15.06.15

Tagebuch eines Skandals (GB 2006) - EinFilmVieleBlogger

EinFilmVieleBlogger lautet die Devise, unter der uns die hochgeschätzten Kollegen des unbedingt empfehlenswerten Blogs schoener-denken.de aufgefordert haben, ein britisches Thriller-Drama der etwas anderen Art unter die Lupe zu nehmen.

In TAGEBUCH EINES SKANDALS kollidieren mit Judi Dench und Cate Blanchett zwei der absoluten Topstars des aktuellen Kinos, und während es leicht fiele, die zwei Dauerkartenbesitzerinnen für eine Oscarnominierung darstellerisch zu unterfordern, dürfen sie hier die volle Bandbreite ihres Könnens aufbieten.
Am Ende ist es der Film selbst, der unter den Forderungen seiner Geschichte ein wenig einknickt.

© Twentieth Century Fox Home Entertainment
Jetzt auf DVD erhältlich
Marcos Blick:

TAGEBUCH EINES SKANDALS ist ein verhältnismäßig kleiner britischer Film, der vermutlich zehn Jahre zu spät, und zwei Nummern zu realistisch daherkommt, um großes Aufsehen zu erregen, und so entwickelt er sich eher zum Geheimtipp für Cineasten und Oscarfans (beide Darstellerinnen, und das Drehbuch, erhalten eine Oscarnominierung).

TAGEBUCH EINES SKANDALS erzählt von der alternden, kurz vor der Pensionierung stehenden Geschichtslehrerin Barbara Covett, die an einer eher unterdurchschnittlichen Londoner Schule mit Strenge und Respekt die Kinder im Zaum zu halten weiß.
Als eines Tages die junge, lebenslustige und außerordentlich attraktive Sheba Hart das Kollegium ergänzt, bringt diese ordentlich frischen Wind in die Schule.
Barbara ist fasziniert von der jungen Frau, von ihrem Charisma und ihrer Anziehungskraft, und beginnt, eine Freundschaft aufzubauen.
Schon bald entdeckt Barbara allerdings, dass Sheba ein Geheimnis hat, welches ihr ganzes Leben ruinieren könnte – und die einsame alte Frau erkennt darin ihre Chance. Sie behält den potentiellen Skandal für sich, fordert dafür aber Shebas ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuneigung. Als Sheba sich zwischen ihrer einnehmenden Freundin und ihrer Familie entscheiden muss, eskaliert die Lage ...
© Twentieth Century Fox Home Entertainment

Die drei Themen des Films


Filmpaarungen sind in der Regel in drei Sorten aufgeteilt: Liebespaare, Familien und Freunde. Die letzte Kategorie ist tatsächlich die unterentwickelste, was einen simplen Grund hat: Liebespaare werden vor allem dann interessant, wenn sie zusammenkommen oder sich trennen, wenn sie also aus einer Unterschiedlichkeit in eine Gemeinsamkeit finden oder andersherum.
Filme mit Familienkonstellationen sind am ergiebigsten, denn seine Familie sucht man sich nicht aus, und hier kann man buchstäblich von Geburt an an jemanden geraten, mit dem man nicht klarkommt.
Beide Konstellationen bergen daher ungeheures Konfliktpotential in sich, dem Stoff also, aus dem Geschichten sind.

Freunde hingegen sucht man sich aus, und man wählt für gewöhnlich die Personen in seinen Freundeskreis, bei denen ein möglichst geringes Konfliktpotential besteht. Freundschaften sind daher denkbar schlechter Stoff für Geschichten.
So ist es auch kein Wunder, dass die meisten Filme und Bücher über Freundschaft davon erzählen, wie die Freunde gemeinsam einen Konflikt bewältigen, der sie alle betrifft. Filme wie STAND BY ME, THELMA & LOUISE oder, ebenfalls von King ersonnen, THE SHAWSHANK REDEMPTION sind dafür etwa herausragende Beispiele.
Manchmal verlagert ein Autor eine Freundschaft auch in den familiären Bereich, und entwickelt daraus im Kern familiäre Konflikte. Die Mär der uralten „Freunde, die wie Brüder sind“, und sich bis aufs Blut zerstreiten, ist eine immer wieder fesselnde und macht Meisterwerke wie BLOOD IN BLOOD OUT, kleine Perlen wie KLEINE MORDE UNTER FREUNDEN und selbst aktuelle Filme wie VICTORIA so intensiv.
Oftmals dienen Freundschaften auch schlicht als Motivation oder Rückhalt, ein Drama durchzustehen. Sie geben einzelnen Protagonisten Kraft, ohne dass man direkt gemeinsam die Gefahr angeht. Viele „Frauenfilme“ wie GRÜNE TOMATEN, MAGNOLIEN AUS STAHL oder NOW & THEN fallen in diese Kategorie, aber auch allgemeine Dramen wie DIE FARBE LILA werden durch eine eher im Off stattfindende Freundschaft zusammengehalten.
Konflikte innerhalb des Freundeskreis' selbst funktionieren vornehmlich dann gut, wenn sie humoristisch aufgearbeitet werden. Die Sitcom FRIENDS füllte neun Staffeln mit den kleinen Kabbeleien unter Freunden, an deren Ende sich doch alle wieder lieb haben, und wer sich umschaut, wird herausfinden, dass Geschichten über einander „bekämpfende“ Freunde fast immer die Grundlage für Freundschaftskomödien ausmachen, von BRAUTALARM oder HANGOVER bis hin zu DUMM UND DÜMMER oder CIRCLE OF FRIENDS - hier ist die Auswahl beinahe endlos.

