04.06.14

Nebraska (USA 2013)

Woody ist alt. Er ist Alkoholiker. Und beginnend dement. Da trifft ihn das Glück: Er erhält ein Schreiben mit einem Lotteriegewinn. Wenn er eine der Gewinnnummern bei den Veranstaltern in Lincoln vorzeigen kann, erhält er eine Million Dollar. Für seine Familie. Damit er etwas hinterlassen kann. Doch die wehrt sich. Seine Frau will ihn nicht fahren. Sie hält seinen Plan für Humbug. Sein Sohn ebenso. Also muss er laufen. Von Montana nach Nebraska. 1000 Kilometer.
Aber Woody ist noch etwas: stur! Und so macht er sich auf den Weg ...
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Biancas Blick:

So einfach eröffnet die Geschichte in NEBRASKA. Und natürlich muss Woody nicht laufen. Schließlich erklärt sich sein Sohn David bereit, seinen Vater – trotz aller Zweifel – nach Nebraska zu fahren.

Skurrile Familiengeschichten


Wie immer in Alexander Paynes Filmen entwickelt sich anhand eines mehr oder weniger skurrilen Ereignisses eine Familiengeschichte voller Sensibilität und Wärme.
Kam es in THE DESCENDANTS und in ABOUT SCHMIDT noch durch den Tod eines Familienmitglieds (In ABOUT SCHMIDT durch Nicholsons Frau, gespielt von June Squibb!) zu einer Aufarbeitung der Familiengeschichte und einer Selbstfindung der Figuren, entspinnt sich hier vor unseren Augen eine Vater-Sohn-Beziehung, die sich erst noch finden muss.

Angesiedelt ist die Geschichte, wie so oft in Paynes Werken, in Nebraska. Karg. Einsam.
Es ist die Zeit nach der großen Wirtschaftskrise, was den Film stetig begleitet, in Untertönen mitschwingt und die Tristesse und Melancholie des Films unterstreicht.
Die Welt scheint von alten Menschen bevölkert, die nichts zu tun zu haben außer sich mit einem Plastikstuhl an den Straßenrand zu setzen und den nicht vorbeifahrenden Autos zuzusehen. Oder sich allabendlich in der einzigen Kneipe des Ortes volllaufen zu lassen. Oder in Erinnerungen zu leben, denen sie wahlweise ausweichen oder in denen sie schwelgen. Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit. An einstige Träume und verpasste Chancen auf ein besseres Leben.
Die einzigen jungen Leute die auftauchen sind arbeitslos, gelangweilt und wissen mit sich nichts anzufangen außer in den Fernseher zu starren.

Payne dreht den Film in Schwarzweiß mit einer Digitalkamera, zunächst unter Protest der Paramount. Doch als erste Testvorführungen die Kameraarbeit loben, gibt auch das Studio zu, dass der Film nicht anders gedreht werden kann.

Makellose Schauspieler in kargen Dialogen


Bruce Dern spielt Woody mit einer Zähigkeit und gleichzeitig einer Zerbrechlichkeit, dass man als Zuschauer nicht anders kann, als ihm zu wünschen, er möge für sich und seine Familie das Geld gewinnen und seine Reise ans Ziel führen. Denn der Film driftet nicht in eine „der Weg ist das Ziel“ Erzählung ab. Für Woody geht es ausschließlich um das Erreichen seines Ziels.
Dass er sich dabei ein Stück selbst wiederfindet, ist für ihn vielleicht gar nicht spürbar, geschweige denn wichtig. Der Film zeigt hier ein wunderbares Understatement. Anstatt aus jeder Pore „Entwicklung, Entwicklung!!!“ zu schreien, geschieht sie einfach, beinahe nur für den Zuschauer sichtbar.
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Dabei waren für die schwierige Rolle des Woody zunächst ganz andere im Gespräch: Jack Nicholson etwa (der bereits in Paynes Drama ABOUT SCHMIDT glänzte), sowie Robert Duvall und Gene Hackman.
Wenn man bedenkt, dass Bruce Dern mit 70 Jahren noch Marathons gelaufen ist, erkennt man, wie grandios er die Rolle des Woody verkörpert. Mit falschen Zähnen und einer Brille, die seine Augen doppelt so groß erscheinen lässt, dem breitbeinig-gebeugten, humpelnden Gang, erscheint vor uns eine Figur, die vom Leben gezeichnet und ermüdet ist. Vollkommen zu Recht wird Dern dafür 2014 für den Oscar nominiert, kann sich am Ende aber nicht gegen Mathew McConaughey in DALLAS BUYERS CLUB durchsetzen.

