„Ich wollte mit Ivan
Locke einen einfachen Mann zeigen, der eine ganz normale Tragödie durchlebt, etwas,
das jedem passieren kann, was das Leben aber eben ausmacht. Für ihn ist es das
Ende der Welt. Und es sollte nichts sein, das große Schlagzeilen bringt oder
etwas, das mit Drogen oder Explosionen zu tun hat. Einfach etwas, das Menschen
halt geschieht.“
© 2014 STUDIOCANAL |
Ein Film, reduziert auf nur eine Person, begrenzt auf ein
Minimum an Raum: Kann das über neunzig Minuten funktionieren?
Ja, es kann! Das hat bereits der Film NICHT AUFLEGEN!
gezeigt. Dort agiert Colin Farrell als schmieriger Agent gegen die Zeit und
gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner, der ihm immer einen Schritt voraus zu
sein scheint. Was den Film so ungewöhnlich macht, ist die Tatsache, dass
Farrells Figur an eine Telefonzelle gebunden ist und in deren knappem Raum
spielen muss. Das funktioniert mithilfe guter Darsteller und nachvollziehbarer
Komplikationen.
Eine weitere Perle dieser reduzierten Herangehensweise ist
BURIED, der in einem Sarg spielt. Ein Mann, überzeugend dargestellt von Ryan
Reynolds, erwacht in einem Sarg und versucht, mit einem Handy als einziger
Kontaktmöglichkeit zur Außenwelt zu überleben. Wie in NICHT AUFLEGEN! ist der
Film in Echtzeit gedreht, auf minimalstem Raum. Die Spannung steigt stetig,
denn der Sauerstoff reicht nur noch für eine gute Stunde.
Was diese Filme mit NO TURNING BACK gemeinsam haben, ist das
Telefon als einzigem Kontakt zur Außenwelt. Da es sonst kaum oder gar keine Protagonisten
gibt, menschliche Kommunikation aber das probateste Mittel der
Konfliktherstellung und –bewältigung ist, ist dieser Kunstgriff auch notwendig.
Umso wichtiger ist es, die geführten Gespräche spannend und zwingend zu
gestalten, denn nur so kann der Spannungsbogen ansteigen und die Handlung
vorantreiben.
Überlebenskampf eines
Einzelnen
In dieselbe Kerbe schlagen auch ALL IS LOST, 127 STUNDEN und GRAVITY.
Überlebenskampf eines
Einzelnen
In dieselbe Kerbe schlagen auch ALL IS LOST, 127 STUNDEN und GRAVITY.
Es sind Filme, die je eine Einzelperson im Kampf ums nackte
Überleben zeigen. Im Kampf gegen die Natur, das Schicksal und gegen sich
selbst. Zwar sind hier die Räume wesentlich größer gefasst – in GRAVITY ist es
gar der ganze Weltraum –, aber im Fokus steht immer die Figur und ihr Umgang mit
einer schier ausweglosen Situation.
Auch Robert Redford, James Franco und Sandra Bullock zeigen
zu Recht hochgelobte Einzeldarstellungen und profilieren sich als
Charaktermimen.
Zwar „schummeln“ einzelne Filme – in GRAVITY tauchen zu
Beginn und im Verlauf noch andere Protagonisten auf und 127 STUNDEN arbeitet
mit Flashbacks – aber das Kammerspiel bleibt bestehen.
Nun geht es in NO TURNING BACK zwar nicht direkt um Leben und
Tod, und trotzdem sieht auch Locke (So auch der Originaltitel des Films) sich einer ausweglosen Situation gegenüber, die
droht, sein Leben, wie er es kannte, für immer zu zerstören.
Und wer hat’s
erfunden?
Die Idee des Kammerspiels auf minimalem Raum geht zurück auf
Alfred Hitchcock (auf dessen Grundidee NICHT AUFLEGEN! übrigens basiert).
In seinen Filmen COCKTAIL FÜR EINE LEICHE, BEI ANRUF MORD, DAS
RETTUNGSBOOT und DAS FENSTER ZUM HOF müssen die Protagonisten auf engstem Raum
agieren. Die Bedrohung dringt von außen auf sie ein und zwingt sie zu
reagieren. Gerade in der Enge des Raums erkannte Hitchcock die Möglichkeit, die
Handlung zu verdichten und zu verschärfen. Dadurch werden die Figuren nicht nur
psychisch, sondern auch physisch in die Ecke gedrängt und es ergeben sich
zusätzlich menschliche Spannungsmomente.
COCKTAIL FÜR EINE LEICHE wird zudem in Echtzeit gedreht,
etwas damals völlig Neuartiges, und darüber hinaus ohne sichtbare Schnitte. Für
1946 ein außergewöhnliches Experiment. Und zu seiner Zeit ein Flop!
