17.09.15

Kinokritik: Everest (USA 2015) - Abenteuer Alltag am dritten Pol

8848 – eine geradezu magische Zahl, die schon Kinder mit einem ganz bestimmten Punkt unserer Erde in Verbindung bringen: dem Gipfel des Mount Everest.
Jener eine Quadratmeter, der sich so klar von allen anderen auf der Erde unterscheidet, ist einer der am schwersten zugänglichen Punkte auf der Landmasse unseres Planeten. Das macht ihn zu einem der gefährlichsten Orte der Welt – und gleichzeitig einem der faszinierendsten. Der Abenteuerfilm EVEREST versucht, Faszination und Gefahr eines einzigartigen Ortes spürbar zu machen – mit Erfolg. 
© Universal Pictures
Marcos Blick:

Das Drama EVEREST beginnt mit einer Kritik. Als Tenzing Norgay und Edmund Hillary 1953 erstmals den Gipfel des Everest erreichen (benannt nach dem legendären Landvermesser George Everest), weiß jeder, dass ihre Expedition lebensgefährlich ist. Eine Aufgabe für wagemutige Profis, ähnlich den Expeditionen zu den Polen (nicht umsonst nennt man den Everest-Gipfel auch den „dritten Pol“) oder den halsbrecherischen Forschungsfahrten von Magellan bis Columbus. Hillary bereitet sich jahrelang vor, und sein Gipfelsturm ist nur der krönende Erfolg mehrerer zuvor gescheiterter Versuche.

All-inklusive-Abenteuer in 3D


Dreiundvierzig Jahre später hat sich die Lage komplett gewandelt: Die Besteigung des Everest (über die leichtere Südflanke) ist hochgradig kommerzialisiert. Jahr für Jahr im Mai, wenn die Chancen auf ein Schönwetterfenster am höchsten sind, schleifen erfahrene Bergführer jeden auf den Gipfel, der die gut 50.000 bis 70.000 Dollar bezahlen kann – von denen ein Großteil für Lizenzen und Genehmigungen an die nepalesische Regierung fließen –, und der einen Zettel vorlegt, auf dem ihm bescheinigt wird, dass er Bergerfahrung habe.
Der einst furchteinflößende Todesgipfel ist zum Touristenmekka verkommen. Gut zwanzig Gruppen von ein bis zwei Handvoll Mitglieder drängeln sich 1996 bereits in das kurze Mai-Fenster – und jeder will am 10. Mai, dem traditionell besten Tag in luftiger Höhe, auf dem Gipfel sein. (Am 10. Mai 1996 sind es insgesamt 34 Personen, die den Gipfelsturm versuchen!)

Der Film erzählt eine wahre Begebenheit, die sich 1996 ereignete und folgt dafür der kleinen Truppe von Bergsteigern, die sich dem Reiseanbieter „Adventure Consultants“ unter der Leitung des charismatischen Bergsteigers Rob Hall angeschlossen haben. Hall selbst war bereits vier Mal auf dem Gipfel und führt seine Gruppe zur Akklimatisierung an die schlechten Sauerstoffverhältnisse zunächst ins südliche Basislager, das auf 5.380 Metern liegt.

Schon auf dem Weg dorthin punktet EVEREST mit seiner ganzen visuellen Pracht, die – besonders in 3D! – hervorragend verdeutlicht, wie winzig der Mensch und wie gigantisch der Berg über ihm ist.
Im Basislager angekommen, scheut der Film aber auch nicht davor zurück, die Schattenseiten der touristisch erschlossenen Südflanke aufzuzeigen – das ganze Lager wirkt eher wie ein Woodstock-Festivalgelände nach drei durchfeierten Nächten. Dreck und Müll (bis heute ein zutiefst reales Problem am Everest!) beherrschen das Bild bereits hier unten.

