20.01.17

Kinokritik: Manchester by the Sea (USA 2016) - Das dramödische Duo

Trauer und der Verlust geliebter Menschen ist eher der Stoff für schwere und tragende Dramen.
Und obwohl MANCHESTER BY THE SEA durchaus ein Drama ist, und einige wirklich tragische Momente zu bieten hat, ist er doch ein wahres, beinahe heiteres Vergnügen. Nur selten kommt man in den Genuss eines so herzerfrischend schönen Films, einer Ode an das Leben, die gleichzeitig auch schmerzlich an die Zerbrechlichkeit des Glücks erinnert.
Sehenswert wird der Film vor allem durch das nahezu perfekte Zusammenspiel seiner beiden Hauptfiguren, durch die Lebendigkeit der Gefühle und dank der Tatsache, dass das clevere Script jedes Klischee weiträumig umschifft. Schon jetzt einer unserer Topfilme des Jahres!
© Universal Pictures International Germany GmbH

Marcos Blick:

Mit MANCHESTER BY THE SEA startet das neue Kinojahr gleich mit einem echten Hingucker.
Jubelstürme bei der Premiere auf dem Sundance Film Festival 2016, sowie der zweithöchste Preis der dort je für die Vertriebsrechte eines Films bezahlt wurde und etliche Auszeichnungen für Hauptdarsteller Casey Affleck versprechen ein kleines Meisterwerk.
Auf den ersten Blick scheint MANCHESTER BY THE SEA ein beinahe klassischer Kandidat für ein etwas artifizielles Oscardrama zu sein. Stille Charaktere, tristes Wetter, eine große menschliche Tragödie. Erst auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der Film all das zwar bietet, darüber hinaus aber wirklich unterhaltsames Kino ist.

Tragischer Humor


Lee Chandler ist ein stiller Typ. Er arbeitet als Hauswart in Boston, betreut dort vier Gebäude und lebt in einem winzigen Raum im Souterrain. Lee ist weder besonders gesprächig, noch besonders sozial. Die Meinung anderer ist ihm herzlich egal, ebenso sein eigener Komfort, und seine Zukunft erst recht. Er wirkt in sich gekehrt und scheint, mit oft leerem Blick, eher von Tag zu Tag zu leben, ohne seiner Existenz noch viel abzunötigen.
Der Alltag des zurückhaltenden Eigenbrötlers gerät aus der Bahn, als sein herzkranker Bruder verstirbt. Lee nimmt sich einige Tage frei, um alles zu regeln und fährt zurück in den kleinen Küstenort Manchester by the Sea, wo er einst gelebt hat.
Völlig überraschend erfährt Lee, dass sein Bruder ihm die Vormundschaft für dessen 16jährigen Sohn Patrick überlassen hat – eine Verantwortung, vor der Lee nahezu panisch zurückschreckt.
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Schließlich erklärt er sich bereit, für den Jungen zu sorgen – in Boston. Dafür aber müsste er Patrick aus seinem gewohnten Umfeld reißen.

Also willigt Lee ein, einige Monate bei Patrick in Manchester zu bleiben – eine Entscheidung mit Folgen. Denn je länger Lee in dem kleinen Ort bleibt, desto dichter holt ihn die Vergangenheit ein, der er zu entfliehen versucht. Bald reißen alte Wunden auf und kündigen eine Tragödie katastrophalen Ausmaßes an ...

Was sich zunächst wie ein unnötig schwermütiges Winterdrama anhört, entpuppt sich schließlich als außergewöhnlich heitere und warmherzige Abhandlung über Trauer und Verlust.
Es macht einfach Spaß, Onkel und Neffe zuzuschauen, der eine, der sein Leben in Manchester noch vor sich hat, und der andere, der seines dort so schnell wie möglich hinter sich lassen will.

Am Ende sind es drei Faktoren, die MANCHESTER BY THE SEA von ähnlichen Dramen abheben und so enorm sehenswert machen.

