Der Segler ist
gefangen auf seiner Rettungsinsel. Er hat nur noch wenige Konserven. Das Wasser
befindet sich in einem Kanister, er muss es vorsichtig einteilen. Seine Lippen
sind ausgetrocknet, seine Haut scheint aus Papier zu sein. Er muss etwas
trinken. Er nimmt den Kanister, den er noch kurz zuvor aufgefüllt und auf die
Rettungsinsel verfrachtet hat. Nimmt einen Schluck, sein Gesicht verzieht sich
und er spuckt es angewidert wieder aus. Er schaut sich den Kanister an und sieht,
dass er undicht ist, dass Salzwasser eingelaufen ist.
Dann formt der Segler
ein Wort und kämpft mit sich, es auszusprechen. Erst tut er es ganz leise. Dann
laut, schreiend: „FUCK!“
© SquareOne/Universum Photo: Daniel Daza |
- Spoileralarm -
Der folgende Text kann Details zur Handlung enthalten
Ab 23.5. auf DVD und BluRay |
Die Geschichte ist schnell erzählt: ein Segler erlebt eine
Havarie mit seiner Yacht und versucht über wenige Tage, allein im Indischen
Ozean zu überleben. Die Yacht sinkt schließlich, er klettert in eine
Rettungsinsel, sammelt kondensiertes Wasser zum Überleben und verbraucht die
letzten Konserven.
Die Frage ist: wird er gerettet? Wird er überleben?
Einer hat sich getraut!
J.C. Chandor hat sich als erster Independent - Regisseur
(MARGIN CALL) getraut, Robert Redford um seine Mitwirkung als Schauspieler zu bitten. Mitten auf dem
Sundance Filmfestival! Und Redford? Er hat seit Jahren darauf gewartet! Sich
gewundert, weshalb ihn niemand anspricht im Rahmen seines ins Leben gerufenen
Festivals. Bei dem es doch gerade darum geht, sich selbst vorzustellen, sein
filmisches Werk – und im Zuge dessen Kontakte zu den etablierten Künstlern zu
knüpfen.
Redford sagte sofort zu, ohne das Drehbuch gelesen zu haben.
Und? Hat es sich gelohnt?
Unbedingt!
Redford liefert seine wohl beste schauspielerische Leistung
ab, vielleicht zu vergleichen mit seinem BRUBAKER (USA 1980). Er stemmt den
Film allein, ohne Anspielpartner mit nur 5 Zeilen Text zu Beginn des Films, die
aber im Off gesprochen werden. Es ist darüber hinaus eine sehr physische Rolle,
die dem inzwischen fast 80-Jährigen einiges abverlangt.
Redford spielt mit seinem ihm eigenen Understatement, das
genau zeichnet ihn und seine Schauspielkunst seit nunmehr 52 Jahren aus.
Kritiker des Streifens und des Plots werfen dem Film vor,
dass der „erfahrene“ Segler grob dilettantische Fehler mache und es viele
nautische Fehler gebe.
Ich glaube nicht, dass der Mann ein erfahrener Segler ist,
eher ein Segler, der glaubt, segeln zu können, es in ruhigen Gewässern auch
beherrscht. Doch in dieser bedrohlichen Situation zeigt er im Handeln und
Denken Schwächen und Unbedachtheiten, die ihn mehrmals in Lebensgefahr bringen.
Ein moderner DER ALTE MANN UND DAS MEER?
ALL IS LOST wurde im Vorfeld oft mit dem Spencer Tracy –
Klassiker DER ALTE MANN UND DAS MEER (USA 1958) verglichen.
Zu recht?
Inhaltlich nur am Rande.
Der eine Mann segelt, um sich selbst letztmalig etwas zu
beweisen, indem er den Fang seines Lebens macht und endet dann in der Suche
nach sich selbst, basierend auf
Hemingways Roman.
Der andere aktuelle Film, besitzt diese Tiefe nicht,
erreicht sie auch nie. Vielmehr geht es um einen Überlebenskampf in einer
stetig prekärer werdenden Situation.
Nein, das Format des Klassikers erreicht ALL IS LOST
nicht, ist aber ein sehr unterhaltsamer, in den Handlungen nicht immer
nachvollziehbarer und stimmiger Film mit einem wunderbaren Robert Redford!
Marcos Blick:
Zugegebenermaßen: Wenn ein Film daherkommt, der es sich zur Aufgabe macht,
mit nur einem Schauspieler und quasi null Dialog auszukommen, dann entfernt man
sich derart weit von allem, was üblicherweise im Kino läuft, dass man entweder
eine tiefe Metapher oder ein kompliziertes Experiment versucht.