Heute gilt er, wie fast alle Hitchcock-Filme, als gelungenes experimentelles Wagnis. Die Brillanz dieser Reduktion wird erst Jahre später erkannt und in Filmen wie 12 UHR MITTAGS, GEGEN DIE ZEIT, BURIED, NICHT AUFLEGEN! und eben NO TURNING BACK wieder aufgenommen
Heute gilt er, wie fast alle Hitchcock-Filme, als gelungenes experimentelles Wagnis. Die Brillanz dieser Reduktion wird erst Jahre später erkannt und in Filmen wie 12 UHR MITTAGS, GEGEN DIE ZEIT, BURIED, NICHT AUFLEGEN! und eben NO TURNING BACK wieder aufgenommen
Wichtigste
Rezeptzutat
Was also braucht ein Film, um den Zuschauer zu fesseln? Was
sind die Grundbedingungen?
Zunächst mal eine Figur, die in eine Situation gerät, die
ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellt, sie zu unbequemen Entscheidungen
zwingt.
Das hat der Plot von NO TURNING BACK umgesetzt.
Ivan Locke, die Hauptfigur des Films, sieht sich durch eine Fehlentscheidung
in eine problematische Situation gedrängt, die er lösen muss. Jetzt, während
dieser Fahrt, ob er will oder nicht.
Die Handlung muss aber in ihrer Spannung ansteigen. Nachvollziehbar,
so dass die Hauptfigur mehr und mehr unter Druck gerät. Das wirkt umso mehr,
wenn es auf vier Quadratmetern stattfindet. Der Handlungsspielraum für die
Figur ist so eingegrenzt, dass ein Ausweichen nicht möglich ist.
Um das spannend zu gestalten, braucht es einen
charismatischen Darsteller, der die verschiedenen Emotionen, die die Situation
mit sich bringt, glaubhaft und minimalistisch ausdrücken kann.
Auch das hat der Film hervorragend geschafft!
Mit Tom Hardy agiert ein bisher unterschätzter Schauspieler,
dem mit diesem Film hoffentlich endgültig der Durchbruch gelingen wird.
Bekannt als unbekannt
Nach seinem Debüt in BAND OF BROTHERS und BLACK HAWK DOWN
2001 erregt Tom Hardy 2002 erstes Aufsehen als Gegenspieler – und überzeugender
Klon – von Captain Jean-Luc Picard in STAR TREK: NEMESIS, bevor er sich 2003
und 2004 als Theaterschauspieler profiliert und gleich zwei begehrte
Newcomer-Theaterpreise einheimst.
Im Fernsehen wird er 2005 durch eine Neuinszenierung der BBC
von THE VIRGIN QUEEN bekannt.
2010 spielt er unter der Regie von Philipp Seymour Hoffman
in CHICAGO am amerikanischen Theater. Ebenfalls 2010 gelingt ihm in INCEPTION
unter der Regie von Christopher Nolan der endgültige Durchbruch. In WARRIOR spielt
er seine erste größere Hauptrolle und darf in THE DARK KNIGHT RISES erneut den
Schurken geben – diesmal bereits als Star und ebenso überzeugend trotz
gesichtsfüllender Maske.
Mit NO TURNING BACK beweist er nun, dass er einen Film auch
gänzlich allein tragen und gestalten kann, ähnlich wie Robert Redford in ALL IS
LOST, und es ebenso großartig umsetzt.
Die Chance, die ihm mit dieser Rolle geboten wird, nutzt er und
man darf hoffen, dass diese Karriere dadurch weitere Schubkraft erhält.
Intentionen
Regisseur Steven Knight kam die Idee zu NO TURNING BACK
während der Dreharbeiten zu REDEMPTION, als er sich fragt, ob all die
filmischen Tricks und Mittel wirklich notwendig seien, um Spannung zu erzeugen.
REDEMPTION ist ein Actionkracher mit Jason Statham, der alles an Material und
Actioneffekten auffährt, was das Genre zu bieten hat.
Knight erkennt, dass die Fülle an Effekten die Arbeit der
Schauspieler in den Hintergrund rückt. Er beginnt mit der Entwicklung eines Films,
der den Schauspieler wieder in den Mittelpunkt stellt - ein Ein-Personen-Stück. Er konzipiert den Film von Anfang an mit Tom Hardy in der Hauptrolle, den er
für einen der besten Schauspieler überhaupt hält.
Er denkt an einen Film in der Art eines Theaterstücks, in
dem der Hauptdarsteller auf einer Bühne dem Publikum präsentiert wird.
Daraufhin entwickelt er die Idee um einen Autofahrer, der transparent und in
größtmöglicher Nähe zum Zuschauer arbeitet, wodurch er sie unausweichlich seine
emotionalen Ein- und Ausbrüche miterleben und mitfühlen lässt.
Ein Geniestreich!
Am Ende geht alles recht schnell. Er trifft sich im November
mit Tom Hardy, stellt ihm die Grundidee vor und schreibt das Drehbuch über die
Weihnachtstage 2012. Bereits im Februar 2013 wird gedreht.
