20.02.15

Kinokritik: Whiplash (USA 2014) - Der Preis der Perfektion

Dass man auf einem Konservatorium nicht den Spaß seines Lebens findet, sollte einem der Name bereits sagen. Was der junge Schlagzeuger Andrew dort allerdings durchlebt, erweist sich als eines der sehenswertesten, straffsten und mitreißendsten Psychoduelle seit langer Zeit. WHIPLASH reißt seine Zuschauer in die Tiefen des menschlichen Ehrgeizes, in einen packenden Kampf um die Menschlichkeit und die bedingungslose Liebe zum Jazz.
© Sony Pictures

Marcos Blick:

Als ich 2002 Curtis Hansons 8 MILE sah, habe ich den Film dafür bewundert, wie es ihm gelang, mir innerhalb seiner recht kurzen Spielzeit die „Regeln“ des Wettkampfes (in diesem Fall der Rap-Battles) so vertraut zu machen, dass ich dem Finale folgen konnte wie einem spannenden Fußballfinale.
Eine ähnliche Meisterleistung gelingt Damien Chazelles Film WHIPLASH, der sich auf die Fahne schreiben kann, eines der packendsten und besten Finals der Filmgeschichte. Spätestens hier erhebt sich die Musik zum Star des Films, knallen die Hauptfiguren ein letztes Mal aneinander und offenbaren allein mit Gestik, Mimik und einer sensationellen Kamerarbeit die letzte Entwicklung ihrer Figuren. Zehn Minuten für die Filmgeschichte!

Konservativ am Konservatorium


Der Weg dahin ist nicht weniger packend, wenngleich in ein etwas konservatives Korsett gezwängt. WHIPLASH erzählt keine besonders smarte Geschichte, auch keine besonders originelle. Er erzählt von dem 19jährigen Andrew, der als Schlagzeuger am renommierten Shaffer Konservatorium in New York angenommen wird. Dort leitet der ebenso renommierte Lehrer Fletcher die sogenannte „Studio Band“, eine der besten Jazz-Bands des Landes. Der Lehrer wittert in dem jungen Andrew ein herausragendes Talent, holt ihn in seine Band – und schreckt vor keinem Mittel zurück, Andrew an seine Grenzen zu treiben.

Das Folgende hat man in seiner grundsätzlichen Konstellation des erbitterten Schleifers und des mehr und mehr zerbrechenden Schülers schon öfter gesehen. Schon das Filmmusical 42nd STREET nimmt sich des Topos‘ an, und Kubricks FULL METAL JACKET gilt bis heute als Meisterwerk des Schleiferfilms.
© Sony Pictures
Mit Letzterem darf WHIPLASH gerne in eine Reihe gestellt werden, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass es hier „nur“ um Musik geht. Allerdings spielt der Film seine Karten nahezu perfekt aus! Dem Drehbuch gelingt es, die Liebe zur Jazzmusik derart intensiv darzustellen, dass man den Figuren glaubt, dass ihre Welt sich nur darum dreht. So wird glaubhaft, dass der perfekte Rhythmus, um den die Protagonisten hier ringen, zum Sinninhalt ihres Lebens wird – der Probenraum wird zum Bootcamp der Musikwelt, das Überleben im Jazz-Band-Wettbewerb zum Überleben überhaupt.

Schnitt im Probenraum-Porno


WHIPLASH inszeniert diesen Überlebens- und Willenskampf als Kammerspiel, was einerseits seine große Stärke ist, andererseits aber auch seine einzige nennenswerte Schwäche.
Innerhalb weniger Minuten gerät WHIPLASH zum Probenraum-Porno! Die Szenen, in denen Schüler und Lehrer aneinandergeraten, sind die stärksten im ganzen Film des Films, und man merkt deutlich, dass Autor und Regisseur Damien Chazelle genau hier sein Herz hat!
Wenn Andrew und Fletcher im Probenraum aneinandergeraten lebt und atmet WHIPLASH! Die Szenen sind großartig geschrieben. Die Darsteller agieren in einem irrsinnigen Psychoduell, und obwohl Miles Teller als ehrgeiziger Drummer eine herausragende Leistung abliefert, kommt er nicht an gegen J.K. Simmons, der die Rolle des noch ehrgeizigeren Lehrers derart intensiv und sehenswert spielt, dass es körperlich spürbar ist. Das meiste Leben haucht diesen Szenen allerdings die Kamera-Arbeit ein, und vor allem der Schnitt, der schlicht makellos ist. Die Kamera erweitert den engen Probenraum zur ganzen Welt, der Schnitt harmoniert perfekt mit den Rhythmen der Musik, und fängt das Duell der beiden Künstler ideal ein.

Tatsächlich sind diese Sequenzen derart überragend, dass alle anderen Szenen des Films dagegen extrem abfallen. Natürlich ist einem als Zuschauer bewusst, dass der Film zur Charakterentwicklung auch Szenen außerhalb des Probenraums benötigt, und die Szenen erfüllen diesen Zweck gut. Dennoch erweisen sie sich schnell als zähes Beiwerk, das man am liebsten vorspulen möchte, um Fletcher wieder in Aktion zu erleben.
Natürlich ist hier auch Andrews Wahrnehmung wiedergegeben: Außerhalb des Probenraums wird seine Welt trocken, zäh und trübe. Erst am Schlagzeug wird er wirklich lebendig.
© Sony Pictures
Das ist auch der größte Vorwurf, den Autor und Regisseur Damien Chazelle sich gefallen lassen muss: Man merkt seinem Film an, dass ihn die Szenen außerhalb der Proben nur wenig interessieren. Und selbst dort liegt sein Fokus auf dem Konflikt zwischen Andrew und Fletcher, oder zumindest ums Schlagzeug herum. Die restlichen Bandmitglieder sind zwar anwesend, dienen aber lediglich als Dekoration, nicht für die erzählung des Films. Vermutlich auch deshalb spielen nur wenige Szenen außerhalb des Probenraums.

