.“
Peck selbst ist überzeugtes Mitglied der Bürgerrechtsbewegung und unterstützt Martin Luther King im Kampf um die Rechte für Schwarze.
Er spielt den Atticus Finch mit solcher
Subtilität, das man sich immer wieder fragt, ob Peck gerade
schauspielert oder nicht. Es ist eine der bewegendsten Darstellungen
seiner Karriere; man kann sich an seiner Figur, den kleinen
Manierismen und Unbeholfenheiten, kaum sattsehen.
Schon zwischen 1946 und 1950 erhält
Peck vier Oscar-Nominierungen als Bester Hauptdarsteller, geht jedoch
immer wieder leer aus.
1963, bei der fünften Nominierung endlich, erhält er die Trophäe für seine Darstellung des Atticus Finch unter dem frenetischen Beifall seiner Kollegen.
1963, bei der fünften Nominierung endlich, erhält er die Trophäe für seine Darstellung des Atticus Finch unter dem frenetischen Beifall seiner Kollegen.
Als er 1989 den Lifetime Achievement
Award des American Film Institutes erhält, ist der Verleihung eine
Podiumsdiskussion vorangestellt. Beteiligte des Films WER DIE
NACHTIGALL STÖRT, wie etwa Mary Badham (Scout) und Harper Lee kommen
zu Wort, ebenso wie Fans des Films.
Wieder wird deutlich, wie bedeutsam der Film bis in die Moderne ist, wie sehr er die Menschen beeinflusst hat und wie oft die Menschen Atticus Finch als moralisches Vorbild nutzen, als Leitfaden für die Erziehung ihrer eigenen Kinder.
Wieder wird deutlich, wie bedeutsam der Film bis in die Moderne ist, wie sehr er die Menschen beeinflusst hat und wie oft die Menschen Atticus Finch als moralisches Vorbild nutzen, als Leitfaden für die Erziehung ihrer eigenen Kinder.
Ein Aufschrei der Fans
WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist sowohl
als Roman, wie auch als Film bis heute ein Klassiker.
Im Juli 2015 allerdings empört Harper Lee die
literarische und cineastische Fangemeinde ihres Werks: Ihr zweiter
Roman, „Gehe hin, stelle einen Wächter“ erscheint in den USA und
sorgt, erneut, für mächtig Wirbel.
Der Roman ist eine Fortsetzung zu „Wer die Nachtigall stört“ und greift die Familie Finch zwanzig Jahre nach dem Prozess um Tom Robinson auf. Wir treffen auf die mittlerweile 26-jährige Scout, die nun einen Partner hat und entdecken muss, dass dieser regelmäßig die Treffen des Ku-Klux-Klans besucht. Ebenfalls anwesend auf diesen Treffen: ihr Vater Atticus!
Der Roman ist eine Fortsetzung zu „Wer die Nachtigall stört“ und greift die Familie Finch zwanzig Jahre nach dem Prozess um Tom Robinson auf. Wir treffen auf die mittlerweile 26-jährige Scout, die nun einen Partner hat und entdecken muss, dass dieser regelmäßig die Treffen des Ku-Klux-Klans besucht. Ebenfalls anwesend auf diesen Treffen: ihr Vater Atticus!
Beide Männer in ihrem Leben erweisen
sich als glühende Verfechter der Rassentrennung.
Leser und Kritiker sind zutiefst verunsichert. Die moralische Leitfigur des Jahrhunderts, Atticus Finch, wird vor ihren Augen völlig demontiert. Kaum jemand schafft es, dem Folgeroman ein eigenständiges, unabhängiges Leben zuzubilligen – zu sehr spukt Atticus' humanistischer Geist in ihren Köpfen umher.
Das Erstaunliche dabei: Harper Lee hat
„Gehe hin, stelle einen Wächter“ noch vor „Wer die Nachtigall
stört“ geschrieben. Im Jahre 1957 will jedoch kein Verlag einen
Roman veröffentlichen, der die Rassentrennung so sehr propagiert,
denn die Rassenunruhen, die Rosa Parks ausgelöst hat, werden immer
heftiger. Man empfiehlt Harper Lee, ihre Geschichte in die 30er Jahre
zu verlegen. So beschließt Lee, die Vorgeschichte zu erzählen: „Wer
die Nachtigall stört“.
Atticus Finch gilt vielen Fans als der Inbegriff von Humanismus. Als er in der „Fortsetzung“ zum überzeugten Rassentrenner wird, ist das Entsetzen groß.
© Universal Pictures Germany GmbH |
Für Lee wird es der einzige Erfolg
bleiben. Sie veröffentlicht, abgesehen von „Gehe hin, stelle einen
Wächter“ nie wieder irgendein Buch. Zeitlebens muss sie sich mit
Gerüchten auseinandersetzen, der Roman sei autobiographisch. Dazu
gehört auch, dass Harper Lee als Kind im selben Dorf aufwächst wie
Truman Capote und mit diesem befreundet war. (Harper Lee und der Erfolg von
WER DIE NACHTIGALL STÖRT wird auch im Film CAPOTE angesprochen.) Man
munkelt, dass der „nervige“ Nachbarjunge der Finchs, der sie
während der Sommerferien besucht, Capote sein soll. Böse Zungen
behaupten daher – und weil Lee nie wieder etwas schreibt –, dass der
Roman in Wirklichkeit von Capote selbst stamme. Erst 2006 wird ein
Brief gefunden, der dieses Gerücht endgültig beseitigt, da Capote
noch vor Erscheinen des Romans einem Freund gegenüber vom Talent
seiner guten Freundin schwärmt.
Wer die Nachtigall stört ...
Im Endeffekt ist es jedoch unerheblich, welchen Weg
die Figuren der Geschichte genommen haben. Ob man „Gehe hin, stelle
einen Wächter“ in den „Kanon“ einbezieht, der Atticus Finch
umgibt, oder den „Ku-Klux-Finch“ in ein Paralleluniversum verrückt.
© Universal Pictures Germany GmbH |
WER DIE NACHTIGALL STÖRT ist als
eigenständiges Werk zu betrachten – und als solches von
unschätzbarem Wert. Es stellt einen der Leitfäden dar, nach denen
unsere Gesellschaft vermutlich nicht funktioniert, aber funktionieren
sollte. All den Zynikern, die heute behaupten, Orwells „1984“ sei
eine Warnung gewesen, keine Anleitung, denen möchte man zurufen:
„Aber WER DIE NACHTIGALL STÖRT! Da habt ihr eure Anleitung.“ Es
ist eines jener Werke von solch moralischer Reinheit, die ihre Werte ganz
einfach vermitteln – ohne Zeigefinger, ohne Druck – und eben auch
ohne Zynismus.
Es ist einer jener Filme, der seinem
eigenen Titel gerecht wird. Ein Film, der einfach nur singen will.
Schön sein will. Wir alle sollten uns die Zeit nehmen, und ihm
zuhören.
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