22.02.21

Ma Rainey‘s Black Bottom (USA 2020) – Gabriels Horn, die Mutter des Blues und Wilsons Amerika

Das Leben ist'n Scheiß. Du kannst es einfach einpacken und locker mit dir rumschleppen. Es hat keine Eier. Der Tod … der Tod hat Stil. Der Tod tritt dir in den Arsch, dass du dir wünscht, du wärst nie geboren worden. So schlimm ist der Tod. Das Leben hast du leicht im Griff. Das Leben ist nichts. Du willst uns weismachen das Leben ist fair und hast kaum was zu beißen.
- Levee

@ Netflix
Biancas Blick:

MA RAINEY’S BLACK BOTTOM ist endlich wieder ein Film, der mich drängt, einen Artikel zu verfassen. Atemlos verfolgte ich das Spiel von Chadwick Boseman und Viola Davis und tauchte ein in eine Welt, die ich nicht einmal annähernd verstehen werde, einfach weil ich weiß und in vielerlei Hinsicht privilegiert bin. Ich kann nur zuhören, was der Autor uns mit diesem Stück sagen will und nur erahnen, welche innersten eigenen Erfahrungen die Schauspieler angetrieben hat, zu spielen, als gäbe es kein Morgen mehr. Jedes Wort ist Wut und Schmerz, selbst die Leichtigkeit wiegt schwer. Es ist nicht nur ein Feuerwerk an Schauspielkunst, es ist so wahr und tief, dass wir uns dem Spiegel, der uns vorgehalten wird, nicht entziehen können. Was bleibt, ist die Frage, was sich in der heutigen Welt, fast 100 Jahre später, wirklich verändert hat. Und ob sich etwas verändert hat …

Worum geht’s?


Wir sind in Chicago im Jahre 1927 und begleiten Ma Rainey (brillant und wie stets wunderbar uneitel: Viola Davis) und ihre Band zu einer Plattenaufnahme, die auf Drängen ihres Managers stattfinden soll. Ma Rainey ist „die Mutter des Blues“, ein Star in den Südstaaten, die mit ihrer Stimme nicht nur schwarze, sondern auch weiße Amerikaner begeistert. Zu ihrer handverlesenen „Georgia Band“ gehören der Posaunist und Bandleader Cutler, der Pianist Toledo, der Bassist Slow Drag und der junge, hitzköpfige Trompeter Levee (sagenhaft gut: Chadwick Boseman). Vor und während der Plattenaufnahme kommt es zu teils philosophischen, teils biografischen Gesprächen der Bandmitglieder, die zu Differenzen untereinander sowie zwischen Ma Rainey und Levee führen. Fragen nach der Stellung der Schwarzen in Amerika, ihrer Ausbeutung durch Plattenfirmen und Manager, nach Gottes Stellung, Gottes Hilfe, dem Glauben selbst, der Zukunft des Blues und der Perspektivlosigkeit der schwarzen Bevölkerung in einer von Weißen dominierten Gesellschaft.
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Es ist ein Aufeinanderprallen der Generationen. Die unerschütterliche Überzeugung Levees, die Welt mit seiner Kunst und seinem Talent verändern zu können steht im diametralen Gegensatz zur Resignation und Abgestumpftheit von Ma Rainey und den anderen Bandmitgliedern, die sich mit ihrem Platz in der Welt abgefunden haben. Unbändiger Frust und gefährliche Wut, die Levee in seinem Handeln antreiben, werden von Ma Raineys Zorn ein ums andere Mal abgeschmettert. Am Ende erleben wir den Siegeszug des modernen Blues und den Niedergang eines Lebens, das gerade erst zur geträumten Eroberung der Welt ausholte und erhalten einen schmerzhaften Blick in die Gegenwart der Schwarzen im Amerika der Roaring Twenties.

