16.05.17

Serienblick: Twin Peaks (USA 1990) – Dämonen, Kaffee und die Revolution

Es ist besser, nicht zu viel darüber zu wissen, was Dinge bedeuten oder wie man sie deuten soll, sonst bekommt man zu viel Angst, Dinge einfach geschehen zu lassen. Psychologie zerstört das Geheimnis, die Art von magischer Qualität. Sie kann auf bestimmte Neurosen und bestimmte Dinge reduziert werden, und wenn man es erst einmal benannt und definiert hat, hat es seine geheimnisvolle Aura verloren, und damit das Potential für eine weite, unendliche Erfahrung.
- David Lynch
© Paramount (Universal Pictures)

Biancas Blick: 
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Nur noch selten gibt es Momente, in denen Film, Fernsehen, Musik oder Literatur nachhaltig verändert und in eine neue Richtung gelenkt werden.
Als 1990 die Serie TWIN PEAKS im US-Fernsehen anläuft, ist das einer dieser Augenblicke. Heute ist man sich einig: Es gibt ein amerikanisches Fernsehen vor, und eines nach TWIN PEAKS.

TWIN PEAKS hat mit seinem überragenden Erfolg nicht nur Fernsehgeschichte geschrieben, sondern das Fernsehen, seine Autoren, seine Geschichten und seine Inszenierungen maßgeblich beeinflusst und vorangebracht. Seither erscheint in den USA keine Fernsehserie mehr, die nicht etwas von dem Erbgut in sich trägt, was die legendäre Mystery-Soap einst hinzugefügt hat. Tragen Serien wie AKTE X (die sich gerade in den ersten Jahren so schamlos an TWIN PEAKS bedient, dass es nur so eine Freude ist) oder ALLY McBEAL dem Erbe der von David Lynch und Mark Frost erschaffenen Serie noch in den Neunzigern Rechnung, ebnet TWIN PEAKS auch dem „goldenen Serienzeitalter“ den Weg: Meilensteine wie DR. HOUSE, SIX FEET UNDER, 24, DIE SOPRANOS oder LOST reichen den Staffelstab ins neue Jahrtausend weiter. Heute, mit Serien wie GAME OF THRONES, MR. ROBOT, THE KILLING, WESTWORLD oder HOUSE OF CARDS, ist die Art des serialen Erzählens, die TWIN PEAKS einst erfunden hat, längst Alltag geworden.

Besonders die erste Staffel überzeugt mit seinerzeit revolutionären Ideen, Risikobereitschaft, Mystizismus und einer in dieser Konsequenz nie dagewesenen Aufhebung von Realität und Traumwelt. Vor allem aber, und das vergessen viele Nostalgiker heute: TWIN PEAKS verändert das Fernsehen nicht nur, es ist seinerzeit selbst eine hemmungslose Kopie des amerikanischen Fernsehens – oder wie Mark Frost es ausdrückt: „Ein kultureller Komposthaufen.“

Ein sagenumwobenes Treffen


Die Revolution beginnt 1986: David Lynch, innovativer und visionärer Kinoregisseur, der mit Filmen wie ERASERHEAD, DUNE, DER ELEFANTENMENSCH und BLUE VELVET Aufmerksamkeit erregt hat, trifft sich mit Mark Frost, einem der bedeutendsten Mystery-Autoren Amerikas und Autor von POLIZEIREVIER HILL STREET, um gemeinsame Projekte zu besprechen. Initiiert wird das Treffen von Tony Krantz, der beide Künstler in seiner Agentur vertritt und sich von den beiden kreativen Köpfen ein neues bahnbrechendes Projekt verspricht. 
Bereits ein Jahr später entstehen erste Drehbücher, doch sowohl GODDESS als auch ONE SALIVA BUBBLE finden keine Abnehmer.
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Krantz kommt jedoch auf die Idee, an einer gemeinsamen Fernsehserie zu arbeiten. In ihr könnten beide Autoren ihre Schwerpunkte einbringen, gerade von Lynchs visionärem Querdenken verspricht sich Krantz eine Menge.
Schnell kommt man auf die Idee, eine Soap-Opera zu entwickeln, ein Genre, das in den Achtzigern (dem Jahrzehnt von DALLAS und DENVER-CLAN) zu den mit Abstand erfolgreichsten Produkten im Fernsehen gehören. Lynch sieht vor, eine Innovation einzubauen, die es so noch nicht gab, nämlich in einer wunderbar bebilderten Soap-Kulisse voll schöner Soap-Darsteller einen Mord aufklären zu lassen, sowie zahlreiche Mystery-Elemente zu verwenden.