Willkommen in der Todeszone


EVEREST hätte einige schöne Wörter verdient, eines der passendsten davon ist vermutlich „Immersion“.
Dem Film gelingt es nahezu perfekt, seine Zuschauer an einen der unwirtlichsten Orte der Welt zu führen. Man gewinnt einen ungemeinen Einblick in die Psyche der Abenteurer, die sich der für sie oftmals unsinnigen Herausforderung stellen, aber auch in den Ablauf, den Alltag und vor allem die Kameradschaft am höchsten Punkt der Erde. Hier werden Fremde zu Freunden, ganz schlicht durch das gemeinsame Reiseziel.
Und man wird in die Probleme hier oben eingeführt – denn schon bald wird klar, dass die mit einigen Engpässen gespickte Route zum Gipfel spätestens in diesem Jahr völlig überfrachtet sein wird. Zu diesen Engpässen gehört auch der berüchtigte „Hillary Step“, eine schmale, zwölf Meter hohe Felswand auf 8.760 Metern, die nur von jeweils einer Person erklommen werden kann.
Dabei ist ein schmaler Felsgrat in eisigen Temperaturen und 8.760 Metern Höhe der denkbar ungünstigste Ort um, wie es im Film ausgedrückt wird, „anzustehen wie an einer Supermarktkasse.“
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Und man wird schnell heimisch an diesem unheimeligen Ort. Zwei Stunden braucht es nur, und man tritt aus dem Kinosaal mit dem Gefühl, ein echter Berggipfel-Experte zu sein. Denn nicht nur gelingt es dem Film, den höchsten Punkt der Welt immer wieder mit bombastischen Bildern einzufangen, die die Größe der Natur und die Unbedeutsamkeit der Menschen wiedergeben, sondern auch, dem Zuschauer die Faszination dieses Berges einzuimpfen. Vor allem die Gefahren werden beinahe am eigenen Leib spürbar. Wie nur wenige Bergsteigerfilme zuvor, die sich oft auf dramatisch reißende Seile an Steilwänden konzentrieren, vermittelt EVEREST das packende Gefühl, sich in der sogenannten „Todeszone“ aufzuhalten, also einem Gebiet, das so weit oben liegt, dass der Körper selbst im Ruhezustand nicht mehr genügend Sauerstoff erhält, um sich zu regenerieren.
Sauerstoffmangel, Kälte, Sturm, Schnee und Eis, all das spürt man in EVEREST hautnah, ebenso wie die Kameradschaft, die Furcht, und den Willen, es ans Ziel zu schaffen.
Das erreicht der isländische Regisseur Baltasar Kormákur einerseits durch packende Aufnahmen und Bilder, die unter anderem an Originalschauplätzen am Everest, oder an italienischen Bergen gedreht wurden. Diese sind sogar derart gelungen, dass es leider umso stärker auffällt, wenn das Geschehen umschwenkt, und eindeutig im Studio gedreht wurde – zwar sind auch diese Szenen packend und glaubwürdig, nur muss man dafür ein gewisses Maß an „Suspension of Disbelief“ mitbringen.

Auf der anderen Seite entwickelt EVEREST seine Sogwirkung auch dadurch, dass der Film sich erstaunlich dicht an die tatsächlichen Ereignisse von 1996 hält, die aus verschiedenen Gründen – ich komme noch darauf zurück – äußerst gut dokumentiert sind. Große Dramatisierungen findet man allenfalls am Rande, und so entwickelt der Film sehr schnell eine äußerst glaubwürdige Atmosphäre.

Darüber hinaus leisten sämtliche Darsteller hervorragende Arbeit. EVEREST wird dem alten Spruch „bis in die Nebenrollen hinein hochkarätig besetzt“ wirklich gerecht, denn hier tummeln sich beinahe ausschließlich Stars oder zumindest bekannte Gesichter auf dem Berg. John Hawkes (eines jener bekannten Gesichter zu denen man nie den Namen kennt) und Josh Brolin etwa spielen hervorragend die Bezugspersonen fürs Publikum und gestalten dabei zwar keine allzu tiefen, aber ausreichend anrührende Figuren.
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Im Zentrum des Films steht allerdings, soweit man das in einem Ensemble-Stück wie EVEREST sagen kann, Jason Clarke. Der aktuell vielbeschäftigte Australier, der zuletzt im furchtbaren TERMINATOR: GENISYS als John Connor aufspielen durfte, stößt in EVEREST zwar eindeutig an seine schauspielerischen Grenzen, ist im Grunde aber die perfekte Besetzung für den zutiefst sympathischen und charismatischen Bergführer Rob Hall, der seine Gruppe um jeden Preis auf den Berg bringen will.
Der Film kann es sich leisten, andere große Namen wie Jake Gyllenhaal, Emily Watson, Robin Wright, Sam Worthington oder Keira Knightley in ihren Nebenfiguren geradezu zu verheizen. Am Ende tragen aber auch sie einen guten Teil zur emotionalen Wirkung des Films bei.