Vorlage und Hintergrund


Der Film basiert auf der gleichnamigen Theatervorlage des zweifachen Pulitzerpreisträgers August Wilson aus dem Jahre 1982. In Handlung und Dialogen bleibt der Film extrem dicht an der Theatervorlage, die sich wiederum von der Plattenaufnahme der echten Ma Rainey inspirieren ließ, diese aber dramatisiert, um die gesellschaftskritischen Themen unterzubringen und zu fokussieren. Bei dem Theaterstück handelt es sich um eines der zehn Stücke aus Wilsons sogenanntem „Pittsburgh Zyklus“, in dem er sich mit den Erfahrungen von Afroamerikanern im 20. Jahrhundert beschäftigt.
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Das Stück, das in den 1920er Jahren in Chicago spielt, ist das einzige Stück aus dem Zyklus, das nicht in Pittsburgh spielt (dennoch wird es dem Zirkel thematisch zugeschrieben). Der Titel des Stücks bezieht sich auf das gleichnamige Lied von Ma Rainey, das sich auf den Black Bottom, also den „schwarzen Hintern“ bezieht. Der Black Bottom Dance ist ein amerikanischer Gesellschaftstanz der sich ab 1926 großer Beliebtheit erfreute und sich aus dem Charleston entwickelte. Besonders populär wurde der Tanz bei der afroamerikanischen Bevölkerung.

Der Dramatiker


Der Dramatiker August Wilson, der zu den bedeutendsten schwarzen Theaterautoren zählt, wird 1945 in Pittsburgh geboren. Noch heute wird er als „Poet des Theaters für das Schwarze Amerika“ verehrt und gefeiert. Wilson beschäftigt sich in seinem Werk mit den Erfahrungen und dem Erbe der afroamerikanischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Dabei widmet er sich gleichermaßen dem menschlichen Zustand und seiner Veränderung. Die systemische und historische Ausbeutung von Afroamerikanern bis hin zu Rassenunruhen, Identität und Migration bilden weitere Schwerpunkte in seinen Arbeiten. Die Schwarzen will er dabei nie in der „Opferrolle“ verharren lassen, sondern als Menschen zeigen, die aus der Situation wachsen und in gewisser Hinsicht in ihr triumphieren. Stars wie Viola Davis, Samuel L. Jackson, Charles S. Dutton, Denzel Washington, James Earl Jones, Laurence Fishburne und Angela Bassett feiern auf der Bühne Triumphe in Wilsons Stücken. Doch bevor er mit dem Schreiben beginnt, arbeitet er in diversen Jobs, in denen er eine Vielzahl an Menschen trifft, auf denen später Charaktere  seiner Stücke basierten. Wilsons umfangreicher Gebrauch der Öffentlichen Bücherei von Pittsburgh führt dazu, dass er ein ehrenamtliches Abitur erhält. Wilson selbst gibt an, mit vier Jahren das Lesen gelernt zu haben.
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Im Alter von zwölf beginnt er, vor allem schwarze Autoren zu lesen und zu verinnerlichen. Seine Mutter wünscht sich, dass er Jura studiert und Anwalt wird, doch nach einem kurzen Ausflug in die Armee hält er sich zunächst mit diversen Hilfsjobs über Wasser. Mit zwanzig Jahren entscheidet er sich, Poet zu werden und beginnt zu schreiben. Malcolm X beeinflusst Wilson nachhaltig, ebenso die Black Power Bewegung und der Islam, die Einfluss auf sein Denken und Schreiben nehmen. Später konvertiert er zum Islam. 1968 gründet er gemeinsam mit seinem Freund Rob Penny das „Black Horizon Theatre“. Irgendwann steht die Frage im Raum, wer dort Regie führen soll. „
'Ich mache das.' Das sagte ich, weil ich mich in der Bibliothek auskannte. Also ging ich los und suchte mir ein Buch darüber, wie man Theaterstücke inszeniert. Ich fand eines mit dem Titel 'Die Grundlagen der Theaterregie' und lieh es mir aus.“
1976 wird Wilsons erstes Stück “The Homecoming” uraufgeführt. Sein Durchbruch gelingt ihm 1984 mit “Ma Rainey’s Black Bottom“. Für sein Stück „Fences“ von 1985 erhält er seinen ersten Pulitzer-Preis sowie den Tony Award, den zweiten Pulitzer-Preis beschert ihm 1990 das Stück „The Piano Lesson“.

