30.06.14

No Turning Back (GB/USA 2013)

„Ich wollte mit Ivan Locke einen einfachen Mann zeigen, der eine ganz normale Tragödie durchlebt, etwas, das jedem passieren kann, was das Leben aber eben ausmacht. Für ihn ist es das Ende der Welt. Und es sollte nichts sein, das große Schlagzeilen bringt oder etwas, das mit Drogen oder Explosionen zu tun hat. Einfach etwas, das Menschen halt geschieht.“
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Biancas Blick:

Berühmte Vorläufer


Ein Film, reduziert auf nur eine Person, begrenzt auf ein Minimum an Raum: Kann das über neunzig Minuten funktionieren?
Ja, es kann! Das hat bereits der Film NICHT AUFLEGEN! gezeigt. Dort agiert Colin Farrell als schmieriger Agent gegen die Zeit und gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner, der ihm immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Was den Film so ungewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass Farrells Figur an eine Telefonzelle gebunden ist und in deren knappem Raum spielen muss. Das funktioniert mithilfe guter Darsteller und nachvollziehbarer Komplikationen.
Eine weitere Perle dieser reduzierten Herangehensweise ist BURIED, der in einem Sarg spielt. Ein Mann, überzeugend dargestellt von Ryan Reynolds, erwacht in einem Sarg und versucht, mit einem Handy als einziger Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt zu überleben. Wie in NICHT AUFLEGEN! ist der Film in Echtzeit gedreht, auf minimalstem Raum. Die Spannung steigt stetig, denn der Sauerstoff reicht nur noch für eine gute Stunde.
Was diese Filme mit NO TURNING BACK gemeinsam haben, ist das Telefon als einzigem Kontakt zur Außenwelt. Da es sonst kaum oder gar keine Protagonisten gibt, menschliche Kommunikation aber das probateste Mittel der Konfliktherstellung und –bewältigung ist, ist dieser Kunstgriff auch notwendig. Umso wichtiger ist es, die geführten Gespräche spannend und zwingend zu gestalten, denn nur so kann der Spannungsbogen ansteigen und die Handlung vorantreiben.

Überlebenskampf eines Einzelnen 


In dieselbe Kerbe schlagen auch ALL IS LOST, 127 STUNDEN und GRAVITY.
Es sind Filme, die je eine Einzelperson im Kampf ums nackte Überleben zeigen. Im Kampf gegen die Natur, das Schicksal und gegen sich selbst. Zwar sind hier die Räume wesentlich größer gefasst – in GRAVITY ist es gar der ganze Weltraum –, aber im Fokus steht immer die Figur und ihr Umgang mit einer schier ausweglosen Situation.
Auch Robert Redford, James Franco und Sandra Bullock zeigen zu Recht hochgelobte Einzeldarstellungen und profilieren sich als Charaktermimen.
Zwar „schummeln“ einzelne Filme – in GRAVITY tauchen zu Beginn und im Verlauf noch andere Protagonisten auf und 127 STUNDEN arbeitet mit Flashbacks – aber das Kammerspiel bleibt bestehen.
Nun geht es in NO TURNING BACK zwar nicht direkt um Leben und Tod, und trotzdem sieht auch Locke (So auch der Originaltitel des Films) sich einer ausweglosen Situation gegenüber, die droht, sein Leben, wie er es kannte, für immer zu zerstören.

Und wer hat’s erfunden?


Die Idee des Kammerspiels auf minimalem Raum geht zurück auf Alfred Hitchcock (auf dessen Grundidee NICHT AUFLEGEN! übrigens basiert).
In seinen Filmen COCKTAIL FÜR EINE LEICHE, BEI ANRUF MORD, DAS RETTUNGSBOOT und DAS FENSTER ZUM HOF müssen die Protagonisten auf engstem Raum agieren. Die Bedrohung dringt von außen auf sie ein und zwingt sie zu reagieren. Gerade in der Enge des Raums erkannte Hitchcock die Möglichkeit, die Handlung zu verdichten und zu verschärfen. Dadurch werden die Figuren nicht nur psychisch, sondern auch physisch in die Ecke gedrängt und es ergeben sich zusätzlich menschliche Spannungsmomente.

