02.04.14

Snowpiercer (KR/USA 2013)

Wer sich anschickt, SNOWPIERCER zu schauen, muss eine große Portion „Suspension of Disbelief“ mitbringen! Anders kann die Prämisse – die gesamte Menschheit ist nach dem Weltuntergang auf einen niemals stillstehenden Zug beschränkt – nicht funktionieren.
Der Film wird immer wieder als dystopischer Klassenkampf betrachtet und bewertet. Dabei ist der erste englischsprachige Film des Südkoreaners Bong Joon-Ho vor allem eine kongeniale Vermischung amerikanischer und asiatischer Erzählgewohnheiten und einer der ersten wirklich internationalen Filme!

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- Spoilerwarnung - 
Dieser Beitrag kann Hinweise auf die Handlung enthalten!

Marcos Blick:

Schokolade mit Roter Beete! Was wie ein Festmahl im sechsten Schwangerschaftsmonat klingt, entspricht dem gustatorischen Äquivalent von SNOWPIERCER. Wie kaum ein anderer Film vermengt er das Vertraute, Beliebte, leicht auf der Zunge Liegende mit einem ganz und gar andersartigen Aroma.
Der Film bietet in seinen zwei Stunden Spielzeit viel Stoff zum Interpretieren. Etwa, dass er das gemeinhin vertikal verlaufende Klassensystem in ein streng horizontales verwandelt. Eine tolle Idee! Statt nach oben streben die Ärmsten der Armen hier nach vorne. Eine Grundkonstellation, die bereits im zugrundeliegenden Comic „Schneekreuzer“, das seit 1983 drei Bände hervorgebracht hat, den Schauplatz für systemkritische Geschichten liefert.
Viel interessanter ist jedoch, wie der südkoreanische Regisseur und Autor Bong es hier schafft, für uns Westeuropäer immer noch fremdartige, koreanische Filmwerte mit den bestens vertrauten, streng reglementierten Hollywoodstrukturen zu verschmelzen!

Durchwobenes Heldenepos


Denn vor allem einmal erzählt SNOWPIERCER eine uramerikanische Geschichte. Ein waschechtes Heldenepos, wie es zwischen DER ZAUBERER VON OZ und aktuell DER HOBBIT seit über 70 Jahren das US-Kino füllt!

Es erzählt von Curtis Everett, dem Prinzen der Unterdrückten, der sich mit einer kleinen Schar von Helden auf den Weg macht, ein fremdes Reich zu durchstreifen, den bösen König zu stürzen, und als gerechterer Herrscher die Bevölkerung zu einen. Unterwegs müssen Hindernisse überwunden, Monster getötet, und der Verlust des ein oder anderen Gefährten ertragen werden!

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Wer bei dieser Synopsis an Fantasyepen im Stil von HERR DER RINGE oder STAR WARS denkt, liegt gar nicht so falsch, denn an eben solchen Geschichten orientiert sich SNOWPIERCER und beweist damit, wie perfekt er auf den amerikanischen Markt zugeschnitten ist.
Wäre da nicht – die eben koreanische Filmart, unsubtiles Actionspektakel mit eher subtilem menschlichem und politischem Drama zu vermischen! (Wenngleich an Bongs Film ausnahmsweise einmal gar nichts "subtil" erscheint.) Wie schon in seinem ersten Blockbuster THE HOST weigert sich Bong, seinen Film in eine Genreschublade zu stecken. Und wie oft im asiatischen Film lässt er seine Zuschauer erst einmal allein, beginnt zu erzählen, wechselt alle paar Minuten von Epos zu Komödie zu Drama zu Endzeitfilm zu philosophischem Exkurs und entspinnt erst langsam, dann immer schneller aus einer kleinen Geschichte ein Epos, das (buchstäblich!) die gesamte Menschheit betrifft. Manga-Leser mögen diesen Wuchs vom Kleinen ins Weltumspannende nicht zuletzt aus dem Klassiker „Akira“ kennen.
Bong gelingt der Clou, sein amerikanisches Heldenepos in asiatischer Gewohnheit zu erzählen, ohne es in ein Genrekorsett zu pressen.