Sein Sohn David, gespielt vom für Kinogänger eher unbekannten Will Forte, macht hingegen eine deutliche Wandlung durch. Ist er seinem Vater zunächst noch emotional fremd und nicht zugewandt, scheint er ihn auf dieser Reise erst wirklich kennenzulernen. Er entdeckt ihn und sein Leben völlig neu und anders. Er schafft es sogar, sich mit seinem Vater über die schweren Zeiten auszusprechen, wenngleich das nur in eingeschränktem Rahmen möglich ist, denn Woody ist alles andere als gesprächsbereit. Oder überhaupt allzu gesprächig. Durch David erfährt man von den Stationen der Familiengeschichte, durch Woody sehen und fühlen wir deren Vergangenheit und Melancholie.

Mit der Besetzung von Will Forte hat Payne alles richtig gemacht. Der SATURDAY NIGHT LIVE Komiker (Dessen Bruder mit Bob Odenkirk ebenfalls von einem Komiker gespielt wird) passt sich perfekt in das Ambiente des Films ein. Er spielt die Traurigkeit und Trostlosigkeit berührend, mit einem Hauch von Hilflosigkeit. Die stille Wandlung, die er emotional durchlebt, spielt er wunderbar subtil mit zurückhaltender Mimik und Gestik.
Forte stach beim Casting unter anderem Bryan Cranston, Matthew Modine und Ashley Judd aus.
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Herausragend und traurig sind die kargen Dialoge, die den Film durchziehen wie vereinzelte Grasbüschel die Landschaft. Sie sind zutiefst pragmatisch und zeigen die Tristheit und Eintönigkeit des Lebens der im Film gezeigten Menschen. So kommt es kurz vorm Ziel in Lincoln zu einer Familienzusammenführung nach fast 30 Jahren. Dennoch haben sich die Familienmitglieder so gut wie nichts zu erzählen. Zu unspektakulär scheinen die Leben verlaufen zu sein. So sitzt man gemeinsam vor dem Fernseher und schweigt oder unterhält sich über Nichtigkeiten. Etwa die Dauer der bisherigen Fahrt oder Automarken. Immer wieder sind es Woodys zielgerichtete, knappe Kommentare, die deutlich machen, dass hier Menschen gezeigt werden, die nichts zu sagen haben, weil sie es nicht gewohnt sind, zu reden.

Doch als die Kleinstadt und die Familie erfahren, dass Woody ein Millionengewinn in Lincoln erwartet, wendet sich das Blatt. Vorbei ist es mit der schweigsamen Freundlichkeit. Plötzlich scheint Woody jedem Geld zu schulden, das jeder bereits im Voraus mehr oder weniger vehement einfordert.
Die vermeintliche Idylle zerfällt und entblößt einen wahren, viel tiefer liegenden Familienalbtraum.
Payne erschafft eine Welt voller seltsam wirkender Menschen; auf der einen Seite liebenswert, auf der anderen Seite abstoßend.

NEBRASKA hat 2013 in Cannes Premiere. Anschließend wird Bruce Dern die Goldene Palme regelrecht hinterhergeworfen. Zu großartig ist sein Spiel. Zu unterhaltsam und anrührend der Film. Er wird frenetisch gefeiert, bejubelt und hochgelobt.

Marcos Blick:

NEBRASKA setzt der Schauspielkunst ein Denkmal!

Es ist ein ruhiger, stiller Film, der von Leid und emotionaler Kälte erzählt, und dabei Freude und ein Gefühl von Wärme verbreitet. Ein Drama als Feel-Good-Movie! Viel davon ist dem Drehbuch geschuldet, das mit knappen Strichen kräftige Figuren zeichnet. Den Rest liefern die bis ins Letzte hervorragend aufspielenden Darsteller. Doch sie alle werden überstrahlt von Bruce Dern, der sich in seine Rolle wirft, als hinge sein Leben davon ab. Dabei ist das nur seine übliche Art zu spielen.