Und die ist enorm. Die sympathischen Charaktere, die man gut kennenlernt, ihre nachvollziehbare (wenn auch nicht erklärbare) Motivation, vor allem aber die realistische Darstellung der Probleme eines Aufstiegs auf den Everest sorgen dafür, dass der Film durchgehend hochspannend und zu keiner Sekunde langweilig ist. Anders als vergleichbare Filme, die sich möglicherweise entspannt ausgeruht hätten, bevor sie irgendeine Katastrophe über die Figuren hereinbrechen lassen, wird hier schon der „Alltag“ auf dem Berg als das gezeigt, was er ist: ein lebensgefährliches Abenteuer.

Fazit: Aber ... was ist es denn nun?


Das kratzt bereits an einem der größten Probleme des Films: Er lässt sich nur schwer in eine Schublade stecken. Was auf den ersten Blick wie ein „reines“ Drama oder ein Katastrophenfilm wirkt – und zweifellos starke Elemente davon hat – entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als lupenreiner Abenteuerfilm. EVEREST ist eine dramatisierte Chronik der Geschehnisse vom Mai 1996, die besonders in Amerika und der Bergsteigerwelt große Bekanntheit besitzen, auch dadurch, dass sie bereits mehrfach verarbeitet wurden, etwa als Fernsehfilm.
In Deutschland ist die Geschichte viel weniger bekannt, und so wird EVEREST es hier schwerer haben, da er mit einigen Erwartungen bricht und sich eben nicht klar und deutlich klassifizieren lässt. Weder als Drama noch als Katastrophenfilm funktioniert der Film so richtig, an Abenteuerfilme – noch dazu chronistische – ist das deutsche Publikum jedoch einfach nicht gewöhnt, während sie in den USA fast täglich im Fernsehen laufen. Der Versuch, mit EVEREST einen klassichen Fernsehstoff fürs 3D-Kino aufzublasen ist dabei eindeutig gelungen, könnte das deutsche Publikum aber etwas enttäuschen.
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Wer in den Film geht um sich unterhalten zu lassen, um in die Welt des Everest-Tourismus' einzutauchen (und darum geht es hier schlussendlich), wer aus dem sicheren Kinosessel heraus eines der gefährlichsten Abenteuer unserer Welt mit sagenhafter Aussicht genießen will, der ist in EVEREST ganz und gar richtig. Alle anderen fühlen sich dieses Jahr in SAN ANDREAS oder dem bald anlaufenden DER MARSIANER möglicherweise vertrauter. Aber sie würden etwas verpassen.

EVEREST gelingt das Kunststück, mit einem Budget von gerade einmal 65 Millionen Dollar einen zwar nicht perfekten, aber enorm spannenden Abenteuerfilm zu inszenieren, der weit mehr Höhepunkte bietet als nur den Gipfel, den die Figuren erklimmen. EVEREST ist großartige Kinounterhaltung, nicht nur für Bergsteiger, und einer der wenigen Filme, die jeden Cent des 3D Zuschlags wert sind!


Spoilerwarnung –
Ihr verlasst jetzt sicheres Gebiet. Im folgenden Teil finden sich stellenweise massive Spoiler zur Handlung des Films EVEREST! Wer sich von dem Film überraschen lassen will, dem empfehlen wir, später noch einmal reinzuschauen, um mehr über die Folgen der im Film geschilderten Ereignisse zu erfahren und über die Welt am Everest. Alle anderen dürfen gerne weiterklettern.




Einer der Hauptgründe dafür, dass EVEREST einen als Zuschauer so gefangennimmt, liegt darin, wie eng der Film sich an die tatsächliche Tragödie hält, die sich im Mai 1996 auf dem Gipfel abspielte. Dass die echte Tragödie so gut dokumentiert ist, ist dabei bereits ein Wunder an sich. Beinahe könnte man vermuten, dass „jemand“ gewollt habe, dass die Welt das Drama miterlebt.