Zum einen wäre da der Humor.
Wie schon im vergleichbaren DEMOLITION, der letztes Jahr im Kino lief, gelingt MANCHESTER BY THE SEA ein atemberaubender Spagat zwischen Drama und Komödie. Denn bei aller Dramatik der Ereignisse gelingt es den skurrilen Situationen und Dialogen, vor allem aber den beiden Hauptfiguren immer wieder, eine enorme Komik zu entwickeln.
Casey Affleck sagt über den Balanceakt zwischen Humor und Tragik: „Ich hatte Vertrauen in [Regisseur] Kenny [Lonergan] und in die Story. Es gibt kein einziges Wort im Script, das nicht sehr bewusst ausgewählt wurde. Und Kenny schreibt nie etwas ohne Humor. Er ist witzig. Er sieht den Humor in Situationen. Und er schwächt das Drama nicht ab. Vielleicht macht es die Tragödie umso besser spürbar. Ich weiß es nicht. Aber er ist ein witziger Mensch, und er schreibt witziges Zeug. Er ist sehr einfühlsam und leidenschaftlich, aber er verliert nie seinen Sinn für Humor.“
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Und ja, Afflecks Lobpreisungen auf seinen Regisseur sind im Film tatsächlich nachvollziehbar, denn in der Tat gelingt es Autor und Regisseur Lonergan, sein Drama durch eine ordentliche Portion Humor nicht nur verdaulicher zu machen, sondern auch leibhaftiger. Und zu keiner Zeit wird das Drama durch den beinahe allgegenwärtigen Humor geschmälert oder ins Lächerliche gezogen.

Und das wäre leicht gewesen, auch und vor allem ohne Lonergans elegantes Händchen für lebensnahe Situationen. Denn MANCHESTER BY THE SEA erzählt eine Geschichte, die mit Leichtigkeit in Melodramatik hätte versinken können.
Wer wissen will, wie das ausgesehen hätte, dem sei VERBORGENE SCHÖNHEIT empfohlen, der sich ebenfalls mit Verlust und Trauer auseinandersetzt, sich dabei jedoch derartig im Kitsch und der Melodramatik wälzt, dass es kaum auszuhalten ist.

Das dynamisch trauernde Duo


MANCHESTER BY THE SEA hingegen umschifft elegant jedes Klischee. Wer erwartet, hier zwei Trauerklößen beim Weinen zuzuschauen, ist im falschen Film. Denn das eigentliche Drama wird gar nicht direkt angesprochen. Die Geschichte handelt zwar von Verlust und Abschied, erzählen tut sie jedoch von zwei unterschiedlichen Männern, die an gänzlich unterschiedlichen Punkten im Leben stehen, und dennoch zueinander finden. Über zwei Stunden schaut man dem sturen Lee, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt, dabei zu, wie er versucht, mit seinem stolzen und ebenfalls nicht auf den Mund gefallen Neffen Patrick zusammen zu leben. Dabei lernt man vor allem Patricks Leben kennen – seine Hobbys, seine Freunde, seine Werte und seine Zukunftswünsche. Über Lee erfahren wir lange nichts – bis wir herausfinden, dass es dafür einen Grund gibt.
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Das Zusammenwachsen von Onkel und Neffe ist dabei so unterhaltsam, dass man zwischenzeitlich immer wieder vergisst, dass es hier eigentlich um Trauerverarbeitung geht. Diese wird vor allem zwischen den Zeilen erzählt.

Überhaupt erzählt MANCHESTER BY THE SEA viel, indem er bestimmte Dinge nicht erzählt. Manche Geschehnisse, das zeigt sich schnell, sind zu grässlich, um sie in Worte oder Bilder zu packen. Der Film nutzt das Hilfsmittel, dass er die nicht weniger dramatischen Folgen der Ereignisse zeigt.
Dadurch lässt er den Zuschauer lange im Ungewissen. Vor allem was Casey Afflecks extrem reduziertes Spiel angeht, kann das für Verwirrung sorgen, und nicht wenige Kritiker werfen dem Film vor, Affleck habe gelangweilt gewirkt, oder sein gezielt emotionsloses Spiel habe sie genervt. Dabei ist es gerade Afflecks Körperlichkeit, die seinen Schmerz, die Angst vor weiteren Verlusten und die daraus resultierende selbstgewählte Isolation auch für den Zuschauer spürbar macht.