COCKTAIL FÜR EINE LEICHE wird zudem in Echtzeit gedreht, etwas damals völlig Neuartiges, und darüber hinaus ohne sichtbare Schnitte. Für 1946 ein außergewöhnliches Experiment. Und zu seiner Zeit ein Flop!
Heute gilt er, wie fast alle Hitchcock-Filme, als gelungenes experimentelles Wagnis. Die Brillanz dieser Reduktion wird erst Jahre später erkannt und in Filmen wie 12 UHR MITTAGS, GEGEN DIE ZEIT, BURIED, NICHT AUFLEGEN! und eben NO TURNING BACK wieder aufgenommen

Wichtigste Rezeptzutat


Was also braucht ein Film, um den Zuschauer zu fesseln? Was sind die Grundbedingungen?
Zunächst mal eine Figur, die in eine Situation gerät, die ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellt, sie zu unbequemen Entscheidungen zwingt.
Das hat der Plot von NO TURNING BACK umgesetzt.
Ivan Locke, die Hauptfigur des Films, sieht sich durch eine Fehlentscheidung in eine problematische Situation gedrängt, die er lösen muss. Jetzt, während dieser Fahrt, ob er will oder nicht.
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Die Handlung muss aber in ihrer Spannung ansteigen. Nachvollziehbar, so dass die Hauptfigur mehr und mehr unter Druck gerät. Das wirkt umso mehr, wenn es auf vier Quadratmetern stattfindet. Der Handlungsspielraum für die Figur ist so eingegrenzt, dass ein Ausweichen nicht möglich ist.
Um das spannend zu gestalten, braucht es einen charismatischen Darsteller, der die verschiedenen Emotionen, die die Situation mit sich bringt, glaubhaft und minimalistisch ausdrücken kann.
Auch das hat der Film hervorragend geschafft!
Mit Tom Hardy agiert ein bisher unterschätzter Schauspieler, dem mit diesem Film hoffentlich endgültig der Durchbruch gelingen wird.

Bekannt als unbekannt


Nach seinem Debüt in BAND OF BROTHERS und BLACK HAWK DOWN 2001 erregt Tom Hardy 2002 erstes Aufsehen als Gegenspieler – und überzeugender Klon – von Captain Jean-Luc Picard in STAR TREK: NEMESIS, bevor er sich 2003 und 2004 als Theaterschauspieler profiliert und gleich zwei begehrte Newcomer-Theaterpreise einheimst.
Im Fernsehen wird er 2005 durch eine Neuinszenierung der BBC von THE VIRGIN QUEEN bekannt.
2010 spielt er unter der Regie von Philipp Seymour Hoffman in CHICAGO am amerikanischen Theater. Ebenfalls 2010 gelingt ihm in INCEPTION unter der Regie von Christopher Nolan der endgültige Durchbruch. In WARRIOR spielt er seine erste größere Hauptrolle und darf in THE DARK KNIGHT RISES erneut den Schurken geben – diesmal bereits als Star und ebenso überzeugend trotz gesichtsfüllender Maske.
Mit NO TURNING BACK beweist er nun, dass er einen Film auch gänzlich allein tragen und gestalten kann, ähnlich wie Robert Redford in ALL IS LOST, und es ebenso großartig umsetzt.
Die Chance, die ihm mit dieser Rolle geboten wird, nutzt er und man darf hoffen, dass diese Karriere dadurch weitere Schubkraft erhält.

Intentionen


Regisseur Steven Knight kam die Idee zu NO TURNING BACK während der Dreharbeiten zu REDEMPTION, als er sich fragt, ob all die filmischen Tricks und Mittel wirklich notwendig seien, um Spannung zu erzeugen. REDEMPTION ist ein Actionkracher mit Jason Statham, der alles an Material und Actioneffekten auffährt, was das Genre zu bieten hat.
Knight erkennt, dass die Fülle an Effekten die Arbeit der Schauspieler in den Hintergrund rückt. Er beginnt mit der Entwicklung eines Films, der den Schauspieler wieder in den Mittelpunkt stellt - ein Ein-Personen-Stück. Er konzipiert den Film von Anfang an mit Tom Hardy in der Hauptrolle, den er für einen der besten Schauspieler überhaupt hält.
Er denkt an einen Film in der Art eines Theaterstücks, in dem der Hauptdarsteller auf einer Bühne dem Publikum präsentiert wird. Daraufhin entwickelt er die Idee um einen Autofahrer, der transparent und in größtmöglicher Nähe zum Zuschauer arbeitet, wodurch er sie unausweichlich seine emotionalen Ein- und Ausbrüche miterleben und mitfühlen lässt.
Ein Geniestreich!
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Am Ende geht alles recht schnell. Er trifft sich im November mit Tom Hardy, stellt ihm die Grundidee vor und schreibt das Drehbuch über die Weihnachtstage 2012. Bereits im Februar 2013 wird gedreht.
Bedenken hat Knight bezüglich jener Darsteller, die nur durch ihre Stimme mitwirken. Er fragt vorsichtig bei Olivia Colman, Ruth Wilson und Andrew Scott nach und bekommt sofort Zusagen. Er will sie möglichst wenig inszenieren, gibt ihnen alle Freiheiten, wie auch Tom Hardy. Seine Anweisung lautet: „Tut das, was ihr im Theater tun würdet!“ – und das tun sie. Improvisiert und impulsiv, emotional, verzweifelt und berührend.