Die Welt schaut zu - und streitet sich


So befindet sich beispielsweise just zur Unglückszeit ein Filmteam auf der Südseite des Bergs. Und nicht irgendeines. Man will den Everest und seine prachtvolle Schönheit in der spektakulären IMAX Bildqualität festhalten. Als die ersten Verunglückten der „Adventure Consultants“ in den unteren Lagern eintreffen, ist das IMAX-Team mittendrin und hilft beispielsweise persönlich dabei, Beck Weathers zu evakuieren. Auch filmt man die eintreffenden Expeditionsmitglieder der Unglücksgruppen. Im Schneideraum schließlich arbeitet man den Fokus des Films ein wenig um – als der IMAX Film EVEREST – GIPFEL OHNE GNADE 1998 erscheint, fokussiert er sich spürbar auf die Tragödie.
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Grund dafür ist Jon Krakauer, ein Mitglied der von Rob Hall angeführten „Adventure Consultants“ Gruppe, der selbst nur knapp mit dem Leben davonkommt.
Jon Krakauer, ein durchaus erfahrener Bergsteiger und ein Autor, der sich vor allem auf tragische Abenteuergeschichten spezialisiert hat, begleitet die Expedition zu Werbezwecken – er soll den Abenteuergeist und das Zugehörigkeitsgefühl auf dem Everest schildern. Stattdessen wird er zum Chronisten des Dramas.
Krakauer sorgt etwa zeitgleich zum Unglück auf dem Everest mit seinem Buch „Into the Wild“ für weltweites Aufsehen (dessen Geschichte jedem Filmfan spätestens aus dem gleichnamigen Drama von Sean Penn bekannt sein sollte). Er hält seine Erfahrungen auf dem Everest in dem Buch „Into thin Air“ fest (kreative Titelwahl kann man ihm nicht vorwerfen). Das Buch entwickelt sich schlagartig zum Bestseller, wird über zehn Millionen Mal verkauft und die Tragödie um Rob Halls „Adventure Consultants“ wird vor allem in den USA wenigstens so berühmt wie hierzulande die Katastrophe von Ramstein. Berühmt genug auf jeden Fall, dass das IMAX Team sich wie erwähnt im Schneideraum entschließt, den Fokus stärker auf die Tragödie aus Krakauers Buch zu legen.

Dabei bricht Krakauer in seinem Buch eine lang anhaltende Diskussion vom Zaun. Er macht dem Bergführer Anatoli Bukrejew von der Expeditionsgruppe „Mountain Madness“ schwere Vorwürfe, verantwortungslos gehandelt zu haben, nicht zuletzt durch seine Weigerung, ohne Sauerstoffgerät aufzusteigen, aber auch durch andere Aspekte seiner Arbeit.
Bukrejew schreibt als Gegendarstellung seinen eigenen Bericht über die Ereignisse: Sein Buch „Der Gipfel“ erscheint kurz nach Krakauers vorwurfsvollem Werk. (Krakauers Buch wird außerdem die direkte Vorlage des Fernsehfilms INTO THIN AIR, welcher das Drama bereits 1997 fürs Fernsehen verfilmt.)
Fest steht, dass immerhin Bukrejews „Heldentaten“ im Mai 1996 belegt zu sein scheinen. Er findet schließlich auch die Leiche von Scott Fischer, die er von der Aufstiegsrute entfernt und ein Stück weiter abseits zur Ruhe bettet.

In der Bergsteigerwelt entbrennt eine heiße Diskussion darüber, ob und inwiefern Bukrejew wirklich so riskant gehandelt habe wie in Krakauers Buch beschrieben, oder ob sein Verhalten (er war als erstes am Gipfel gewesen, hatte dort anderthalb Stunden ausgeholfen, und war lange vor allen anderen wieder abgestiegen) nicht sogar der Grund dafür war, dass er in der Notsituation so gut aushelfen konnte - immerhin war er bereits deutlich ausgeruhter, als der Blizzard einsetzte.
Das American Alpine Journal stellt Krakauers Vorwürfen gegenüber schließlich leicht spöttisch fest, dass „jeder einzelne von Bukrejews Kunden ohne größere Verletzungen überlebte, während die Kunden, die starben oder schwer verletzt wurden, Mitglied Ihrer [Krakauers] Reisegruppe waren. Könnten Sie erläutern, wie [Bukrejews] Unzulänglichkeiten als Bergführer zum Überleben seiner Kunden führte?“
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Allerdings hatte auch Bukrejews Arbeitgeber Scott Fischer sich wiederholt über Bukrejews mangelnde Professionalität und Sorgfalt den Kunden gegenüber beklagt.
Nachdem sich Krakauer, Bukrejew und andere Parteien beinahe ein Jahr lang gezofft hatten, fand man eine Einigung. Kurz darauf, am 25. Dezember 1997, wurde Anatoli Bukrejew bei Seilarbeiten an der Westwand der Annapurna von einer Lawine erwischt und getötet.