Der unsichtbare Psychopath


Bruce Dern ist einer jener seltenen Stars, der seit mittlerweile 54 Jahren ohne Unterbrechung drei Filme im Jahr dreht, und den man trotzdem kaum kennt. Einer jener Künstler, der, ohne Übertreibung, einfach alles spielen kann!
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Zwar beginnt er seine Karriere, wie viele kräftige, gutaussehende Kerle zu jener Zeit, mit Western. Doch schon hier zeigt sich schnell seine Wandelbarkeit. Nach einigen Rollen als Held und Bösewicht tritt er in der beliebten Komödie AUCH EIN SHERIFF BRAUCHT MAL HILFE auf. Und spätestens ab diesem Zeitpunkt finden sich einfach sämtliche Genres in seinem Werk. Vielleicht liegt gerade hier eines seiner Probleme. Denn jede seiner Rollen wird getragen von Derns Talent und einer Spiellust, die ihn gänzlich in seiner Rolle aufgehen lässt. Und immer wieder sind das auch Hauptrollen. Selbst in einigen der großen Filme der letzten 40 Jahre.

Ob nun LAUTLOS IM WELTRAUM, SCHWARZER SONNTAG, PAT GARRETT JAGT BILLY THE KID, DER GROßE GATSBY, HÄNGT IHN HÖHER, MARNIE, FAMILIENGRAB, MEINE TEUFLISCHEN NACHBARN, MISSION: ROHR FREI!, LAST MAN STANDING, SMALL SOLDIERS, MONSTER, DAS GEISTERSCHLOSS oder DJANGO UNCHAINED – Bruce Dern begeistert in Komödien, Actionfilmen, Dramen, Thrillern, Animationsfilmen, im Fernsehen und im Theater, und wohl jeder Filmfreund hat ihn schon einmal gesehen. Und dennoch fehlt ihm dieses letzte Quentchen Markantheit, ihn auf Anhieb zu erkennen.

So spielt er in drei der erfolgreichsten Serien ihrer Zeit mit, in AUF DER FLUCHT, BIG VALLEY und RAUCHENDE COLTS. In allen taucht er innerhalb weniger Jahre vier bis fünfmal auf, und immer in unterschiedlichen Rollen. Das ist zwar zu jener Zeit Standard, wirkt aber dennoch verblüffend und zeigt, wie wandelbar Dern bereits in jungen Jahren spielt.
Dennoch bestimmen in den Sechzigern vor allem Psychos, Mörder, Sadisten, Motorrad-Gangster und ähnliches Kroppzeug seine Rollen. In THE INCREDIBLE TWO-HEADED TRANSPLANT spielt er einen exaltierten Wissenschaftler, der einem großgewachsenen Mann mit dem Geist eines Achtjährigen den Kopf eines verrückten Serienkillers auftransplantiert!!

Nach dieser Dekade am unteren Ende des künstlerischen Spektrums erreicht er seinen Zenit in den Siebzigern. So darf er in DIE COWBOYS John Wayne erschießen – mit einer Kugel in den Rücken! Er spielt die Hauptrolle in Hitchcocks letztem Film FAMILIENGRAB. Er erhält eine Golden Globe Nominierung und viel Lob für DER GROßE GATSBY. Für seine Rolle als Vietnam-Heimkehrer an der Seite von Jane Fonda und Jon Voight in SIE KEHREN HEIM erhält er 1979 sogar eine Oscarnominierung. Doch was er auch tut, der große Durchbruch stellt sich nicht ein!
Weshalb, ist schwer zu sagen. Womöglich fehlt die Rolle mit der entscheidenden Kante, der letzte Hauch von Manierismus, um im Gedächtnis zu bleiben, vielleicht ist er einfach nie der Star in vorderster Reihe. Sicher ist nur, dass es nach rund 140 Auftritten in Film und Fernsehen ein kleines Drama voller Herz und Wärme schafft, ihn noch einmal in den Fokus zu rücken. In NEBRASKA kann er in vorderster Reihe zeigen, welche Fähigkeiten er mitbringt. Womit er sich all die Jahre knapp unter der Oberfläche des Durchbruchs gehalten hat.
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Gewinner ohne Preis


Und er löst ein spannendes Rennen um den Oscar aus.