Die Telefongespräche sind in Echtzeit gedreht. Die Drehzeit beträgt nur sechs Tage, von denen Knight die Schauspieler fünf Tage in einen Konferenzraum setzt, während er mit Tom Hardy durch die Dunkelheit fährt. Anschließend werden die Gesprächspartner in chronologischer Reihenfolge in den Wagen durchgestellt. Sie sollen zudem nicht nur sitzen und sprechen, sondern dürfen alles tun, was sie auch auf der Bühne tun würden: laufen, schreien, weinen ... Der Improvisationslust sind keine Grenzen gesetzt.

Knight sagt über die dramatischen Ereignisse im Film, dass es ein persönliches Dilemma einer Einzelperson sei. Aber so etwas zu beleuchten erschien ihm tausend Mal spannender, als jemanden zu zeigen, der gerade den Premierminister erschossen habe.

Das Auto als Zeitmaschine und andere Symbole


Kevin Costner sagt in A PERFECT WORLD, während er ein Landstraße entlangfährt: „Philipp, wir sitzen in einer Zeitmaschine. Da hinten“, er deutet aus der Heckscheibe, „das ist die Vergangenheit und vor uns da liegt die Zukunft und wir, wir sitzen in der Gegenwart. Genieße sie solange du kannst.“

Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form in NO TURNING BACK wieder.
Ivan Locke hat sich entschieden, für eine bessere Zukunft. Und dorthin fährt er. Hinter sich lässt er bewusst seine Vergangenheit zurück. Diese wird symbolisiert durch seinen Vater, der, nicht real anwesend, in Ivans Vorstellung auf dem Rücksitz mitfährt. Das fiktive Gespräch mit dem Vater hinter ihm eröffnet einen steten Blick auf die Vergangenheit. Das Telefon mit seinen Problemen und Lösungen verkörpert die Gegenwart. Vor ihm in London wartet die Zukunft, in der er sich von den Schatten der Vergangenheit gelöst haben will.
Das Auto, das sonst oft als Fluchtfahrzeug eingesetzt wird, dient hier als Ort der Klärung und Überwindung der Vergangenheit um in eine vielleicht befreite Zukunft zu gelangen.

Erwähnenswert ist dabei auch der Beruf, den Ivan Locke ausübt: Er ist Betonbauer.
Seine Zuständigkeit ist das Ausgießen von Fundamenten, auf denen anschließend Häuser errichtet werden. Der aktuelle Auftrag aus Chicago erzwingt das größte Fundament, das seine Firma jemals ausgegossen hat.
Das steht in diametralem Gegensatz zu dem, was er während dieser Autofahrt offenbart: Denn nichts ist fundamentiert in seinem Leben. Das Fundament, das er sich geschaffen hat droht zu zerbersten.
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Von Erkältungen und anderen Wutausbrüchen


Tom Hardy plagt während der wenigen Drehtage eine starke Erkältung, die sofort in die Handlung eingebaut wird. Die schwindene Sicht durch tränende Augen, das Ausschniefen und die Suche nach geeigneten Medikamenten im Auto unterstreicht die Fragilität der Hauptfigur.

Da Tom Hardy oft mehrere Stunden am Stück fahren muss, kommt es immer wieder vor, dass die Alarmleuchte mit einem unangenehmen Geräusch anzeigt, dass der Tank fast leer ist. Dies unterbricht ihn immer wieder in seinem aufgebauten emotionalen Zustand und treibt ihn zur Weißglut. Knight filmt diese Wutausbrüche einfach mit und schneidet einen von ihnen in den Film. Es ist der einzige starke Ausbruch, die einzig lautstark offene Emotion, die Ivan Locke in dieser schicksalshaften Nacht zeigt. Und sie wirkt – nun ist klar, weshalb – absolut ehrlich und aus tiefstem Herzen gefühlt.

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