Drei Schokoladenakte


Noch faszinierender ist dabei, dass er sich geradezu lehrbuchhaft an die in Hollywood verankerte Drei-Akt-Struktur hält, die im Asia-Kino nur selten Verwendung findet.
Erster Akt Die Einführung: Vorstellung der Helden, ihrer Welt, der Probleme, und der Wünsche, die sie anstreben.
Erster Plotpoint Der Stein gerät ins Rollen: Eine Veränderung der feststehenden Welt setzt die Handlung in Gang. Die Hauptfiguren beginnen, ihre Wünsche umzusetzen.
Zweiter Akt Die Handlung: Die Hauptfiguren bewegen sich auf ihr im ersten Akt definiertes Ziel zu und überwinden dabei diverse Hindernisse.
Zweiter Plotpoint Die Katastrophe: Etwas möglichst Unerwartetes geschieht. Das Ziel scheint für die Helden unnerreichbar. Ihr größter, womöglich unbesiegbarer Gegner steht vor ihnen.
Dritter Akt Die Erlösung: Mit letzter Kraft bezwingt der Held das vermeintlich Unbesiegbare und ein Abschluss wird herbeigeführt. Die Moral der Geschichte wird spätestens hier offengelegt.


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Nach dieser Struktur funktioniert, mit geringen Abweichungen, so gut wie jeder Hollywoodfilm. In besseren Filmen so geschickt eingewoben, dass wir es kaum bemerken. Das Muster ist uns vertraut, es fühlt sich an wie unsere Lieblings-Pyjamahose. Weicht ein Film zu stark davon ab, fühlt er sich fremdartig, unverständlich an – einer der Gründe, weshalb viele Filme aus dem asiatischen Raum uns immer irgendwie „seltsam“ erscheinen.
SNOWPIERCER hingegen setzt dieses Muster derart offen und mustergetreu, ja nahezu plakativ um, dass ich fast geneigt bin, es als Satire zu betrachten. In jedem Fall kann, darf und sollte der Film in amerikanischen Drehbuchseminaren als Musterbeispiel herangezogen werden.

Die Rote Beete


Doch trotz seiner amerikanischen Struktur nutzt Bong all die visuellen und storytechnischen Stärken des koreanischen Films. Scharfe Kontraste, deplaziert wirkender Humor, unerwartet hereinbrechende Momente höchster Gewalt, Genußvoll in Szene gesetzte Bilder absoluter Schönheit, abrupte antiklimatische Momente, scheinbar unbedeutende Details, die erst später Bedeutung gewinnen – der Film fordert, trotz seiner butterweich vertrauten Struktur, durchgehend Aufmerksamkeit und hinterlässt beim westlichen Seher das ein oder andere Fragezeichen, die ein oder andere Irritation.

Die Art und Weise, mit der Bong zwei Filmwelten vermischt, nötigt mir höchsten Respekt ab. Ich kenne keinen anderen Film, der in dieser Form ohne sichtbare Schweißnähte amerikanisches und koreanisches/asiatisches Kino vermengt.

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Dabei scheut er auch nicht davor zurück, popkulturell zu zitieren. Der ganze Film wirkt, als wolle er eine der berühmtesten Actionszenen des Korea-Kinos, Oh Dae-sus "Korridor-Kampf" aus OLDBOY, in einen zwei Stunden Film pressen und habe sich inhaltlich freizügig bei MATRIX RELOADED bedient. Musikalisch und in seiner Erkundung einer bedrohlich wirkenden, in die Dystopie gekippten Utopiewelt erinnert er mitunter scharf an die Spielereihe „Bioshock“. Generell wirkt der Film mit seiner Levelstruktur häufig wie ein Videospiel, was aber vermutlich eher dem räumlich begrenzten Setting geschuldet ist.

SNOWPIERCER ist keine leichte Kost. Zu ungewohnt ist die Kombination. Aber es ist ein gelungenes Amalgam westlicher und östlicher Kinotraditionen, das sich auch im zweisprachigen Cast wiederfindet und der erste Film, der sich elegant und mit sicherem Tritt in beiden Welten bewegt. Dass er damit auch für beide Welten sperrig sein wird, liegt auf der Hand – man erahnt zumindest, wo Harvey Weinstein den Film gekürzt in die amerikanischen Kinos bringen wollte. Der Film belohnt mit dem bekannten Geschmack von Schokolade. Aber er fordert auch, sich an der Rote Beete zu erfreuen.
Das mag und wird nicht jedem schmecken, aber es ergibt ein spannendes Rezept, das sich zu probieren lohnt!