Auch Beck Weathers schrieb ein Buch über seinen Beinahe-Tod am Everest: „Für tot erklärt: Meine Rückkehr vom Mount Everest.“ Weathers, dem später der rechte Arm oberhalb des Handgelenks, sämtliche Finger der linken Hand und die Nase amputiert werden mussten, ist heute auch als Motivationsredner sehr gefragt.

Ein Berg aus Müll und Devisen


Insgesamt war das Unglück von 1996 das bis dato schwerste, das je auf dem Gipfel stattfand, obwohl das Jahr selbst, statistisch betrachtet, überdurchschnittlich sicher war.
Erst im April 2014 ereignet sich ein schlimmeres Unglück, als bei einer Lawine 16 Sherpa verschüttet werden, und natürlich im April 2015, als das große Erdbeben von Nepal die bisher schlimmste Katastrophe am Everest hervorruft. Mindestens 19 Menschen sterben in den Lawinen, die durch das südliche Basislager donnern, darunter auch der Google Geschäftsführer Dan Fredinburg. Wenigstens 120 weitere Personen werden verletzt oder gelten seither als vermisst - im Vergleich zu den weiteren über 9000 Toten, die das Erdbeben in Nepal fordert, bleibt das jedoch erneut eine verhältnismäßig geringe Zahl.

Auch für den Everest-Tourismus ist die verheerende Naturkatastrophe das vorläufige Ende – den ganzen Sommer hindurch ist der Berg gesperrt und darf nicht betreten werden. Erst im September 2015 wird er wieder für Touristen und Bergsteiger freigegeben.
Für Nepal ein herber Schlag, vor allem finanziell, denn: der Everest ist mittlerweile eine der größten Einnahmequellen des kleinen Landes. Versuchten in den vierunddreißig Jahren zwischen 1953 und '89 lediglich 284 Bergsteiger, den Everest zu besteigen (1996 waren es bereits 98!), erreichte man diese Zahl im Jahr 2003 erstmals innerhalb eines Jahres. Mittlerweile kommen pro Jahr wenigstens 550 Bergsteiger zum Mount Everest, in den letzten Jahren sogar über 650. Jährlich fließen durch die Besteigungslizenzen wenigstens 3,3 Millionen Dollar in dieStaatskasse Nepals, und zehntausende nepalesischer Hotelbesitzer, Bergführer und nicht zuletzt die Sherpa sind auf die Einkommen durch die Bergtouristen angewiesen. Doch der gigantische Ansturm setzt dem Berg zu. Besonders die Südroute gleicht mittlerweile einer Müllkippe, vor allem, weil die Bergsteiger jeden Müll, inklusive verbrauchter Sauerstoffflaschen, einfach liegen lassen. (Der Transport von Fracht den Berg runter ist problematisch – einer der Gründe, weshalb die meisten der dort oben Verstorbenen „auf dem Berg verbleiben“ und nur in Ausnahmefällen durch Sonderexpeditionen geborgen werden. Viele der noch immer offen herumliegenden Leichen werden zu Wahrzeichen oder Orientierungspunkten für andere Kletterer, wie etwa "Green Boots", eine bis heute unidentifizierte Leiche, an der man auf der Nordroute vorbeiläuft.)
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Viele Bergsteiger, darunter Reinhold Messner, fordern Nepals Regierung immer wieder auf, den Berg für einige Jahre zu schließen, um ihm eine Erholungspause zu gönnen. Es ist dem Film EVEREST nicht hoch genug anzurechnen, dass er auch auf diese Probleme hinweist, und den Berg so verschmoddert darstellt, wie er es '96 bereits war - ein realistisches, recht kommerzialisiertes Bild abseits der gängigen Bergsteigerromantik.
Die nepalesische Regierung weigert sich zwar, den Berg ganz zu sperren, handelt aber dennoch. Mittlerweile gilt für die Sauerstoffflaschen ein Pfandsystem – findige Gipfelstürmer sammeln daher auf dem Rückweg gerne weiter unten liegende leere Flaschen ein - der Situation weiter oben hilft das jedoch kaum.