Auf die Leinwand


Am 2. Oktober 2005 stirbt August Wilson mit sechzig Jahren an Leberkrebs. 2010 spielen Denzel Washington und Viola Davis am Broadway in der Wiederaufführung von „Fences“, woraufhin sich Washington eine Aufgabe stellt: Er will Wilsons zehn Stücke umspannenden „Pittsburgh-Zyklus“, auch „Jahrhundert-Zyklus“ genannt, da jedes Stück in einem anderen Jahrzehnt spielt, verfilmen, und zwar sprachlich möglichst werkgetreu, um Wilsons Poesie ungefiltert einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wilsons Witwe überträgt ihm die Rechte an den Stücken, und 2013 gibt der Sender HBO bekannt, mit Washington als Produzent jedes Jahr eines der Stücke als Film herauszubringen.
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Doch das gestaltet sich als problematischer als gedacht. Trotzdem schafft Washington es, 2016 als Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller, die Verfilmung FENCES ins Kino zu bringen – ein Projekt, das Wilson seit den frühen Neunzigern verfolgt hat, das aber immer wieder an seinem Wunsch scheiterte, einen schwarzen Regisseur für die Verfilmung zu bekommen, weil er meint, nur ein schwarzer Regisseur könne die kulturellen Subtexte der Geschichte passend einfangen.
FENCES gerät 2016 zu einem der großen Kritikererfolge des Jahres und beschert Viola Davis ihren ersten Oscar für die beste Nebenrolle.
Der mit HBO geschlossene Deal wandert schließlich zu Netflix, für die Washington nun die restlichen neun Stücke realisieren soll. Das zweite Stück, das er sich dafür aussucht, wird MA RAINEY'S BLACK BOTTOM. Der Film läuft im Dezember 2020 auf dem Stramingdienst an. Viola Davis liefert auch in ihrer zweiten Wilson-Verfilmung eine grandiose Leistung ab, erhält eine Golden Globe Nominierung und empfiehlt sich abermals für den Oscar, diesmal als Beste Hauptdarstellerin.

Chadwick Bosemans Abschiedsvorstellung


Am 28. August 2020 geht eine Nachricht um die Welt, die gleichermaßen überrascht wie erschüttert: Chadwick Boseman, weltberühmt spätestens seit seiner Rolle des Königs T'Challa in dem Barrieren überwindenden Marvel-Abenteuer BLACK PANTHER, stirbt im Alter von nur 43 Jahren an Darmkrebs. Da er die Krankheit, die bereits vier Jahre vorher diagnostiziert worden war, öffentlich geheim hält, trifft sein „plötzlicher“ Tod seine Fans wie ein Schock.

Boseman will eigentlich Drehbuchautor und Regisseur werden. Die Schauspielerei soll ihm ursprünglich nur dazu dienen, das Spiel der Schauspielerinnen und Schauspieler in seinen späteren Filmen besser unterstützen zu können. „Ich bin Künstler. Künstler brauchen keine Arbeitsgenehmigung. Egal ob ich gerade als Schauspieler arbeite oder nicht, ich schreibe. Tatsächlich schreibe ich, wenn ich müde bin, denn ich glaube, dann hat man seine reinsten Gedanken.“
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Einem größeren Publikum bekannt wird der 1976 geborene Schauspieler 2014 mit seiner Rolle als Soul-Legende James Brown in GET ON UP. Bereits hier spielt er an der Seite von Viola Davis, die Browns Mutter Susie spielt. Der Durchbruch zum internationalen Topstar gelingt ihm vier Jahre später als BLACK PANTHER. Dieser wird zum weltweiten Triumph, weil es der erste Multi-Millionen-Dollar-Blockbuster mit einem überwiegend schwarzen Cast wird, der noch dazu in Afrika spielt, und mit Wakanda einen (wenn auch fiktiven) afrikanischen Staat zum fortschrittlichsten der Welt erklärt. Auf der ganzen Welt wird „Wakanda Forever“ damit zu einem Schlagwort, das weit über den Film hinausgeht. Der Film wird zu einem absoluten Megaerfolg, spielt als erster Marvel-Film überhaupt seine Produktionskosten bereits am Eröffnungswochenende ein und macht Boseman zu einer Symbolfigur der schwarzen Community. „Man könnte sagen, dass dieser afrikanische Staat eine Fantasie ist. Aber sie gibt uns die Möglichkeit, ihn mit echten Ideen zu füllen, echten Orten und echten afrikanischen Traditionen, und all das in dieses Wakanda zu geben. Das ist eine großartige Möglichkeit, ein Identitätsgefühl zu vermitteln, vor allem für die davon losgelöst lebende Diaspora.“