Biancas Blick:

Ich liebe experimentelle Filme, auch Filme, in denen ich mich als Zuschauer etwas zurechtfinden muss, aber bei diesem Werk fühlte ich mich über weite Strecken, gerade zu Beginn, allein gelassen und ja, manchmal etwas veräppelt. Den Kontrast zwischen Grausamkeit und komplett überzogenem Humor empfand ich als zu stark und null stringent.
Die Figur, die Tilda Swinton verkörpert, die Marionette der Macht, ist grandios gespielt, aber streckt sie mir als Zuschauer nicht auch die Zunge raus?

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Ist es notwendig, ein Klassensystem, angelegt in einer postapokalyptischen Welt, derart maniriert und überzeichnet abzubilden? Die Handlanger vollkommen lächerlich darzustellen und bis über die Schmerzgrenze zu überspitzen?
Auf der anderen Seite zeigt uns Bong Joon-Ho das Drama um eine versklavte Unterschicht, die verdreckt im Schmutz lebt und sich von Insekten ernährt. Erzählt, dass die Maschine, die diese letzte Gesellschaft am Leben hält, nur von Kinderhand betrieben werden kann. Dass die Mittelschicht sich in Drogen und Tagträumen verliert. Und? Bekannte Themen? Ja! Und gerade das macht diesen Film so grandios und doch so schwer verdaulich und hinterfragungswürdig. Bis ins Lächerliche inszenierte Machtstrukturen, die dann aber wieder abrupt zu grausamen Monstern gegen die Menschheit werden.
Interessant ist wiederum zu erwähnen, dass es einige Drehs und Wendungen im Film gibt, die gut eingewoben wurden, die Handlung gerade zum Ende des Films in die reale Betrachtungsweise führen und die Geschichte deutlich anreichern.
Verborgen werden können auf der anderen Seite aber auch nicht die Logiklöcher und Ungereimtheiten im Plot (ich weiß, das soll man als Zuschauer eh nie tun, es drängt sich bei diesem Film aber auf) und die nicht zueinanderpassenden Genresprünge.

Schwer verdaulich als bessere Alternative


Bong hinterlässt uns da ein ganz schönes Stück Arbeit. Zum einen lädt dieser Film geradezu ein, über ihn herzuziehen, ihn abzutun, als nicht funktionierend ad acta zu legen. Auf der anderen Seite zwängt er es uns auf, ihn metaphorisch zu betrachten und zwar von Anfang an. Ihn auf eine surreale Ebene zu heben, abwartend, lauernd, fragend was denn aus all den unverwobenen Fetzen von Drama, Satire, Action und Humor nun werden soll, wie das alles zusammenpassen soll, was ich als Zuschauer damit anfangen soll. Man will raus, versteht es über weite Strecken nicht, fühlt sich vielleicht sogar etwas verarscht, nach dem Motto: hier, friß, mach was damit!
Und wie auch in den anderen grandiosen koreanischen Werken PIETA und OLDBOY entfaltet SNOWPIERCER erst in der Nachbetrachtung den Glanz eines sehr ambitionierten und stilistisch meisterhaften Werks.
Ja, er hat mich aggressiv gemacht. Ja, er hat mich verwirrt und zunächst ratlos gelassen.
Und ja! Er ist ansehbar. Aber den Zuschauer erwartet alles andere als ein einfach erzähltes Werk, das er konsumieren kann. Nein, er ist gefordert und angesprochen. Und das macht den Film in seiner Machart zu einem Nischenfilm, der es in der breiten Masse schwer haben wird.
Weinstein, der ihn 20 Minuten kürzen wollte, hätte ihn verdaulicher gemacht: ihn seiner Satire beraubt, zu einem geradlinigen Film über den Aufstand der Unterschicht gegen die Oberschicht.
Wie platt wäre das gewesen?! Dann doch lieber die schwerer zu schluckende Variante!
 
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