Wer sich anschickt, SNOWPIERCER
zu schauen, muss eine große Portion „Suspension
of Disbelief“ mitbringen! Anders kann die
Prämisse – die gesamte Menschheit ist nach dem Weltuntergang auf einen niemals
stillstehenden Zug beschränkt – nicht funktionieren.
Der Film wird immer wieder
als dystopischer Klassenkampf betrachtet und bewertet. Dabei ist der erste
englischsprachige Film des Südkoreaners Bong Joon-Ho vor allem eine kongeniale
Vermischung amerikanischer und asiatischer Erzählgewohnheiten und einer der
ersten wirklich internationalen Filme!
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- Spoilerwarnung -
Dieser Beitrag kann Hinweise auf die Handlung enthalten!
Marcos Blick:
Schokolade mit
Roter Beete! Was wie ein Festmahl im sechsten Schwangerschaftsmonat klingt,
entspricht dem gustatorischen Äquivalent von SNOWPIERCER. Wie kaum ein anderer
Film vermengt er das Vertraute, Beliebte, leicht auf der Zunge Liegende mit
einem ganz und gar andersartigen Aroma.
Der Film bietet
in seinen zwei Stunden Spielzeit viel Stoff zum Interpretieren. Etwa,
dass er das gemeinhin vertikal verlaufende Klassensystem in ein streng
horizontales verwandelt. Eine tolle Idee! Statt nach oben streben die Ärmsten der
Armen hier nach vorne. Eine Grundkonstellation, die bereits im
zugrundeliegenden Comic „Schneekreuzer“, das seit 1983 drei Bände hervorgebracht
hat, den Schauplatz für systemkritische Geschichten liefert.
Viel interessanter
ist jedoch, wie der südkoreanische Regisseur und Autor Bong es hier schafft, für uns
Westeuropäer immer noch fremdartige, koreanische Filmwerte mit den bestens
vertrauten, streng reglementierten Hollywoodstrukturen zu verschmelzen!
Durchwobenes Heldenepos
Denn vor allem
einmal erzählt SNOWPIERCER eine uramerikanische Geschichte. Ein waschechtes
Heldenepos, wie es zwischen DER ZAUBERER VON OZ und aktuell DER HOBBIT seit über 70
Jahren das US-Kino füllt!
Es erzählt von Curtis Everett, dem Prinzen der
Unterdrückten, der sich mit einer kleinen Schar von Helden auf
den Weg macht, ein fremdes Reich zu durchstreifen, den bösen König zu stürzen,
und als gerechterer Herrscher die Bevölkerung zu einen. Unterwegs müssen
Hindernisse überwunden, Monster getötet, und der Verlust des ein oder anderen
Gefährten ertragen werden!
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Wer bei dieser
Synopsis an Fantasyepen im Stil von HERR DER RINGE oder STAR WARS denkt, liegt
gar nicht so falsch, denn an eben solchen Geschichten orientiert sich
SNOWPIERCER und beweist damit, wie perfekt er auf den amerikanischen Markt zugeschnitten
ist.
Wäre da nicht –
die eben koreanische Filmart, unsubtiles Actionspektakel mit eher subtilem
menschlichem und politischem Drama zu vermischen! (Wenngleich an Bongs Film ausnahmsweise einmal gar nichts "subtil" erscheint.) Wie schon in seinem ersten
Blockbuster THE HOST weigert sich Bong, seinen Film in eine
Genreschublade zu stecken. Und wie oft im asiatischen Film lässt er seine
Zuschauer erst einmal allein, beginnt zu erzählen, wechselt alle paar Minuten von
Epos zu Komödie zu Drama zu Endzeitfilm zu philosophischem Exkurs und entspinnt erst langsam, dann immer schneller aus einer kleinen Geschichte ein Epos, das
(buchstäblich!) die gesamte Menschheit betrifft. Manga-Leser mögen diesen Wuchs
vom Kleinen ins Weltumspannende nicht zuletzt aus dem Klassiker „Akira“ kennen.
Bong gelingt
der Clou, sein amerikanisches Heldenepos in asiatischer Gewohnheit zu erzählen,
ohne es in ein Genrekorsett zu pressen.
Drei Schokoladenakte
Noch
faszinierender ist dabei, dass er sich geradezu lehrbuchhaft an die in Hollywood
verankerte Drei-Akt-Struktur hält, die im Asia-Kino nur selten Verwendung
findet.