Ein reiner Film
Dabei macht ALL IS LOST vieles richtig! Er ist zu keiner Zeit
langweilig. Persönlich halte ich viel davon, dass ein Film auch mit filmischen
Mitteln erzählt, also vor allem bildlich. Die Erzählung mithilfe des Dialogs
entstammt dem Theater. Dem Theater ist bildliches Erzählen völlig fremd. Wer
Theaterstücke schreibt, schreibt Dialoge. Dialogfilme sind daher im Kern meist
nur abgefilmtes Theater. (Ich bleibe bei meiner Theorie, dass nahezu jeder Tarantino-Film
danach schreit, auf die Theaterbühne übertragen zu werden!)
Reiner Film kann bildlich
funktionieren. In seiner Frühzeit hatte er als Stummfilm gar keine andere
Möglichkeit. Ich halte gerade die sehr bildlichen Filme oft für die stärksten. Viele
Klassiker der 70er, etwa BULLIT und FRENCH CONNECTION, und fast das gesamte
Werk von Sergio Leone kommen über lange Passagen ganz ohne Dialog aus. Selbst
ein Film wie TERMINATOR hat kaum Dialog, solange Kyle Reese nicht die
Grundbedingungen der Geschichte erklärt. Und Peter Jacksons KING KONG wirkt am
Ende auch deshalb so stark, weil es in den letzten 40 Minuten kaum noch Dialoge
nutzt.
Aber selbst hier beschränkt sich ALL IS LOST weiter und verzichtet sogar
fast vollständig auf Musik. Und die war schon in der Stummfilmära der größte
Emotionsträger.
Mit dem Nötigsten auskommen – im Film und darüber hinaus
Der Film reduziert sich also bis aufs Letzte: Das pure, reine Bild. Da
passt kaum ein Schauspieler besser als Robert Redford, der seine Karriere auf
sein reduziertes Spiel aufgebaut hat.
Aber ist das nun Experiment oder Metapher?
Auf jeden Fall ein Experiment. Noch dazu ein gelungenes. Denn der Film
funktioniert ja. Er lässt einen mit vielem allein. Die Hauptfigur ist nur
schwammig zu greifen, am Ende des Films wissen wir weiterhin fast nichts über
sie. Wie auch, wenn Charakterzeichnung vor allem über Interaktion funktioniert?
Trotzdem ist der Überlebenskampf des unbekannten Seglers spannend und
unterhaltend.
Wer mag, kann darüber hinaus auch sehr gut eine Metapher in dem Film
sehen. Gerade weil er sich selbst so
reduziert, kann man so viel hineininterpretieren. Je weißer das Blatt, desto mehr
lässt sich darauf schreiben.
Ist der Film nun eine Metapher über das Leben? Unsere Zeit? Den
Kapitalismus? Spiegelt die Reduktion der Möglichkeiten und Vorräte des Seglers nur
die Reduktion des Films wieder? (Was eine spannende Meta-Interpretation wäre –
der Filmemacher gesteht sich selbst so wenig zu wie seiner Hauptfigur!)
© SquareOne/Universum Photo: Richard Foreman |
Hier wird vermutlich das Hauptproblem des Films deutlich: Dass er so
wenig liefert, ermutigt nicht nur dazu, die großen Leerstellen auszufüllen, den
Film also zu interpretieren, es erzwingt diese Interpretation nahezu. Hier
funktioniert der Film wie ein Rohrschach-Test: Jeder kann darin sehen, was
immer die Leerstellen für sein Empfinden sinnvoll ausfüllt.
Für Menschen, die nichts davon halten, einen Film selbst mit Inhalt zu
füllen, ist ALL IS LOST also nicht geeignet. Und aufgrund der Menge, die er an
Eigenarbeit einfordert, dürfte er allenfalls ein Nischenpublikum ansprechen.
In Hitchcocks Schatten
Insgesamt bewegt sich der Film sicher im Fahrwasser von Alfred
Hitchcock. Der war nämlich, neben seinen Fähigkeiten als Suspense-Regisseur,
vor allem ein Experimentator. Für ihn war die Arbeit an einem Film immer die
Arbeit in einem Laboratorium. Jeder Hitchcock Film ist an erster Stelle ein
Experiment. Kaum ein Filmemacher ging in jedem Film wieder und wieder neue
Wege, um die Grenzen der Kunstform auszuloten. Deshalb ähnelt kaum ein
Hitchcock dem anderen. Und auch deshalb sind sie so in Erinnerung geblieben.
ALL IS LOST ist eine würdige Fortführung dieser Tradition. Ein
Grenzereignis am Rande des filmisch Machbaren. Ein Testballon in unbekannte
Gebiete. Eine Frage auf die Antwort: „So weit kann Film gehen.“
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