Der Arbeitstitel lautet NORTHWEST PASSAGE. Die Handlung soll in einer amerikanischen Kleinstadt nahe der kanadischen Grenze spielen. Da die Kleinstadt zwischen zwei Bergen liegen soll, benennen die Autoren ihre Serie allerdings in TWIN PEAKS um. 
Jede einzelne der von Lynch und Frost entwickelten Figuren wirkt – für das damalige Publikum noch mehr als heute – skurril und undurchsichtig. Immer einen halben Schritt neben dem, was man gewohnt ist. Innerhalb von zehn Tagen schreiben beide das Drehbuch für den 90-minütigen Pilotfilm, ABC kauft ihn und übernimmt die Produktion, überlässt den Künstlern aber weiterhin jeden Freiraum, was deutlich zu spüren ist.

Diane: Wir legen jetzt los


Im März 1989 beginnen die Dreharbeiten zum Pilotfilm. Lynch führt Regie. Er erinnert sich: „In 21 Drehtagen war die Sache im Kasten. Den Verantwortlichen bei ABC gefiel meine Arbeit, aber gleichzeitig hatten sie Angst“.
Im Mai 1989 kommt es zu ersten öffentlichen Vorführungen, und das Publikum ist begeistert. TWIN PEAKS wird in 55 Länder verkauft! Derartig motiviert gibt der Sender ABC sieben Episoden in Auftrag, wobei die letzte Folge erneut ein 90-Minüter werden soll.
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Am 8. April 1990 endlich erfolgt die Ausstrahlung im amerikanischen Fernsehen. Zunächst ist man noch ängstlich. Ein Medienanalyst beklagt: „Ich glaube nicht, dass die Serie eine Erfolgschance hat. Sie ist nicht kommerziell, sie ist komplett anders als alles, was wir als Zuschauer gewohnt sind, und es gibt keine Figur, mit der man sich identifizieren kann.“ Der Sendeplatz ist außerdem nicht nur derselbe, der schon den DENVER-CLAN in die Versenkung geführt hat, sondern TWIN PEAKS tritt auch gegen die damals unfassbar erfolgreiche Sitcom CHEERS an (vom Erfolg her heute vergleichbar mit THE BIG BANG THEORY).
Doch die Befürchtungen zerschlagen sich schnell: Man hat einen Mega-Hit gelandet! 33% der Amerikaner schalten den Pilotfilm ein. In der dritten Folge schauen 15 Millionen Haushalte zu!

Neu, innovativ – ungewöhnlich


Aus heutiger Sicht verwundert der Erfolg von TWIN PEAKS bei seinem Erscheinen 1990 vermutlich ein wenig, sind wir doch inzwischen solche Serien gewohnt, die sich jedweder Stringenz entziehen.
Vor 25 Jahren aber sind die Straßenfeger im US-Fernsehen Formate wie FACKELN IM STURM, ALF, EINE SCHRECKLICH NETTE FAMILIE, DAS A-TEAM, BAYWATCH oder STAR TREK – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT. Sie alle sind äußerst klassisch konzipiert (Auch wenn Al Bundy schon frischen Wind in die Bude brachte), die Narration ist klar strukturiert, mal dramatisch, mal frech hinterfragend, aber immer zuschauergerecht verpackt und eher simpel arrangiert, da man vor allem günstig und schnell dreht.

TWIN PEAKS ist anders. Sowohl in seiner Erzählstruktur, als auch in seiner Inszenierung, dem Setting, dem Pacing, der Figurenzeichnung. Die Serie fordert dem Zuschauer einiges ab. Dafür belohnt sie ihn mit einer damals nicht bekannten Hochglanzoptik. Keine Serie vor TWIN PEAKS ist derartig kinoreif bebildert und edel konzipiert. Es ist genau dieser visuelle Unterschied, der dem heutigen Publikum, das eine so qualitative Optik gewohnt ist, viele alte Serien als „billig“, „körnig“ oder „pappig“ wirken lässt. Auch die sorgfältige Inszenierung sticht ins Auge. Während andere Serien Hintergründe eher fürchten, nutzt TWIN PEAKS diese als eine der ersten Serien überhaupt, sinnvoll. Immer ist im Hintergrund irgendeine kleine Skurillität verborgen, oder etwas anderes sehenswertes verpackt. (Man achte nur mal auf die immer wieder schrägen Figuren im Hotel.)
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Die Handlung der ersten Staffel umfasst dabei gerade mal eine Woche (pro Folge etwa ein Tag), in der die Figuren eingeführt werden, und der Mord aufgeklärt wird. Was übrigens, so viel sei an dieser Stelle verraten, eigentlich nie geschehen soll!

Spannend an TWIN PEAKS ist zudem die Idee, vermeintlich „sichere“ Orte, wie einen ordinären Coffee Shop oder eine kleine Hütte im Wald mysteriös erscheinen zu lassen. Generell lauert unter der alltäglichen Oberfläche von Twin Peaks stets etwas viel Tieferes, das es zu ergründen gilt, wodurch das Konzept, das Handlung und Figuren verfremdet, auch auf die Orte übertragen wird. “Mir gefällt die Idee, dass alles eine Oberfläche hat, die viel mehr darunter verbirgt”, erklärt Lynch. “Es gibt alle möglichen dunklen, bösartigen Dinge, die dort unten lauern. Ich steige hinab in diese Dunkelheit und schaue, was ich dort finde. Coffee Shops sind nette, sichere Orte zum Nachdenken. Ich mag es, an hell erleuchteten Orten zu sitzen, an denen ich Kaffee trinken kann, mit ein wenig Zucker. Und dann, bevor ich mich versehe, bin ich unter der Oberfläche und treibe dahin; wenn es zu viel wird, kann ich jederzeit wieder in den Coffee Shop aufsteigen.”