Erster Akt Die Einführung: Vorstellung der Helden,
ihrer Welt, der Probleme, und der Wünsche, die sie anstreben.
Erster Plotpoint Der Stein gerät ins Rollen: Eine
Veränderung der feststehenden Welt setzt die Handlung in Gang. Die Hauptfiguren
beginnen, ihre Wünsche umzusetzen.
Zweiter Akt Die Handlung: Die Hauptfiguren bewegen
sich auf ihr im ersten Akt definiertes Ziel zu und überwinden dabei diverse
Hindernisse.
Zweiter Plotpoint Die Katastrophe: Etwas möglichst
Unerwartetes geschieht. Das Ziel scheint für die Helden unnerreichbar. Ihr
größter, womöglich unbesiegbarer Gegner steht vor ihnen.
Dritter Akt Die Erlösung: Mit letzter Kraft bezwingt
der Held das vermeintlich Unbesiegbare und ein Abschluss wird herbeigeführt.
Die Moral der Geschichte wird spätestens hier offengelegt.
Nach dieser
Struktur funktioniert, mit geringen Abweichungen, so gut wie jeder
Hollywoodfilm. In besseren Filmen so geschickt eingewoben, dass wir es kaum
bemerken. Das Muster ist uns vertraut, es fühlt sich an wie unsere
Lieblings-Pyjamahose. Weicht ein Film zu stark davon ab, fühlt er sich
fremdartig, unverständlich an – einer der Gründe, weshalb viele Filme aus dem asiatischen Raum uns immer irgendwie „seltsam“ erscheinen.
SNOWPIERCER
hingegen setzt dieses Muster derart offen und mustergetreu, ja nahezu plakativ
um, dass ich fast geneigt bin, es als Satire zu betrachten. In jedem Fall kann,
darf und sollte der Film in amerikanischen Drehbuchseminaren als Musterbeispiel
herangezogen werden.
Die Rote Beete
Doch trotz seiner amerikanischen Struktur nutzt Bong all die visuellen und storytechnischen Stärken des
koreanischen Films. Scharfe Kontraste, deplaziert wirkender Humor, unerwartet
hereinbrechende Momente höchster Gewalt, Genußvoll in Szene gesetzte Bilder absoluter
Schönheit, abrupte antiklimatische Momente, scheinbar unbedeutende Details, die
erst später Bedeutung gewinnen – der Film fordert, trotz seiner butterweich
vertrauten Struktur, durchgehend Aufmerksamkeit und hinterlässt beim
westlichen Seher das ein oder andere Fragezeichen, die ein oder andere
Irritation.
Die Art und
Weise, mit der Bong zwei Filmwelten vermischt, nötigt mir höchsten Respekt
ab. Ich kenne keinen anderen Film, der in dieser Form ohne sichtbare
Schweißnähte amerikanisches und koreanisches/asiatisches Kino vermengt.
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Dabei scheut er
auch nicht davor zurück, popkulturell zu zitieren. Der ganze Film wirkt, als
wolle er eine der berühmtesten Actionszenen des Korea-Kinos, Oh Dae-sus "Korridor-Kampf" aus OLDBOY, in einen zwei Stunden Film pressen und habe sich inhaltlich
freizügig bei MATRIX RELOADED bedient. Musikalisch und in seiner Erkundung
einer bedrohlich wirkenden, in die Dystopie gekippten Utopiewelt erinnert er mitunter
scharf an die Spielereihe „Bioshock“. Generell wirkt der Film mit seiner
Levelstruktur häufig wie ein Videospiel, was aber vermutlich eher dem räumlich
begrenzten Setting geschuldet ist.
SNOWPIERCER ist
keine leichte Kost. Zu ungewohnt ist die Kombination. Aber
es ist ein gelungenes Amalgam westlicher und östlicher Kinotraditionen, das sich auch im zweisprachigen Cast wiederfindet und der erste Film, der sich
elegant und mit sicherem Tritt in beiden
Welten bewegt. Dass er damit auch für beide Welten sperrig sein wird, liegt auf
der Hand – man erahnt zumindest, wo Harvey Weinstein den Film gekürzt in die
amerikanischen Kinos bringen wollte. Der Film belohnt mit dem bekannten
Geschmack von Schokolade. Aber er fordert auch, sich an der Rote Beete zu erfreuen.
