23.02.14

All is lost (USA 2013)

Der Segler ist gefangen auf seiner Rettungsinsel. Er hat nur noch wenige Konserven. Das Wasser befindet sich in einem Kanister, er muss es vorsichtig einteilen. Seine Lippen sind ausgetrocknet, seine Haut scheint aus Papier zu sein. Er muss etwas trinken. Er nimmt den Kanister, den er noch kurz zuvor aufgefüllt und auf die Rettungsinsel verfrachtet hat. Nimmt einen Schluck, sein Gesicht verzieht sich und er spuckt es angewidert wieder aus. Er schaut sich den Kanister an und sieht, dass er undicht ist, dass Salzwasser eingelaufen ist.
Dann formt der Segler ein Wort und kämpft mit sich, es auszusprechen. Erst tut er es ganz leise. Dann laut, schreiend: „FUCK!“
© SquareOne/Universum Photo: Daniel Daza


- Spoileralarm -
Der folgende Text kann Details zur Handlung enthalten

Biancas Blick:

Ab 23.5. auf DVD und BluRay
Hatte ich richtig gehört? Hatte Redford geflucht? Ich war baff, denn obwohl ich fast alle seine Filme mit ihm als Darsteller gesehen habe, konnte ich mich nicht an ein solch (für seine Verhältnisse) emotionsgeladenes Schimpfwort erinnern.

Die Geschichte ist schnell erzählt: ein Segler erlebt eine Havarie mit seiner Yacht und versucht über wenige Tage, allein im Indischen Ozean zu überleben. Die Yacht sinkt schließlich, er klettert in eine Rettungsinsel, sammelt kondensiertes Wasser zum Überleben und verbraucht die letzten Konserven.
Die Frage ist: wird er gerettet? Wird er überleben?

Einer hat sich getraut!


J.C. Chandor hat sich als erster Independent - Regisseur (MARGIN CALL) getraut, Robert Redford um seine Mitwirkung  als Schauspieler zu bitten. Mitten auf dem Sundance Filmfestival! Und Redford? Er hat seit Jahren darauf gewartet! Sich gewundert, weshalb ihn niemand anspricht im Rahmen seines ins Leben gerufenen Festivals. Bei dem es doch gerade darum geht, sich selbst vorzustellen, sein filmisches Werk – und im Zuge dessen Kontakte zu den etablierten Künstlern zu knüpfen.
Redford sagte sofort zu, ohne das Drehbuch gelesen zu haben.

Und? Hat es sich gelohnt?

Unbedingt!
Redford liefert seine wohl beste schauspielerische Leistung ab, vielleicht zu vergleichen mit seinem BRUBAKER (USA 1980). Er stemmt den Film allein, ohne Anspielpartner mit nur 5 Zeilen Text zu Beginn des Films, die aber im Off gesprochen werden. Es ist darüber hinaus eine sehr physische Rolle, die dem inzwischen fast 80-Jährigen einiges abverlangt.
Redford spielt mit seinem ihm eigenen Understatement, das genau zeichnet ihn und seine Schauspielkunst seit nunmehr 52 Jahren aus.

Kritiker des Streifens und des Plots werfen dem Film vor, dass der „erfahrene“ Segler grob dilettantische Fehler mache und es viele nautische Fehler gebe.


© SquareOne/Universum Photo: Richard Foreman
Ich glaube nicht, dass der Mann ein erfahrener Segler ist, eher ein Segler, der glaubt, segeln zu können, es in ruhigen Gewässern auch beherrscht. Doch in dieser bedrohlichen Situation zeigt er im Handeln und Denken Schwächen und Unbedachtheiten, die ihn mehrmals in Lebensgefahr bringen.

Ein moderner DER ALTE MANN UND DAS MEER?


ALL IS LOST wurde im Vorfeld oft mit dem Spencer Tracy – Klassiker DER ALTE MANN UND DAS MEER (USA 1958) verglichen.
Zu recht?
Inhaltlich nur am Rande.
Der eine Mann segelt, um sich selbst letztmalig etwas zu beweisen, indem er den Fang seines Lebens macht und endet dann in der Suche nach sich selbst, basierend  auf Hemingways Roman.
Der andere aktuelle Film, besitzt diese Tiefe nicht, erreicht sie auch nie. Vielmehr geht es um einen Überlebenskampf in einer stetig prekärer werdenden Situation.

Nein, das Format des Klassikers erreicht ALL IS LOST nicht, ist aber ein sehr unterhaltsamer, in den Handlungen nicht immer nachvollziehbarer und stimmiger Film mit einem wunderbaren Robert Redford!


Marcos Blick:

Zugegebenermaßen: Wenn ein Film daherkommt, der es sich zur Aufgabe macht, mit nur einem Schauspieler und quasi null Dialog auszukommen, dann entfernt man sich derart weit von allem, was üblicherweise im Kino läuft, dass man entweder eine tiefe Metapher oder ein kompliziertes Experiment versucht.