And all that Jazz


WHIPLASH ist ein intensives Stück Kino, das fast alles richtig macht: Es macht den Konflikt seiner Hauptfiguren beinahe körperlich spürbar, es reißt einen hinein in diese Welt des Konservatoriums, und in die Schlacht, die zwei Musiker sich hier leisten. Wer darüber hinaus auch nur ein bisschen was für Jazz erübrigen kann, findet sich in den ausgiebigen Musikszenen zusätzlich in einen intensiven Sog gespült, der einen mitreißt, jeden Fehler spürbar macht, und einen vor Schreck erstarren lässt.

Damien Chazelle liefert eine Liebeserklärung an den Jazz ab, der ihm am Herzen zu liegen scheint: Bereits in seinem Erstling, dem Drama GUY AND MADELINE ON A PARK BENCH widmet er sich leidenschaftsvoll dem Jazz.

Chazelle, dessen Inspiration für WHIPLASH sein eigener Musiklehrer ist, vor dem er stets etwas Angst hat, hat erhebliche Schwierigkeiten, seinen kleinen Film zu realisieren. Obwohl sein Drehbuch auf der 2012 Black List landet, findet er keine Produktionsgelder.
Schließlich entscheidet er sich für einen cleveren Weg: Zwei kleine Produktionsstudios geben ihm genügend Geld, wenigstens einen Teil seines Drehbuchs zu verfilmen. Er bastelt daraus einen 18-Minütigen Kurzfilm namens WHIPLASH, den er 2013 auf dem Sundance Festival vorführt. Die Ausschnitte sorgen für Begeisterung! Nun endlich bekommt er genügend Geld für die Langfassung. Das Dramatische dabei: Zwar kostet der Film nur knapp 3 Millionen Dollar und spielt das locker wieder ein. Dennoch kann er sich damit brüsten, dass nie zuvor ein Film mit geringerem Einspielergebnis für den Oscar als bester Film nominiert wurde.
J.K. Simmons, der bereits in der Kurzfassung den harten Lehrer spielt, darf die Rolle erneut verkörpern. Andrew wird aber neu besetzt, mit Miles Teller.
© Sony Pictures
Teller, der übrigens in ausnahmslos jeder einzelnen Szene des Films zu sehen ist, spielt selbst Schlagzeug, muss für den Film aber hunderte von Extrastunden nehmen, um die eigentümlich Art des Jazz-Drummings zu erlernen. Im Film wird er dann und wann von einem Profi gedoubelt, spielt aber häufig zu voreingespielten Tracks selber. Insgesamt liefert er in knapp unter die Hälfte der Filmszenen tatsächlich seine eigene Leistung ab.

Die Rolle seines Lebens


Für Simmons ist die Rolle des Fletcher eine Offenbarung. Nicht nur äußerlich ähnelt dem ehemaligen Ausbilder R. Lee Ermey, der in FULL METAL JACKET seine Rekruten bereits so grandios niedermachen konnte. Vor allem in der herausragenden Serie OZ kann Simmons sein Talent für Arschlöcher zeigen.
Vor allem aber erhält Simmons endlich ein wenig längst überfällige Aufmerksamkeit, denn der Kerl ist ein nimmermüder Schauspieler. Seit er 1994 neben Kevin Spacey und Denis Leary in NO PANIC – GUTE GEISELN SIND SELTEN debütieren durfte, ist er aus Kino und Leinwand gar nicht mehr wegzudenken – und begeistert mit einer nahezu unbegrenzten Bandbreite.
Für den Baseballfilm AUS LIEBE ZUM SPIEL endeckt ihn Sam Raimi, und besetzt ihn anschließend in jedem seiner Filme. So kommt Simmons an eine der ikonischsten Rollen die man sich nur denken kann: 2002 darf er in Raimis SPIDER-MAN den bösartigen Verleger J. Jonah Jameson spielen – ein weiterer Beweis für Simmons Vielseitigkeit, und ein erstes Mal, dass er einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird.

WHIPLASH liefert ihm nun eine seiner dankbarsten Rollen: Das Arsch mit – irgendwie – Herz. In jedem Fall darf Simmons hier in knapp 100 Minuten die gesamte Klaviatur der Gefühlswelten hoch und runter spielen, von fürsorglich zu gerührt, eiskalt, hinterhältig, freundlich, hilfreich bis zu brutal und sadistisch. Der Lohn, daran besteht aktuell kaum ein Zweifel, wird der Oscar sein, für den er nominiert wird.
Dabei leistet er aber noch mehr: Er spielt den hyperdisziplinierten Lehrer nicht nur, er verkörpert ihn auch: extreme Körperspannung, durchtrainiert, akurater Auftritt. Simmons Spiel macht die Faszination seiner Schüler glaubwürdig und nachvollziehbar. Trotz seiner Eskapaden, die einen als Zuschauer zutiefst faszinieren, hasst man ihn nicht. Man möchte nicht sein Schüler sein, aber irgendwie gelingt es ihm, dass man ihn respektiert.
© Sony Pictures
WHIPLASH ist Emotionskino pur: Kaum jemand wird sich dem intensiven Spiel und dem bis auf die Knochen gehenden Duell zweier unbändig willensstarker Typen entziehen können. Das begeistert, das wirkt nach, das berührt tief. Ich komme selten emotional aufgewühlt aus dem Kino, mit dem Wunsch, mir sofort ein weiteres Ticket zu kaufen. WHIPLASH hat das mit Bravour geschafft.

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