Bedenken hat Knight bezüglich jener Darsteller, die nur durch
ihre Stimme mitwirken. Er fragt vorsichtig bei Olivia Colman, Ruth Wilson und
Andrew Scott nach und bekommt sofort Zusagen. Er will sie möglichst wenig
inszenieren, gibt ihnen alle Freiheiten, wie auch Tom Hardy. Seine Anweisung
lautet: „Tut das, was ihr im Theater tun würdet!“ – und das tun sie.
Improvisiert und impulsiv, emotional, verzweifelt und berührend.
Die Telefongespräche sind in Echtzeit gedreht. Die Drehzeit beträgt nur sechs Tage, von denen Knight die Schauspieler fünf Tage in einen Konferenzraum setzt, während er mit Tom Hardy durch die Dunkelheit fährt. Anschließend werden die Gesprächspartner in chronologischer Reihenfolge in den Wagen durchgestellt. Sie sollen zudem nicht nur sitzen und sprechen, sondern dürfen alles tun, was sie auch auf der Bühne tun würden: laufen, schreien, weinen ... Der Improvisationslust sind keine Grenzen gesetzt.
Die Telefongespräche sind in Echtzeit gedreht. Die Drehzeit beträgt nur sechs Tage, von denen Knight die Schauspieler fünf Tage in einen Konferenzraum setzt, während er mit Tom Hardy durch die Dunkelheit fährt. Anschließend werden die Gesprächspartner in chronologischer Reihenfolge in den Wagen durchgestellt. Sie sollen zudem nicht nur sitzen und sprechen, sondern dürfen alles tun, was sie auch auf der Bühne tun würden: laufen, schreien, weinen ... Der Improvisationslust sind keine Grenzen gesetzt.
Knight sagt über die dramatischen Ereignisse im Film, dass es ein persönliches Dilemma einer Einzelperson sei. Aber so etwas zu
beleuchten erschien ihm tausend Mal spannender, als jemanden zu zeigen, der
gerade den Premierminister erschossen habe.
Das Auto als
Zeitmaschine und andere Symbole
Kevin Costner sagt in A PERFECT WORLD, während er ein
Landstraße entlangfährt: „Philipp, wir sitzen in einer Zeitmaschine. Da
hinten“, er deutet aus der Heckscheibe, „das ist die Vergangenheit und vor uns
da liegt die Zukunft und wir, wir sitzen in der Gegenwart. Genieße sie solange
du kannst.“
Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form in NO TURNING
BACK wieder.
Ivan Locke hat sich entschieden, für eine bessere Zukunft. Und dorthin fährt er. Hinter sich lässt er bewusst seine Vergangenheit zurück. Diese
wird symbolisiert durch seinen Vater, der, nicht real anwesend, in Ivans Vorstellung
auf dem Rücksitz mitfährt. Das fiktive Gespräch mit dem Vater hinter ihm eröffnet einen
steten Blick auf die Vergangenheit. Das Telefon mit seinen Problemen und
Lösungen verkörpert die Gegenwart. Vor ihm in London wartet die Zukunft, in der
er sich von den Schatten der Vergangenheit gelöst haben will.
Das Auto, das sonst oft als Fluchtfahrzeug eingesetzt wird,
dient hier als Ort der Klärung und Überwindung der Vergangenheit um in eine
vielleicht befreite Zukunft zu gelangen.
Erwähnenswert ist dabei auch der Beruf, den Ivan Locke
ausübt: Er ist Betonbauer.
Seine Zuständigkeit ist das Ausgießen von
Fundamenten, auf denen anschließend Häuser errichtet werden. Der aktuelle
Auftrag aus Chicago erzwingt das größte Fundament, das seine Firma jemals
ausgegossen hat.
Das steht in diametralem Gegensatz zu dem, was er während
dieser Autofahrt offenbart: Denn nichts ist fundamentiert in seinem Leben. Das
Fundament, das er sich geschaffen hat droht zu zerbersten.
Von Erkältungen und
anderen Wutausbrüchen
Tom Hardy plagt während der wenigen Drehtage eine starke
Erkältung, die sofort in die Handlung eingebaut wird. Die schwindene Sicht durch tränende Augen, das Ausschniefen und die Suche nach geeigneten Medikamenten im
Auto unterstreicht die Fragilität der Hauptfigur.
Da Tom Hardy oft mehrere Stunden am Stück fahren muss, kommt
es immer wieder vor, dass die Alarmleuchte mit einem unangenehmen Geräusch anzeigt,
dass der Tank fast leer ist. Dies unterbricht ihn immer wieder in seinem
aufgebauten emotionalen Zustand und treibt ihn zur Weißglut. Knight filmt diese
Wutausbrüche einfach mit und schneidet einen von ihnen in den Film. Es ist der
einzige starke Ausbruch, die einzig lautstark offene Emotion, die Ivan Locke
in dieser schicksalshaften Nacht zeigt. Und sie wirkt – nun ist klar, weshalb – absolut ehrlich und aus tiefstem
Herzen gefühlt.
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