Das mag und wird
nicht jedem schmecken, aber es ergibt ein spannendes Rezept, das sich zu
probieren lohnt!
Biancas
Blick:
Ich liebe
experimentelle Filme, auch Filme, in denen ich mich als Zuschauer etwas
zurechtfinden muss, aber bei diesem Werk fühlte ich mich über weite Strecken,
gerade zu Beginn, allein gelassen und ja, manchmal etwas veräppelt. Den
Kontrast zwischen Grausamkeit und komplett überzogenem Humor empfand ich als zu
stark und null stringent.
Die Figur, die
Tilda Swinton verkörpert, die Marionette der Macht, ist grandios gespielt, aber
streckt sie mir als Zuschauer nicht auch die Zunge raus?
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Ist es
notwendig, ein Klassensystem, angelegt in einer postapokalyptischen Welt,
derart maniriert und überzeichnet abzubilden? Die Handlanger vollkommen lächerlich
darzustellen und bis über die Schmerzgrenze zu überspitzen?
Auf der anderen
Seite zeigt uns Bong Joon-Ho das Drama um eine versklavte Unterschicht, die
verdreckt im Schmutz lebt und sich von Insekten ernährt. Erzählt, dass die Maschine, die diese letzte Gesellschaft am Leben hält,
nur von Kinderhand betrieben werden kann. Dass die Mittelschicht sich in Drogen
und Tagträumen verliert. Und? Bekannte Themen? Ja! Und gerade das macht diesen
Film so grandios und doch so schwer verdaulich und hinterfragungswürdig. Bis ins
Lächerliche inszenierte Machtstrukturen, die dann aber wieder abrupt zu
grausamen Monstern gegen die Menschheit werden.
Interessant ist
wiederum zu erwähnen, dass es einige Drehs und Wendungen im Film gibt, die gut
eingewoben wurden, die Handlung gerade zum Ende des Films in die reale Betrachtungsweise
führen und die Geschichte deutlich anreichern.
Verborgen werden
können auf der anderen Seite aber auch nicht die Logiklöcher und
Ungereimtheiten im Plot (ich weiß, das soll man als
Zuschauer eh nie tun, es drängt sich bei diesem Film aber auf) und die
nicht zueinanderpassenden Genresprünge.
Schwer verdaulich als bessere Alternative
Bong hinterlässt
uns da ein ganz schönes Stück Arbeit. Zum einen lädt dieser Film
geradezu ein, über ihn herzuziehen, ihn abzutun, als nicht funktionierend ad acta
zu legen. Auf der anderen Seite zwängt er es uns auf, ihn metaphorisch zu
betrachten und zwar von Anfang an. Ihn auf eine surreale Ebene zu heben,
abwartend, lauernd, fragend was denn aus all den unverwobenen Fetzen von Drama,
Satire, Action und Humor nun werden soll, wie das alles zusammenpassen soll,
was ich als Zuschauer damit anfangen soll. Man will raus, versteht es über
weite Strecken nicht, fühlt sich vielleicht sogar etwas verarscht, nach dem
Motto: hier, friß, mach was damit!
Und wie auch in
den anderen grandiosen koreanischen Werken PIETA und OLDBOY entfaltet
SNOWPIERCER erst in der Nachbetrachtung den Glanz eines sehr ambitionierten und
stilistisch meisterhaften Werks.
Ja, er hat mich
aggressiv gemacht. Ja, er hat mich verwirrt und zunächst ratlos gelassen.
Und ja! Er ist
ansehbar. Aber den Zuschauer erwartet alles andere als ein einfach erzähltes
Werk, das er konsumieren kann. Nein, er ist gefordert und angesprochen. Und das
macht den Film in seiner Machart zu einem Nischenfilm, der es in der breiten
Masse schwer haben wird.
Weinstein, der
ihn 20 Minuten kürzen wollte, hätte ihn verdaulicher gemacht: ihn seiner Satire
beraubt, zu einem geradlinigen Film über den Aufstand der Unterschicht gegen
die Oberschicht.
Wie platt wäre das gewesen?! Dann doch lieber die schwerer zu schluckende Variante!
Wie platt wäre das gewesen?! Dann doch lieber die schwerer zu schluckende Variante!
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