Denn bisher ist Bruce Dern nur für SIE KEHREN HEIM für eine Nebenrolle nominiert worden. Nun wird er mit NEBRASKA als heißester Konkurrent für Matthew McConaughey gehandelt. Als er dem unterliegt, hat er einen anderen Megastar aber längst geschlagen! Denn nicht nur Bruce Dern liefert 2013 einen kleinen, oscarreifen Film ab, auch Robert Redford empfiehlt sich mit ALL IS LOST für die begehrte Trophäe. Wie Dern ist auch Redford als Schauspieler bisher von der Academy nahezu vollkommen ignoriert worden. (Die beiden haben bereits 1974 in DER GROßE GATSBY um Mia Farrow gekämpft – und viele Kritiker, darunter Roger Ebert, waren damals der Ansicht, der Film wäre besser geworden, hätten die beiden ihre Rollen getauscht.)
Hier aber kann Dern sich gegen Redford durchsetzen, über den er einmal sagt, er sei neben Jack Nicholson sein bester Freund! Oscar-Experten bewerten die Situation später so, dass die Academy nur einen Altmeister ehren wollte oder konnte, und ihre Wahl auf Dern gefallen sei. (Redfords ALL IS LOST wird, zu Unrecht, mit einer einzigen Nominierung für das Sound Design vollkommen abgestraft!)

Womöglich ist NEBRASKA am Ende einfach der bessere Film. Vielleicht brennt Dern einen Grad heißer. In jedem Fall ist seine Figur ungewöhnlicher. Denn auch wenn Dern stets wandlungsfähig war, spielte er mit Vorliebe den kantigen, kernigen Texaner, den verrückten Soldaten, den Terroristen und irren Psycho. Es ist erstaunlich, dass ihm der eisenharte, korrupte Sheriff in LAST MAN STANDING und der sadistische Sklavenhalter in DJANGO UNCHAINED ebenso auf den Leib geschneidert scheinen wie der verwirrte, vom Leben gezeichnete Alkoholiker in NEBRASKA.

Der ideale Bruder


Das wiederum zeichnet die Filme Alexander Paynes aus, der es immer wieder schafft, ruhige, undramatische Familiengeschichten zu erzählen und ihnen Spannung zu verleihen, indem er sie auf der Grenze zur Absurdität schweben lässt, ohne je ganz hinüberzuschreiten.

NEBRASKA bietet einen Rückblick auf das Leben, der vollkommen unsentimental inszeniert ist und gerade dadurch anrührt. Dafür nutzt er auch nahezu groteske Verschiebungen der Rollenklischees. So spielen mit Bruce Dern, Stacy Keach und Rance Howard drei Ikonen des Hard-Boiled Kinos mit, die allesamt verweichlicht, feige und verängstigt wirken, während ausgerechnet June Squibb, die vornehmlich in ruhigen Dramen und romantischen Filmen mitgespielt hat, einmal ihre harte Seite präsentieren darf.
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Besonders Rance Howard wirkt als Besetzung für Bruce Derns Bruder wie geschnitzt. Denn wie Dern weist Howard eine Werkliste auf, die mittlerweile über 250 Film- und Fernsehauftritte aufweist. Wie Derns Karriere begann Howards mit Western und bietet eine gigantische Bandbreite gespielter Rollen. Wie Dern spielt Howard in sämtlichen Genres, von Dramen über Komödien zu Science Fiction, ohne jemals ein Jahr auszusetzen. Wie Dern kann er nicht mehr als eine einsame Emmy Nominierung vorweisen.
Beide spielen immer wieder Sheriffs oder Militärcharaktere, beide haben einen vergleichbaren harten, kantigen Look. Und beide werden vom Ruhm ihrer Kinder in den Schatten gestellt.

Zwar ist es um Bruce Derns Tochter Laura Dern nach deren gigantischen Erfolgen der späten Achtziger und schließlich in den Neunziger Jahren mittlerweile ruhiger geworden. Rance Howards Sohn Ron Howard gilt aber bis heute als einer der talentiertesten Mainstreamregisseure neben Steven Spielberg und liefert 2013 mit RUSH einen sehenswerten Film ab.

Kurz gesagt: Beide, Bruce Dern wie Rance Howard, sind unsichtbare Giganten der Filmgeschichte.

Ein Feel-Good-Denkmal


NEBRASKA setzt beiden ein Denkmal und tut gut daran, sich auf Bruce Derns Spiel zu konzentrieren. Man muss es so sagen: In einem Schwarz-Weiß Film in Nebraskas karger Landschaft gibt es wenig, das von Derns Spiel ablenkt. Doch gerade das ist die Stärke des Films. Denn allein Bruce Dern auf dem Weg zu seinem Lotteriegewinn zuzuschauen bringt mehr Spaß und Vergnügen, als viele Blockbuster mit den besten CGI Effekten in 3D auf den Bildschirm werfen können.
Damit ist NEBRASKA auch ein Denkmal für die Schauspielkunst. Für das reine, das pure Vergnügen, das ein Mime wie Bruce Dern mit nichts als seinem Talent und seinem Handwerk auf die Leinwand bringen kann.

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