Tatsächlich definiert Affleck hier äußerst intensiv einen bewussten Charakterzug, der nicht einfach darzustellen ist. Das darf natürlich jeden Zuschauer stören, als schlechtes Spiel darf man es ihm jedoch nicht vorwerfen. Regisseur Lonergan ist von der Entscheidung, Affleck zu casten noch immer überzeugt: „Er ist von der Verfassung her passend, weil er sehr emotional ist, er hat einen tollen Sinn für Humor, und er ist selbst ein recht grüblerischer Mensch, und er kennt sich in der Gegend aus, in der der Film spielt. Er ist ein außerordentlich guter Schauspieler. Und er hat diese Darstellung abgeliefert, die jenseits von allem liegt, was ich gerade gesagt habe. Es ist einfach brillant. Er gibt sich der emotionalen Realität völlig hin, was nicht einfach ist, und es ist nicht leicht, als Schauspieler damit zu leben. Es ist eine schwere Last, die man mit sich herumschleppt, und er tut das mit solcher Leichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Es ist wirklich erstaunlich.“
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So ist es kein Wunder, dass Affleck aktuell als einer der Topfavoriten auf den Oscar als Bester Schauspieler gilt, hat er doch bisher 45 Preise für die Rolle gewonnen, zuletzt den Golden Globe. Hinzu kommen noch einmal gut zehn Nominierungen, wobei einige davon, etwa der BAFTA-Award oder der SAG-Award noch nicht vergeben wurden, bei denen Affleck aber ebenfalls als Topfavorit gilt.

Regisseur Lonergan ist sich beim Verfassen des Scripts durchaus der Gefahr bewusst, den Film im ersten Teil so langsam zu inszenieren, möglichst dicht an der Realität zu bleiben, und das Leben der Hauptfigur als Hauswart zu begleiten. In dieser ruhigen Eintönigkeit sieht er die Chance, das Interesse der Zuschauer zu packen und die emotionale Wucht zum Ende hin umso verstörender zu gestalten: „Die erste Fassung war einfach chronologisch erzählt, und das war ziemlich langweilig. Ich habe neu angefangen, diesmal mit seinem Job beim Schneeschieben. Das erschien mir von Anfang an richtig, weil es dem Zuschauer sofort erklärt, wer der Mann ist. Ehrlich gesagt beginnt man sich zu fragen, wieso er so ist wie er ist. Dadurch gewinnt man ein wenig dramatisches Interesse, was man als Autor ja erreichen will. Mir gefiel die Idee, diesen sehr kalten, beinahe anthroposophischen Blick auf diesen Typen zu haben, der relativ anonym ist, sich überhaupt nicht einbringt, und nicht wie ein normaler Mensch redet. Der einfach eine Aufgabe nach der nächsten erledigt, bis der Tag rum ist. Dann betrinkt er sich, geht nach Hause, und sucht sich vielleicht eine Kneipenschlägerei.“

Dabei muss Affleck den Film gar nicht alleine stemmen. Ihm zur Seite steht der inzwischen zwanzigjährige Lucas Hedges (der während des Drehs frische achtzehn war).
Diese Kombination ist dann auch der zweite Aspekt, der MANCHESTER BY THE SEA freudig aus der Masse hervorhebt.
Lucas Hedges, bisher durch kleinere Rollen in MOONRISE KINGDOM, DAS ZERO THEOREM, GRAND BUDAPEST HOTEL oder in der umstrittenen Miniserie THE SLAP aufgefallen, ist die perfekte Ergänzung zu Afflecks Charakter.
Obwohl ebenfalls von neuenglischer Stoik beherrscht, wirkt er neben dem leidenschaftslosen Affleck geradezu lebhaft. Er beweist ein enormes Timing für körperlichen Humor und verleiht seinem Teenagerjungen eine Warmherzigkeit, die selten ist.
Beide zusammen erwecken noch die skurrilste Situation und den alltäglichsten Dialog mit Leben und Herzenswärme. Eine derartig ideale Chemie zweier Darsteller auf der Leinwand ist selten und einer der bedeutendsten Gründe dafür, dass es einfach Spaß bringt, den beiden zuzuschauen.

Der smarte Teeny


Hinzu kommt, dass mit Patrick endlich mal ein Teenager auf die Kinoleinwand kommt, den man ernst nehmen und mögen kann. Man kennt das: Für gewöhnlich haben Teenager in Filmen vor allem zwei Aufgaben: Als Emo-Kid unter der Scheidung ihrer Eltern zu leiden, oder als sturköpfiger „Ich-mach-was-ich-will“-Vertreter trotz Verbots nachts aus dem Haus zu schleichen und dadurch, je nach Filmgenre, aufgeschlitzt, entführt oder geschwängert zu werden.