Kommt rum, ist voll hier


2014 entschließt sich Nepals Tourismuszentrale außerdem zu einem umstrittenen Schritt: Sie senkt die Besteigungsgebühren für den Everest von 25.000 Dollar pro Kopf auf 11.000 Dollar. Damit will man dem Vorwurf entgegenwirken, dass sich nur die Superreichen den Aufstieg leisten könnten, aber vor allem will man so mehr Everest-Touristen anlocken.
Die Aufregung in der Fachwelt ist groß – nicht nur, weil der Berg ohnehin bereits chronisch überfüllt ist, besonders in der Hauptsaison, sondern auch, weil mit der neuen Regelung das Ende der Rabatte für Gruppenbesteigungen verkündet wird. Nepal wolle Einzelkletterer stärker motivieren, heißt es, was von den erfahrenen Kletterern mit Entsetzen vernommen wird. Ein Aufstieg in der Gruppe ist deutlich sicherer. Nun fürchten viele, dass weniger erfahrene Bergtouristen alleine oder in Kleinstgrüppchen den Aufstieg wagen, und – zusätzlich zur erneut verstärkten Verstopfung der Route (noch heute kommt es zu langen Wartezeiten am Hillary Step) die Unfallrate steigen wird. Zwar ist die Kameradschaft am Berg hoch, wie auch EVEREST aufzeigt, dennoch befürchtet man das Schlimmste, und erfahrene Everest Besteiger erwarten, in Zukunft deutlich mehr überfordeten Hobbykraxlern aus der Klemme helfen zu müssen. Die kommenden Jahre werden zeigen, welche Auswirkungen Nepals Everest-Politik mit sich bringt.

Übrigens hat auch Tibet ein Anrecht auf den Berg, der direkt auf der Grenze der beiden Länder liegt. Tibet bietet jedoch nur den Aufstieg über die deutlich unattraktivere, da deutlich schwerere Nordroute, die nicht annähernd so viele Bergsteiger anlockt. Das gefährlichste Teilstück im Norden ist dabei vermutlich der „The North Face“ genannte Aufstieg, welcher der berühmten Outdoormarke ihren Namen gab.

Die wahren Kraxler


Weiterhin tragisch ist, dass bis heute – auch EVEREST macht sich hier schuldig – die Rolle der Sherpa kaum beachtet wird. Die Sherpa sind deshalb so fundamental wichtig für die Everest Besteigung, weil sie hier heimisch sind. Das relativ kleine Volk (aktuellen Zahlen zufolge gibt es etwa 180.000 Sherpa) lebt seit Jahrhunderten in den Höhen des östlichen Himalayas und kann sich hier deutlich sicherer und leichter bewegen als die Touristen aus dem Rest der Welt. So nimmt es auch kein Wunder, dass die meisten Everest Rekorde den Sherpa gehören.
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Der lange Jahre von der Geschichte ignorierte Sherpa Tenzing Norgay etwa, der mit Edmund Hillary gemeinsam den Gipfel erreicht, gilt mittlerweile vielen als erster Mensch auf dem Mount Everest – die Frage, wer von beiden denn nun zuerst oben war, ist umstritten und wird wohl nie gelöst werden: Hillary und Tenzing erklärten ein Leben lang, sie seien gemeinsam auf den Gipfel gestiegen, basta!

Appa Sherpa erklomm am 10. Mai 1990 gemeinsam mit dem 1996 verunglückten Rob Hall erstmals den Gipfel – und sollte jeden Rekord brechen! Appa Sherpa konnte wegen eines privaten Bauprojekts 1996 trotz wiederholter Bitten von Seiten Halls nicht an der Expedition von "Adventure Consultants" teilnehmen - was vielleicht sein Glück war. Bis heute konnte Appa Sherpa den Gipfel mindestens 21 Mal erreichen – ein ungebrochener Rekord. Einen guten Teil dieser Trips nahm er als Mitglied einiger Aufräumtrupps wahr, die sich immer wieder aufmachen, die Müllberge vom Gipfel zu schaffen. Außerdem ist er einer der wenigen Menschen, die den Gipfel sowohl über die Süd, als auch die Nordseite erreicht haben.

Dennoch werden die Sherpa – zumindest außerhalb der Bergsteigerwelt – immer noch allenfalls als Randerscheinung oder „Arbeitstiere“ wahrgenommen. Auch in EVEREST beschränkt sich ihre Rolle vornehmlich darauf, Lasten zu tragen oder vorzusteigen, um den Touristen Leitern und Seile anzubringen, dabei sind sie häufig die erfahrensten Bergsteiger und unter den Besuchern des Berges anerkannte Experten. Viele regelmäßige Everest-Besteiger verbindet zudem eine enge Freundschaft mit einigen der Sherpa.