Mein bester Feind


Echte, dramatische Filme über vollkommen dysfunktionale Freundschaften hingegen sind selten. Auch hier wurde früher vor allem das komische Potential ausgeschöpft, wohl in keinem Film besser als in dem unübertroffenen Meisterwerk EIN SELTSAMES PAAR, in dem Jack Lemmon als pedantischer Sauberkeitsneurotiker und Walter Matthau als schnodderiger Halb-Messi in einer Zwangs-WG leben.

Das dramatische Potential zerstörerischer Freundschaften wurde erst spät angezapft. Eines der ersten Meisterwerke dieser Sparte ist HEATHERS, der nebenher den Highschool-Film revolutionierte und in den Neunzigern eine ganze Reihe von Kopien hervorbrachte (von DER HEXENCLUB bis hin zu JAWBREAKER) die erst mit MEAN GIRLS ein vorläufiges Ende fanden.
© Twentieth Century Fox Home Entertainment
Zwei weitere Meisterwerke, die zerstörerische, dysfunktionale Freundschaften allerdings als Thriller oder Drama inszenieren, sind einerseits WEIBLICH, LEDIG, JUNG SUCHT ... und vor allem HEAVENLY CREATURES.
Ein weiterer, extrem auffälliger Vertreter, allerdings kein besonders guter, ist CABLE GUY, der das Topos des klammernden Freundes mit einer Mischung aus Horror, Thriller, Komik und Jim Carreys Gesichtsolympiade zu erweitern versucht.


Tagebuch der fehlenden Gradlinigkeit


In diese breite Geschichte von Filmen über Freundschaft reiht sich TAGEBUCH EINES SKANDALS hervorragend ein, und schafft es, eine durch und durch dysfunktionale Freundschaft als Mischung aus Drama und Thriller zu inszenieren. Die ungewöhnliche Mischung fällt in jedem Fall auf, bricht mit Sehgewohnheiten, und irritiert den Zuschauer stellenweise enorm.

Man merkt dem Film an, dass die Autorin der Romanvorlage versucht, Englands Begeisterung für Skandale in den Gazetten dramatisch zu verarbeiten. Zoë Heller schreibt ihren gleichnamigen Roman auf Grundlage eines ähnlichen Skandals, der sich Mitte der Neunziger tatsächlich in England abspielt, erweitert ihn jedoch um die vereinnahmende Barbara.

Was TAGEBUCH EINES SKANDALS einerseits auszeichnet, andererseits aber auch Probleme mit sich bringt, ist seine Unentschlossenheit, und seine Vielschichtigkeit. Auf der einen Seite ist das ein enormer Vorteil, denn der Film erlaubt viele Deutungsfacetten.
© Twentieth Century Fox Home Entertainment
Welche Motivation hat Barbara dafür, Sheba dermaßen für sich einzunehmen? Ist sie einfach nur gestört? Einsam? Eine Soziopathin? Der Film bietet keine klare Erkärung für Barbaras Verhalten, was es zur Deutungssache des Zuschauers macht. Eine, mir besonders sinnvoll erscheinende Interpretation sagt über den Film aus, seine Figuren seien zutiefst homophob. So wäre Barbara homosexuell, was sie immer wieder junge, gutaussehende weibliche Freundinnen suchen lässt. Der Film leugnet auch gar nicht, dass Barbara sich eindeutig zu Sheba hingezogen fühlt. Allerdings gestehe, so die Deutungsvariante, Barbara sich ihre Homosexualität nicht ein, würde sich selbst dafür hassen, und müsse mit anderen Mitteln aus der erwünschten Liebesbeziehung eine „Freundschaft um jeden Preis“ erzwingen.