Ein reiner Film


Dabei macht ALL IS LOST vieles richtig! Er ist zu keiner Zeit langweilig. Persönlich halte ich viel davon, dass ein Film auch mit filmischen Mitteln erzählt, also vor allem bildlich. Die Erzählung mithilfe des Dialogs entstammt dem Theater. Dem Theater ist bildliches Erzählen völlig fremd. Wer Theaterstücke schreibt, schreibt Dialoge. Dialogfilme sind daher im Kern meist nur abgefilmtes Theater. (Ich bleibe bei meiner Theorie, dass nahezu jeder Tarantino-Film danach schreit, auf die Theaterbühne übertragen zu werden!)

Reiner Film kann bildlich funktionieren. In seiner Frühzeit hatte er als Stummfilm gar keine andere Möglichkeit. Ich halte gerade die sehr bildlichen Filme oft für die stärksten. Viele Klassiker der 70er, etwa BULLIT und FRENCH CONNECTION, und fast das gesamte Werk von Sergio Leone kommen über lange Passagen ganz ohne Dialog aus. Selbst ein Film wie TERMINATOR hat kaum Dialog, solange Kyle Reese nicht die Grundbedingungen der Geschichte erklärt. Und Peter Jacksons KING KONG wirkt am Ende auch deshalb so stark, weil es in den letzten 40 Minuten kaum noch Dialoge nutzt.

Aber selbst hier beschränkt sich ALL IS LOST weiter und verzichtet sogar fast vollständig auf Musik. Und die war schon in der Stummfilmära der größte Emotionsträger.

Mit dem Nötigsten auskommen – im Film und darüber hinaus


Der Film reduziert sich also bis aufs Letzte: Das pure, reine Bild. Da passt kaum ein Schauspieler besser als Robert Redford, der seine Karriere auf sein reduziertes Spiel aufgebaut hat.

Aber ist das nun Experiment oder Metapher?

Auf jeden Fall ein Experiment. Noch dazu ein gelungenes. Denn der Film funktioniert ja. Er lässt einen mit vielem allein. Die Hauptfigur ist nur schwammig zu greifen, am Ende des Films wissen wir weiterhin fast nichts über sie. Wie auch, wenn Charakterzeichnung vor allem über Interaktion funktioniert?
Trotzdem ist der Überlebenskampf des unbekannten Seglers spannend und unterhaltend.

Wer mag, kann darüber hinaus auch sehr gut eine Metapher in dem Film sehen. Gerade weil er sich selbst so reduziert, kann man so viel hineininterpretieren. Je weißer das Blatt, desto mehr lässt sich darauf schreiben.

Ist der Film nun eine Metapher über das Leben? Unsere Zeit? Den Kapitalismus? Spiegelt die Reduktion der Möglichkeiten und Vorräte des Seglers nur die Reduktion des Films wieder? (Was eine spannende Meta-Interpretation wäre – der Filmemacher gesteht sich selbst so wenig zu wie seiner Hauptfigur!)

© SquareOne/Universum Photo: Richard Foreman 
Hier wird vermutlich das Hauptproblem des Films deutlich: Dass er so wenig liefert, ermutigt nicht nur dazu, die großen Leerstellen auszufüllen, den Film also zu interpretieren, es erzwingt diese Interpretation nahezu. Hier funktioniert der Film wie ein Rohrschach-Test: Jeder kann darin sehen, was immer die Leerstellen für sein Empfinden sinnvoll ausfüllt.

Für Menschen, die nichts davon halten, einen Film selbst mit Inhalt zu füllen, ist ALL IS LOST also nicht geeignet. Und aufgrund der Menge, die er an Eigenarbeit einfordert, dürfte er allenfalls ein Nischenpublikum ansprechen.

In Hitchcocks Schatten


Insgesamt bewegt sich der Film sicher im Fahrwasser von Alfred Hitchcock. Der war nämlich, neben seinen Fähigkeiten als Suspense-Regisseur, vor allem ein Experimentator. Für ihn war die Arbeit an einem Film immer die Arbeit in einem Laboratorium. Jeder Hitchcock Film ist an erster Stelle ein Experiment. Kaum ein Filmemacher ging in jedem Film wieder und wieder neue Wege, um die Grenzen der Kunstform auszuloten. Deshalb ähnelt kaum ein Hitchcock dem anderen. Und auch deshalb sind sie so in Erinnerung geblieben.

ALL IS LOST ist eine würdige Fortführung dieser Tradition. Ein Grenzereignis am Rande des filmisch Machbaren. Ein Testballon in unbekannte Gebiete. Eine Frage auf die Antwort: „So weit kann Film gehen.“

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