Wo der Tod das Leben regiert


Außerdem spart der Film – wohl aus verständlichen Gründen – drei indische Bergsteiger aus, die ebenfalls am 10. und 11. Mai 1996 auf der Nordroute von dem Unwetter überrascht wurden und ums Leben kamen. Ihr Fall ist deutlich weniger dokumentiert (obwohl sich auch auf der Nordseite ein Filmteam für eine BBC Dokumentation befand). Ihr Tod löste heftige Reaktionen aus, weil zwei Japanische Kletterer vermutlich an den Sterbenden vorbei den Gipfelmarsch versucht hatten, ohne zu helfen oder zu versuchen, die reglosen Inder zu retten. Mittlerweile kann davon ausgegangen werden, dass weder die Kraftreserven, noch die Ausrüstung der Japaner dazu geeignet gewesen wären, den Indern zu helfen, so dass ihnen gar keine Möglichkeit dazu blieb.
Denn auch das ist Teil des Lebens unter den extremen Bedingungen in der "Todeszone": Oftmals ist es unmöglich, Sterbenden oder Verletzten zu helfen, da die eigenen Kräfte - oder die Ausrüstung - dafür nicht reichen. Immer wieder sind Everest-Besteiger gezwungen, machtlos an sterbenden Kameraden vorbei zu marschieren. Manchmal aus Mangel an Alternativen, manchmal im Kampf ums eigene Überleben.
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Die Katastrophe vom 10. und 11. Mai 1996 wiederholt sich in dieser enormen Ausprägung bisher nicht. Die Bergführer lernen in den folgenden Jahren dazu. Starben 1996 bei 98 Gipfelversuchen noch insgesamt 15 Menschen, sind es 2004 beispielsweise bei über 400 Gipfelversuchen nur noch 11 Tote. Einige Bergführer weigerten sich anschließend, Hobbybergsteiger auf einen der 8000er (Berge mit einer Höhe von über 8000 Metern) zu führen, weil das Risiko untragbar sei. Andere, darunter Krakauer und Messner, forderten, dass man den Einsatz von zusätzlichem Sauerstoff verbieten, oder nur auf Notfälle beschränken müsse. Das würde einerseits viele ungeeignete Bergsteiger abschrecken und andererseits für eine bessere Akklimatisierung sorgen, da der zusätzliche Sauerstoff ein falsches Sicherheitsgefühl erzeuge.

Sicher bleibt jedoch, und eben das zeigt EVEREST besser als die meisten anderen Filme seiner Art: Zwar ist ein kommerzieller Aufstieg auch für weniger erfahrene oder geeignete „Touristen“ möglich – aber nicht unbedingt ratsam. Die Belastungen für den Körper sind unvorstellbar. Wer nach der letzten Etappe den Gipfel erreicht, verfügt, trotz Zusatzsauerstoffs und eines im Grunde „nur“ sehr steilen, achtstündigen Spaziergangs, über dieselben Reserven, die ihm nach einem Marathonlauf bleiben würden. Und der Rückweg liegt noch vor ihm. Eben das wird der Expedition im Mai 1996 zum Verhängnis: Die ungewöhnliche Wetterlage senkte den ohnehin niedrigen Sauerstoffgehalt der Luft um bis zu weitere 14%. Die enormen Wartezeiten am Hillary Step, die daraus resultierende Verspätung und der lange Aufenthalt am Gipfel (der für gewöhnlich maximal 30 Minuten beträgt!) hatten die Teilnehmer weit über das übliche Maß hinaus ausgelaugt. Den meisten von ihnen fehlte beim Abstieg bereits die Kraft auch nur zu stehen, geschweige denn, sich orientierungslos durch die schneidenden Orkanböen eines Blizzards zu kämpfen.

In Anbetracht dessen ist es ein Wunder, dass nicht noch Schlimmeres geschah – und auch die Leistungen Einzelner, wie etwa Anatoli Bukrejew, der möglicherweise tatsächlich von seiner Unabhängigkeit vom Sauerstoff und seiner frühen Umkehr profitierte, wirken unter diesen Bedingungen noch bewundernswerter, als sie im Film gezeigt werden.

8848 Meter – oder im Englischen 29029 Fuß Höhe sind einfach kein Ort, an dem Menschen sich aufhalten sollten. Filme wie EVEREST bieten eine gute Möglichkeit, das Abenteuer dennoch zu erleben.
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