Grundsätzlich lotet der Film jede Menge zwischenmenschlicher Beziehungsmodelle aus, die uns als Zuschauer die Stirn krausziehen lassen, weil sie wahlweise ungewöhnlich, unerwünscht oder unangenehm sind.
Alternde Männer und junge Frauen, alternde Frauen und minderjährige Jungs, alte Frauen und junge Frauen, Freundschaften, die Priorität vor der Familie haben, Egoismus, der die Bedürfnisse eines Down Kindes übergeht, der offene Wunsch zum Ehebruch und noch einige weitere.
Auf diese Art hält der Film einen als Zuschauer ständig in Anspannung, vermittelt ein durchgehendes Gefühl des Unwohlseins – hier ist jede einzelne geschilderte Beziehung eine Beziehung voller Tabus, voller unmoralischer Komponenten, und weit weg von allem, was gemeinhin als „gesund“ und „wünschenswert“ betrachtet wird.
Barbaras Fixierung auf Sheba lässt beiden keine Chance, und es besteht kaum eine Hoffnung, dass eine der Figuren heil aus dem Disaster herauskommt, in das Barbara sie sehenden Auges hineinsteuert. Eigentlich kann keine Figur in diesem Film darauf hoffen, unbeschadet aus der Geschichte herauszukommen, zu dicht webt er das Netz aus „Sodom und Gomorrha“, das in diesem tristen, farblos inszenierten London herrscht.

Was den Film am Ende andererseits problematisch macht ist, dass er in diesem Geflecht die Übersicht verliert, und einige Ungereimtheiten nicht mehr umgehen kann. So wird man als Zuschauer gezwungen, Shebas Naivität bis zum Schluss hinzunehmen, obwohl sämtliche Figuren um sie herum längst die Wahrheit erkannt haben – glaubwürdig ist das nicht, aber notwendig für das Finale des Films.
Auch kommen einige Motivationen zu kurz, vor allem Barbaras wird wie erwähnt völlig im Dunkeln gelassen. Da der Film sich nicht an gängige Muster hält, weiß man als Zuschauer auch lange nicht, was man erwarten soll – immer wieder changiert der Film von Drama zu Thriller und zurück, ohne dass es dafür irgendwelche Anlässe gäbe, manche Handlungsfäden werden einfach fallengelassen und nicht mehr aufgenommen oder nur ungenau angedeutet.
Als Ganzes wirkt der Film ein wenig zu offen, nicht kompakt genug, um wirklich zu befriedigen – das ist die Kehrseite seines Vexierspiels mit den Genres. Hier wäre eine stärkere Einengung auf eine Genretypisierung hilfreich gewesen.
© Twentieth Century Fox Home Entertainment
Über jeden Zweifel erhaben sind hingegen die Darsteller, allen voran Dench und Blanchett, die ihre unterschiedlichen Charaktere spielen, als wären sie die Figuren. Besonders Dench kommt die schwierige Aufgabe zu, einen Charakter zum Leben zu erwecken, der gleichermaßen unsympathisch wie interessant, abstoßend wie mitleiderregend ist, eine Aufgabe, die sie mit Bravour meistert.
Blanchett hingegen spielt die liebevolle, etwas naive Lehrerin mit derselben Intensität wie ihre zynische Neurotikern in BLUE JASMINE, und wird darüber hinaus derart attraktiv und ansprechend in Szene gesetzt, dass man sich leicht vorstellen kann, wie sich diverse Figuren in sie verlieben können – man kommt nicht umhin, ihr ebenfalls zu verfallen.

Beinahe bedauerlich ist denn auch das Ende des Films, das sich klar vom Romanende abhebt. Denn wo der Roman sich als „Noir“ versteht, und beide Figuren in ihrer ineinander verkeilten Freundschaft/Liebschaft verharren lässt, so dass Barbara sich am Ende gegen die emotional deutlich schwächere Sheba durchsetzen kann, die in Barbaras Netz gefangen bleibt, bastelt sich der Film ein etwas unglaubwürdiges "Happy End", das er mit einem „das Böse lebt halt doch immer weiter“-Horrofilm-Abschluss krönt.
Auch hier gilt, wie den ganzen Film über: mehr Konsequenz, mehr Geradlinigkeit, mehr Biss hätte aus einem interessanten, sehenswerten kleinen Film ein echtes Meisterwerk machen können, um das kein Weg herumgeführt hätte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Ihr seid unserer Meinung? Ihr seht was anders? Wir freuen uns über eure Ansichten, über Lob und Kritik! Aber bitte seid nett zu uns. Und zueinander!