Von allen Gangsterepen, die Martin Scorsese gedreht hat, ist
CASINO vermutlich nicht das populärste. Dafür ist es sein eindringlichstes. Und
das hat einen guten Grund. Denn im Kern erzählt Scorsese hier ein
mythologisches Götterdrama, wie es schon vor Tausenden vor Jahren von
wandernden Erzählern einem staunenden Publikum präsentiert wurde.
Marcos Blick:
Scorseses reifstes Epos
Scorsese ist vor allem für drei Gangsterepen bekannt. Sein
erstes, GOODFELLAS, bildet eine Art Prototyp des modernen Gangsterepos'. Früher
bestand das Genre eher aus dem Film Noir und erzählte Kriminalgeschichten aus
der Sicht der Gangster. DER MALTESER FALKE oder DER DRITTE MANN wären gute
Beispiele für frühe Gangsterfilme. Dann revolutionierte DER PATE das Genre. Mit
einem Mal ging es um das Leben der Gangster untereinander. Die Polizei wurde
komplett ausgeklammert. Allerdings erzählten DER PATE und seine Folgefilme wie
SCARFACE vor allem übersteigerte Egotrips: Der Aufstieg eines Mannes an die königliche
Spitze der Unterwelt.
GOODFELLAS führte eine Neuerung ein: der Aufstieg als
Gruppe, als eng verzahnter Klüngel durch die Reihen der Mafia. Vito Corleone und
Tony Montana waren noch patriarchalische Herrscher. Sie regierten ihr Reich von
oben mit Gewalt und aus Machtgier. GOODFELLAS zeichnete das Gangsterleben plötzlich
als Arbeitsalltag. Hier wurde ein alternativer Lebensweg gefeiert, der zu
Reichtum und Macht führte. Dabei war man jedoch stets Teil einer Firma. Eines
größeren Betriebs. Und hatte sich an dessen Regeln zu halten.
So furios Scorsese das Gangsterepos mit GOODFELLAS
revolutionierte, so furios scheiterte sein späterer Versuch mit GANGS OF NEW
YORK. Hier bewies er vor allem, dass ein Gangsterfilm nicht zu funktionieren
scheint, wenn er vor den 1920er Jahren spielt. In allen vorhergehenden
Zeiträumen scheint es einen Western zu brauchen.
Dazwischen drehte er aber noch CASINO. Der muss sich viele
Vergleiche mit GOODFELLAS gefallen lassen. Nicht zuletzt durch die 3-stündige Laufzeit,
eine ähnliche Grundgeschichte, den sentimentalen Rückblick auf eine Epoche und
die Tatsache, dass Joe Pesci in beiden Filmen die nahezu gleiche Rolle spielt.
Tatsächlich dient das Gangstergenre in CASINO aber nur dazu,
eine griechische, eine göttliche Tragödie zu erzählen.
Die göttliche Tragödie
Wie gut sich die Stilmittel der griechischen Tragödie und
der Gangsterfilm kombinieren lassen, bewies Brian De Palma zwei Jahre zuvor
bereits mit CARLITO’S WAY. CASINO überspitzt die Verschmelzung aber zum Äußersten.
Vor allem gelingt ihm das durch eine vollkommen losgelöste
Erzählperspektive. Wer den Film startet, wird augenblicklich in eine fast schon
altmodische Exposition geworfen: Aus dem Off erklärt die allwissende Stimme von
„Ace“ Rothstein das Casinosystem in Las Vegas. Dann die Verbindungen der Mafia.
Die Hintergründe der Figuren und deren Aufstieg in das Glücksspielsystem.
Wer an dieser Stelle einmal auf den Timer schaut, wird
feststellen, dass der Film bereits in der 45. Minute läuft.
Und wer aufmerksam bleibt, wird bemerken, dass der Film bis
zum Schluss diesen Stil einer nur vermeintlichen Exposition beibehält.
Tatsächlich wechseln die Stimmen aus dem Off. Sämtliche Figuren erzählen
getrennt die Geschichte. Direkte Dialoge innerhalb des Films sind
verhältnismäßig selten. Und dann dienen sie der Vertiefung der zuvor aus dem
Off geschilderten Verhältnisse.
Erzählen tut also nicht der Film, sondern dessen Figuren.
Sie lassen uns teilhaben an ihrer Welt.
Und das ist eine göttliche Welt. Das titelgebende Casino,
das „Tangiers“, ist ein in sich geschlossener Olymp. Hier leben die Figuren
losgelöst vom Rest der Welt. Alle anderen Charaktere bleiben nahezu gesichts-
und namenlos. Sie dienen vor allem dazu, den göttlichen Charakter der Figuren
zu unterstreichen.
Wenn „Ace“ zwei Falschspieler bestraft, zeigt das die Furcht
der Sterblichen vor einem Gott - und die Willkür seiner Strafe.
Wenn die FBI Agenten vor Nicky Santoro abstürzen, bleibt der
völlig ungerührt. Er fühlt, dass die „Sterblichen“ ihn nicht anrühren können.