Zu diesem Zeitpunkt ist Boseman bereits schwer an Darmkrebs erkrankt, macht die Diagnose aber nicht öffentlich. Während der Dreharbeiten zu all seinen Filmen dieser Zeit unterzieht sich Boseman immer wieder Operationen und Chemotherapien. 2019 erreicht der Krebs die Stufe IV und gilt als nicht mehr heilbar. In dieser Zeit dreht Boseman DA 5 BLOODS unter der Regie von Spike Lee und MA RAINEY‘S BLACK BOTTOM. Letzteres wird sein letzter Dreh und er liefert vermutlich die Leistung seines Lebens ab.
Es scheint, als spiele er (fast schon wortwörtlich) um sein Leben, er präsentiert die gesamte emotionale Klaviatur seines komplexen Charakters und lässt die Zuschauer gebannt und atemlos seinem Spiel folgen. Von hoffnungsvoll bis enthusiastisch, von gequält bis schmerzerfüllt, von wütend bis arrogant – er spielt alle Facetten mit Bravour und wechselt sie innerhalb von Sekundenbruchteilen aus – stets im Sinne der Figur und dem, was Handlungen, Gesehenes, Gesprochenes und Wiedererlebtes in ihr auslösen. Tiefste Trauer, schmerzvoller Verlust und das innerste Wissen, dass auch er die Welt nicht wird ändern können.

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Am 28. August 2020, etwas mehr als ein Jahr nach Ende der Dreharbeiten, erliegt er seinem Krebsleiden. Die Premiere des Films, der einen Monat später einen auch durch die Corona-Pandemie begrenzten Kinorelease erhält, bevor er auf Netflix startet, erlebt er nicht mehr.

Die Wandlungsfähigkeit der Viola Davis


In der zweiten Hauptrolle beweist einmal mehr Viola Davis ihre Vielseitigkeit. Davis wird 1965 in South Carolina geboren und debütiert 1996 in der Nebenrolle der Vera in dem August Wilson-Stück „Seven Guitars“ am Broadway, einem weiteren Teil des „Pittsburgh-Zyklus“. Prompt wird sie für den Tony Award nominiert. In ihren Rollen ist sie nicht festgelegt. Sie spielt in Filmen, die sich explizit mit dem Rassismus auseinandersetzen (THE HELP, GET ON UP, FENCES, MA RAINEY’S BLACK BOTTOM), in Thrillern (TRAFFIC, PRISONERS, WIDOWS), in Romantik- und Actionkomödien (KATE & LEOPOLD, OUT OF SIGHT, KNIGHT AND DAY, EAT PRAY LOVE), sowie in Dramen (GLAUBENSFRAGE, EXTREM LAUT UND UNGLAUBLICH NAH, DAS VERSCHWINDEN DER ELEANOR RIGBY). Dreimal wird sie für den Oscar nominiert, den sie schließlich für FENCES erhält. „Ich weiß, wie das läuft, ich war in den Castingbüros, ich habe die Diskriminierung am eigenen Leib erfahren, ich habe 'die Linie' am eigenen Leib erfahren. Wenn mir also jemand eine Bühne bietet, auf der ich sprechen darf, dann habe ich das bereits durchgemacht. Wenn man 50 ist, dann hat man sein persönliches Narrativ verinnerlicht. Manchmal kann man das nicht schönreden, Manchmal muss man die Glaubenssätze der Menschen mit progressiven Ideen herausfordern.“
(Viola Davis bezieht sich hier auf das von ihr auf ihrer Dankesrede bei den Emmys herangezogene Zitat der Abolitionistin und Underground-Railroad-Aktivistin Harriet Tubman: „Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Linie, und auf der anderen Seite dieser Linie sehe ich grüne Weiden und herrliche Blumen und wunderschöne weiße Frauen, die mir über diese Linie hinweg die Arme entgegenstrecken. Aber was ich auch tue, ich schaffe es nicht über diese Linie. Ich schaffe es nicht über diese Linie.“)