Kurz: Teenager im Film sind in den meisten Fällen absolute Nervensägen, vor allem dann, wenn sie neben den erwachsenen Figuren nur eine Nebenrolle einnehmen.
Wie viel erquickender ist es da, wenn Autor und Schauspieler einem Teenager zugestehen, nicht nur die heimliche Hauptfigur, sondern vor allem dem Erwachsenen ebenbürtig zu sein?

Patrick ist ein deutlich glaubhafterer Teenager als die meisten anderen Leindwandversionen. Er ist clever und von sich überzeugt, dennoch voller Zweifel und Ängste, Hoffnungen, Träume, aber auch Enttäuschungen. Hier spielt ein achtzehnjähriger eine Figur, die versucht, mit ihrem schwierigen Onkel klar zu kommen, während sie den Tod des eigenen Vaters verkraftet, die gleichzeitig versucht, sich selbst zu heilen und dem Onkel zu helfen, die einer ungewissen Zukunft entgegen schaut, und gerade deshalb der Gegenwart alle Freuden abverlangt, die sie ihm bieten kann.
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Statt einen trauernden, gebrochenen Teenager zu schreiben, geht Regisseur und Autor Kenneth Lonergan hier ebenfalls den umgekehrten Weg: Er zeigt einen lebenslustigen, smarten Teenager, der auf seine ganz eigene Art trauert.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang außerdem die – mal wieder – hervorragende Michelle Williams, die darstellerisch ebenfalls mit an Bord ist. Sie mimt Lees Ex-Frau und füllt ihre kurze Screentime mit so viel Gefühl und Herzenswärme, dass es einem nicht nur das Herz zerreißt, sondern auch sie heimst seither etliche Preise und Nominierungen ein und gilt als eine der Favoritinnen auf den Oscar für die Beste Weibliche Nebenrolle. Noch heute räumt sie ein, dass der Verlust ihres Lebensgefährten Heath Ledger sie für derartige Themen empfänglich macht. Der Schmerz über ihren Verlust dauert bis heute an.

Damon und Affleck – mal anders


Ursprünglich soll MANCHESTER BY THE SEA eine Gemeinschaftsarbeit zwischen Lonergon und Matt Damon werden. Damon hat auch die Ursprungsidee für die Geschichte. Lonergan soll daraus ein Drehbuch verfassen, während Damon Regie und Hauptrolle übernehmen soll.
Doch die Suche nach ausreichend Geldern für das kleine Drama verzögert sich. Als es so weit ist, ist Damon so sehr mit DER MARSIANER beschäftigt, dass er eine größere Beteiligung an dem Film ablehnen muss. Er überträgt Lonergan das Projekt, gibt ihm freie Hand, und bleibt als Produzent an Bord.
So übernimmt Lonergan selbst die Regie und castet Damons Freund Casey Affleck in der Hauptrolle.

Fazit


Wir können MANCHESTER BY THE SEA wirklich nur empfehlen. Eines der schönsten, erfrischendsten und klischeelosesten Dramen der letzten Jahre, und mit Sicherheit einer der besten Filme des Jahres 2017. Berührend, toll gespielt, unglaublich humorvoll und ein Film, der nachwirkt.
Neben dem aktuell ebenfalls laufenden und herausragenden LA LA LAND sollte MANCHESTER BY THE SEA euch das Geld für eine Kinokarte unbedingt wert sein!
© Universal Pictures International Germany GmbH

2 Kommentare:

  1. Ich hab das Gefühl derzeit mehr im Kino als bei mir zu Hause zu wohnen. Es gibt einfach zu viele gute Filme, die es zu schauen gilt...

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    1. Das geht uns ebenso. Allerdings ist das jedes Jahr so. Zwischen Dezember und März kommen die Filme in die deutschen Kinos, die Oscarchancen haben und das sind ja oft sehr gute Filme. Erfahrungsgemäß ebbt das Ganze ab Mai kurz ab, bevor dann die Sommerblockbuster starten, um dann - wie so oft - betulich das Kinojahr ausklingen zu lassen. Es besteht also Hoffnung, die eigenen vier Wände alsbald wieder in vollen Zügen genießen zu können... :-)

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