Auch sonst zeigen die Figuren alle Charakteristika eines
mythologischen Götterreichs. Die Mythologien der Geschichte sind voll von
Streitereien, von betrogenen Ehen, geraubten Kindern, grausamen Strafen.
Seitensprünge, geraubte Kinder, Misstrauen, Missgunst, all
das findet man auch in CASINO. Und die Strafe, die Nicky am Ende erwartet,
steht der Grausamkeit einer Göttermythologie in nichts nach.
Auch optisch zeigt der Film die göttliche Entrückung der
Figuren. Kein anderer Film nutzt derart geballt das Stilmittel der
Oberbeleuchtung. In nahezu jedem Bild sind die Figuren und ihre Umgebung von
grellen Lichtern über ihnen erhellt, was ihnen eine seltsam mystische Aura
verleiht. (Man mag es als Heiligenschein deuten, was mir jedoch zu christlich
speziell gedeutet ist.)
Und auch in seinen Charakteren bleibt der Film griechisch-tragisch.
Keine der Figuren entwickelt sich. „Ace“s Kontrollsucht, Nickys Machtgier,
Gingers Liebe zu Lester und Lesters Unselbständigkeit – bis zum Ende bleiben
diese unvereinbaren Elemente gleich.
Die griechischen Tragödien leben von der Vorbestimmtheit der
Schicksale ihrer Figuren. Deshalb arbeiten sie so gerne mit einer Wahrsagung zu
Beginn. König Ödipus weiß ein Lied davon zu singen.
Auch CASINO bietet immer wieder Wahrsagungen. Die Implosion
der Figurenkonstellation ist schnell vorhersehbar – und dennoch unausweichlich.
Quelle: DVD & Blu-ray „Casino” (Universal Pictures) |
Und was ist mit dem Ende des Films? Wehmütig wird der Abgesang auf das alte Casinosystem zelebriert. Und beklagt, dass gesichtslose, unpersönliche Konzerne nun einen Vergnügungspark dort eröffnen. Ähnelt das nicht dem Ende der alten Götterwelt und das Aufkommen der Aufklärung? Am Ende ist Ace machtlos und verstoßen. Nur noch Erzählungen zeugen von seiner einstigen Macht und seinem ausschweifenden Leben. Genau wie die alten Götter.
Aus Arch Stanton's Grab
The Good:
CASINO ist bis heute der letzte große Gangsterfilm, der sich
mit dem Mafia-Milieu der 70er und 80er Jahre beschäftigt. Ein Genre, das nach
dem Erfolg des PATEN 1972 extrem populär und weit verbreitet war. Tatsächlich
endete der Erfolg des Gangsterfilms generell nach CASINO, da neue Impulse
fehlten oder, wie GANGS OF NEW YORK, scheiterten. Erst 2010 fand das
Gangsterepos wieder einen großen, erfolgreichen Nachfolger – diesmal in Form
einer Serie. BOARDWALK EMPIRE erzählt von einem Mobster im Atlantic City der
1920er Jahre. Auch hier sitzt Martin Scorsese, als Produzent und Regisseur der
Pilotfolge, wieder mit am Ruder.
The Bad:
Die Mitte der 90er war die Zeit, in der Sharon Stone einen
Imagewechsel versuchte – und scheiterte. Die eher mittelmäßig talentierte
Schauspielerin war zuvor durch mittelmäßige Auftritte in mittelmäßigen Filmen
und einige Nacktaufnahmen im Kult-Trash-Thriller BASIC INSTINCT aufgefallen.
Nach CASINO wurde sie mit einem Mal als ernsthafte, seriöse Schauspielerin
wahrgenommen. Stone, die zuvor Stammgast auf der Nominierungsliste der
„Goldenen Himbeere“ war (4 Nominierungen und 2 Auszeichnungen bis 1995),
erhielt für CASINO plötzlich eine Oscarnominierung, verlor aber. Zwar erhielt
sie den Golden Globe als „Trostpreis“, landete aber bald wieder in der
Versenkung und bei den Goldenen Himbeeren (Wo sie 1997 gemeinerweise eine
Nominierung als schlechtester Newcomer erhielt – unter dem Namen „Neue,
ernsthafte Sharon Stone“).
Vermutlich verpasste sie 1995 ihre einzige Chance auf eine
der begehrten Statuen.
The Ugly:
CASINO markiert noch einen weiteren Endpunkt: Die bisher letzte Zusammenarbeit zwischen Scorsese und DeNiro. Zwar fand der Regisseur bald, auf Empfehlung von DeNiro, in Leonardo DiCaprio eine neue Muse. Dennoch ist es bedauerlich, dass diese fruchtbare Zusammenarbeit nach acht Filmen (Von denen wenigstens sechs echte Klassiker sind!) ein Ende fand. Allerdings plant man 2014 angeblich die Produktion eines neuen gemeinsamen Films: THE IRISHMAN – an dem noch zwei besondere Namen beteiligt sein sollen: Joe Pesci und Al Pacino!
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