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Mit ihrer Rolle der Annalise Keating in der Serie HOW TO GET AWAY WITH MURDER sorgt sie ab 2014 für Furore, denn immer extremer und unberechenbarer agiert ihre Annalise Keating, für deren Verkörperung sie zwei Mal für den Golden Globe nominiert wird (und den oben erwähnten Emmy erhält). Davis spielt die erfolgsverwöhnte Anwältin entfesselt, mutig und zunehmend jenseits von Recht und Moral. „Das verändert alles, von dem die Leute sagen, was wir sein sollten, vor allem als dunkelhäutige Frau; dass wir nicht sexuell sein können, dass wir nicht unsympathisch sein können, dass wir wütend sein können, aber ohne Verletzlichkeit, dass wir nicht kaputt sein können, dass wir nicht klug sein können. All das verändert es. Und auch, wenn es nicht immer so gezeigt wird, dass es den Leuten gefällt, ist das egal. Was wichtig ist ist, dass es getan wird. Das ist alles. Sie ist dort draußen, sie ist auf den Bildschirmen, sie verändert etwas.Und später:  Colorismus und Rassismus sind so mächtig in diesem Land. Als Schauspielerin wurde ich immer wieder Opfer davon. Es gab eine Menge Dinge, die man mir nicht erlaubte zu sein, bis ich … Annalise Keating bekam. Man hatte mir niemals zuvor erlaubt, eine sexualisierte Rolle zu spielen. Niemals. In meiner gesamten Karriere nicht.“
Viola Davis thematisiert immer wieder Rassismus in der Filmbranche und wird nicht müde, für die Gleichberechtigung in der Bezahlung und Rollenauswahl zu kämpfen. „Reese Witherspoon, die ich übrigens sehr verehre, kann sagen:
'Ich benutze mein eigenes Geld für meine Filme.' Ich habe kein Reese-Witherspoon-Geld. So sehr ich auch auf der A-List stehe, braucht es immer noch einen großen, weißen männlichen oder weiblichen Star, damit ich auch nur einen Filmvertrag bekomme. Und ich sage das nicht ohne Dankbarkeit für den Rang, den ich mittlerweile habe. Ich beschwere mich nicht. Es ist nur eine absolut ehrliche Feststellung. Es gibt nur sehr wenige schwarze Frauen an der Spitze des Kinos. Und das nicht, weil wir es nicht könnten, sondern weil wir immer noch so darum kämpfen müssen.“
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Als Ma Rainey verleiht sie all diesen Gedanken, Ängsten und Gefühlen eine Leinwandpräsenz, die noch Stunden nach dem Abspann nachwirkt. Sie spielt Ma Rainey mit Schnodderigkeit, Arroganz, Wut und Resignation, voller Intensität und schafft es, der Figur die Würde zu verleihen, die ihr die weißen Musikproduzenten absprechen. Ma Rainey agiert respektlos und druckvoll, wohl wissend, dass ihr nur durch den Einsatz dieser Mittel Würde und Respekt entgegengebracht wird. „Die interessieren sich einen Dreck für mich“, erklärt sie ehrlich. „Alles was die wollen, ist meine Stimme. Tja, das hab ich verstanden.  Und sie sollen mich genau so behandeln, wie ich es will, egal wie weh ihnen das tut. Sobald sie meine Stimme dann drin haben, in so einem Aufnahmegerät, dann ist es so als wäre bloß 'ne Hure und sie drehen sich weg und ziehen sich wieder an. Dann können sie mich nicht mehr brauchen. Ich weiß, wovon ich rede, du wirst schon sehen. Solange wir ihnen Geld einbringen als Farbige, solange passen wir ihnen in den Kram. Und wenn nicht, dann sind wir nur Straßenköter.“

Ma Rainey weiß, dass der ihr entgegengebrachte „Respekt“ und diese vermeintliche Würde nur an den Umstand gekettet sind, dass Studio und Manager abhängig von ihrem Wohlwollen sind, da nur dann das Geld in ihre Taschen fließt. Ma Rainey selbst sieht von diesem Geld allerdings nur einen Bruchteil, ist weder gleichberechtigt noch geschätzt oder gewollt.

Davis nimmt für die Rolle 20 Kilo an Gewicht zu, um der Körperlichkeit des Vorbilds näher zu kommen. Unterstrichen wird ihre unglaubliche Leinwandpräsenz mit dem Make-up sowie mit einem Kostüm der 20er Jahre. Das Augen-Make-up verwischt, die Brauen nachgezeichnet, sich schwer bewegend in einem unförmigen Kleid, schwitzend, vollbusig und Cola schlürfend, agiert Davis uneitel wie eh und je und unterwirft sich komplett ihrer Figur.
„Man muss sich nur die Gegebenheiten ansehen. Sie sagten, sie hatte Make-up wie Theaterschminke aufgetragen, die auf ihrem Gesicht zu schmelzen schien. Während ihrer Auftritte im Zelt sah sie immer wie schweißgebadet aus. Sie sah immer klitschnass aus. Sie hatte den Mund voller Goldzähne. Sie wurde als unattraktiv beschrieben. Aber weil sie sich so um die Leute gekümmert hat, fühlten sich die Menschen zu ihr hingezogen.“

Gabriels Horn


Ein besonders elegantes Stück Musik- und Sklavereigeschichte bietet August Wilson in einer eher unscheinbaren Textzeile zu Beginn, als der Trompeter Levee sich dem Publikum vorstellt und erklärt: „Ich hab Talent. Ich und mein Instrument, wir sind eins. Wenn mein Daddy gewusst hätte, dass aus mir so einer wird, hätte er mich Gabriel genannt.

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Damit bezieht er sich auf den Erzengel Gabriel, der auch als „Botschafter Gottes“ betrachtet wird. Gabriel ist es, der in der Bibel der Jungfrau Maria verkündet, dass sie Gottes Sohn gebären wird. Manche Lesungen der Bibel schreiben Gabriel dabei eine Trompete, oder eben ein Horn zu, mit dem er die Rückkehr Gottes zur Erde verkünden wird.

Einen besonderen Stellenwert genießt Gabriels Horn in den sogenannten „Negro Spirituals“ (manche erklären gar, dort sei Gabriels Horn „omnipräsent“). Diese Spirituals bilden eine Liedgattung, die von den amerikanischen Sklaven seit Beginn des Sklavenhandels während der Feldarbeit entwickelt wird, und als Vorläufer des Gospels gilt. Der Ausdruck „Spiritual“ leitet sich von der King-James-Übersetzung der Epheserbriefe ab. Dort heißt es in Vers 5:19, „Lasst in eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen, wie der Geist sie eingibt. Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn!“ Das „Lieder“ wurde im Englischen als „Spirituals“ übersetzt.
Die Verbindung von Arbeit und Musik war eine Westafrikanische Tradition, welche die Sklaven aus ihrer Heimat mitbrachten, unter den Augen ihrer europäischen Herren jedoch umwandeln und anpassen mussten, da die ursprüngliche Form mit Trommeln und Tanzen den Sklavenhaltern als götzendienerisch erschien.
So entstanden die Spirituals als Arbeitsmusik der Sklaven, mit hochreligiösen Texten, in denen immer wieder Gabriel als Trompeter erscheint.
Doch auch die Spirituals haben eine Basis: Die sogenannten Field Hollers, eine weitere frühe Form der Musik zumeist afrikanischer Sklaven in den USA. Diese „Arbeitslieder“ trugen hingegen noch einen anderen Namen: Levee Camp Hollers. Levee Camps waren ab dem frühen 19. Jahrhundert eingerichtete, und bis in die 1930er betriebene Arbeitslager entlang des Mississippi Rivers, mit denen lange Dämme (sogenannte Levees) errichtet wurden, um der regelmäßigen Flussübertretungen im Mississippi-Delta Herr zu werden.
Hier entstanden die Levee Camp Hollers als Grundlage des Blues, weiterer Spirituals und schlussendlich des Rythm & Blues und zeichnen sich durch die später weitverbreitete Liedtechnik des „Call and Response“ aus, bei der ein Vorsinger eine Textzeile vorgibt, und der Rest der Arbeiter die Zeile nachsingt oder darauf antwortet.

Auch wenn Levees Vater ihn also nicht „Gabriel“ genannt hat, wie es sich für einen göttlichen Trompeter gehört, steht der Name „Levee“ dennoch in nicht weniger bedeutender musikalischer Tradition.
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Doch der Verweis auf den Namen Gabriel nimmt noch eine Deutungsmöglichkeit an, denn Erzengel Gabriel wird auch als der Engel betrachtet, der mit dem Horn zum Jüngsten Gericht bläst, wobei die Unendlichkeit mit der Göttlichkeit assoziiert wird. Jeden Erzengel begleitet ein Symbol, welches seine Funktion verdeutlicht. Erzengel Michael trägt ein Schwert, mit welchem er über die Furcht triumphiert. Raphael trägt einen Fisch, den er einem Blinden gemahlen in die Augen gab, um ihn zu heilen. Und Gabriel trägt ein ein Horn bzw. eine Trompete aus Kupfer und weiße Lilienblüten, um Gottes Botschaften zu verkünden. Das Jüngste Gericht richtet mancher Interpretation nach über alles Leben und allen Tod. Wer wahrer Gläubiger sei, dürfe voller Freude sein, da ihn dieser Vorstellung zufolge ewige Erlösung erwartet, denn der wiederauferstandene Christus hat die Strafe bereits am Kreuz verbüßt.

So erhält der Satz Levees eine besondere und auch vorausschauende Bedeutung. Beinhaltet er zum einen die Stellung Gabriels und seiner Trompete als Tor zur Göttlichkeit, beschwört er gleichzeitig das Jüngste Gericht herauf, das über Gut und Böse, gläubig und nichtgläubig richtet. Levee selbst hat seinen Gottesglauben verloren, zu sehr hat dieser in seinen Augen das Schicksal der Schwarzen stillschweigend hingenommen. „Ich sag dir warum. Ich sag dir die Wahrheit. Gott hat noch nie zugehört, wenn Ni..er beten. Gott nimmt die Gebete der Ni..er und wirft sie in den Müll. Gott schert sich einen Dreck um Ni..er. Eigentlich hasst Gott Ni..er. Aus tiefstem Herzen hasst er sie. Jesus liebt dich nicht, Ni..er, Jesus hasst deinen schwarzen Arsch.“
Aber Levee glaubt an sein Talent, das ihn in die Göttlichkeit erheben und ihm die Macht verleihen wird, das Jüngste Gericht heraufzubeschwören, die Welt wie sie ist zu beenden, das Böse zu besiegen, um sich selbst zu erlösen. Das Ringen um den Glauben an sich, an das Schicksal und die Erlösung von all dem Schmerz und all der Qual seiner Welt wird zu einem Schlüsselthema des Films. Denn wenn Gott sich nicht um die Schwarzen schert, und die Weißen es nicht tun, und sie selbst auch nicht mehr – wer tut es dann?

Fazit


MA RAINEY'S BLACK BOTTOM gehört schon jetzt zu den besten Filmen des Jahres. Unglaublich eindringlich, dabei spannend und virtuos, führt er einen in die verzweifelte, ausweglose Situation schwarzer Künstler und Musiker der 1920er Jahre. In den knapp hundert Jahren seither – wie viel hat sich da geändert? Wie viel hatte sich 1982 geändert, als August Wilson dieses Stück schrieb?

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Sicher ist, dass Denzel Washington als Produzent hier erneut ein wichtiges und wuchtiges Werk realisiert hat, das lange nachhallt und zum Nachdenken anregt, und das einen gespannt macht auf die noch folgenden Umsetzungen von Wilsons „Pittsburgh-Zyklus“. Als nächstes steht „The Piano Lesson“ auf dem Plan, Wilsons zweitem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Stück. Aktuell bemüht sich Washington, Samuel L. Jackson für eine Rolle in dem Familiendrama zu gewinnen, das in den 1930er Jahren spielt und in dem es um einen Familienstreit geht, in dessen Zentrum ein altes Piano steht, das einst als Bezahlung für den versklavten Großvater diente. Für die Regie wünscht er sich Barry Jenkins, der zuletzt mit BEALE STREET und MOONLIGHT bewies, dass er solche Stoffe beherrscht.

Washington jedenfalls scheint hochmotiviert zu sein, Wilsons Zyklus zu vollenden und seine Sprache, seine Geschichten und seine Figuren abseits der Theaterbühnen für die Nachwelt zu erhalten: „Der größte Teil der Karriere, die mir noch bleibt, besteht darin, sicherzustellen, dass August bewahrt wird.“

Warum es ihm, und vielen anderen schwarzen Künstlern so wichtig ist, diese Ausnahmestimme zu bewahren, zeigt sich in einem Interview mit der Paris Review:


Ich glaube, meine Stücke bieten [weißen Amerikanern] einen anderen Blickwinkel auf schwarze Amerikaner. In 'Fences' zum Beispiel, sehen sie einen Müllmann, eine Person, die sie nie wirklich anschauen, auch wenn sie jeden Tag Müllmänner sehen. Indem sie Troys Leben betrachten, sehen die Weißen, dass das Leben dieses schwarzen Müllmanns von denselben Dingen berührt wird: Liebe, Ehre, Schönheit, Betrug und Verpflichtungen. Zu erkennen, dass diese Dinge ebenso Teil seines Lebens wie ihres eigenen sind, kann beeinflussen, wie sie über schwarze Menschen in ihrem Leben denken, und mit ihnen umgehen.

@ Netflix

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