Figuren, Rätsel, Mystery – Nichts ist, wie es scheint


Die Bewohner von Twin Peaks sind allesamt hervorragend geschrieben und chargieren wunderbar im Soap-Opera-haften Schauspiel, das heißt plakativ und überzogen, aber – und das ist die Kunst – immer mit realistisch inszenierten Szenen und Emotionen durchwoben. Dadurch wird der Zuschauer stets daran erinnert, dass er einer sehr skurril inszenierten Seifenoper folgt, die deren Machart gar ad absurdum führt, ohne sich über das Genre lustig zu machen. Viel eher wirkt es, als wolle die Serie die Soap-Opera modernisieren, und als Ausgangslage nutzen, für einen vollkommen neuartigen Serienstil.
Die Charaktere sind liebenswert, in sich gefangen, im Kleinstadtleben eingekerkert – mit großen Wünschen, dort auszubrechen. Jeder kannte das Opfer Laura Palmer, jeder hatte ein Motiv, jeder bringt sich ins Zentrum der Ermittlungen – der Zuschauer rätselt mit und wird immer wieder an der Nase herum-, oder aufs Glatteis geführt, um dort allzu schnell auszurutschen, sich aufzurappeln, um neu zu raten, wer denn nun der Mörder sein könnte.
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Dabei greift es zu kurz, TWIN PEAKS als Crime-Drama zu werten. Lynch und Frost sehen ihre Serie als bösartige Spiegelseite der amerikanischen Fernsehlandschaft. Ungehemmt lassen sie die Einwohner der Kleinstadt vor der fiktiven Soap „Invitation to Love“ dahinschmelzen, während ihre eigenen Figuren sich in einem Beziehungskarussell drehen, das jeder Soap spottet. Auch bringen beide Autoren die Fernseherfahrungen ihrer eigenen Kindheit ein. So etwa eine der erfolgreichsten Serien ihrer Kindheit: AUF DER FLUCHT, in der der unschuldige Dr. Richard Kimble den Einarmigen jagt, der seine Frau ermordet hat, während ihm gleichzeitig der besessene Lieutenant Philip Gerard auf den Fersen ist. Und Frost und Lynch? Die setzen in TWIN PEAKS einen Einarmigen namens Philip Gerard ein, kombinieren also Jäger und Gejagten von Dr. Kimble in einer Figur.

Auch sonst findet sich einiges an autobiografischen Erfahrungen in der Serie. Das Kleinstadtsetting etwa ist ein oft gewähltes von David Lynch, der gerne seine Erfahrungen mit dem Leben in einer Kleinstadt verarbeitet.
Lynch wächst in den 50er Jahren auf, ebenfalls ein Thema, das er gern wählt. So ist TWIN PEAKS zwar 1990 angesiedelt, orientiert sich optisch und modisch aber deutlich an den 50er Jahren, die in den 80er Jahren einen populären Hintergrund darstellen und in Filmen wie THE OUTSIDERS, STAND BY ME, MANCHMAL KOMMEN SIE WIEDER, RUMBLE FISH oder ES aufgegriffen werden. Lidstrich, Bikerboys, Highschool-Mädchen, Jazz, Bleistiftröcke, Haartollen und Schmollmünder sowie ein rötlicher Farbfilter lassen die 50er vor den Augen der Zuschauer wiederauferstehen. „Ich verspüre eine gewisse Sehnsucht nach den Fünfzigerjahren“, sagt Lynch. „Das Leben schien so optimistisch und hoffnungsvoll, die Autos sahen fabelhaft aus – und es war die Geburtsstunde des Rock ’n’ Roll. In den Sechzigerjahren wurde das Leben dann düsterer.“
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Jede Familie in Twin Peaks ist dabei nur scheinbar intakt. Wieder ein lyncheskes Thema. 
Im Verlauf der Staffel bekommen auch die reichsten und offenbar intaktesten Familien Risse und geraten ins Wanken. Romantik und Liebe scheint es zwar zu geben, doch von Treue hält man nichts. Gefühle sind flüchtig in TWIN PEAKS. Eine weitere Reminiszenz an die verdrehte Soap-Welt.
All das wäre unter der Fassade geblieben, doch der Mord, der am Beginn der Handlung steht, deckt alles auf. Folge für Folge findet sich ein weiteres entblättertes Geheimnis, das alles zuvor Erfahrene wieder in Rätseln erscheinen lässt.

Aber auch unterdrückte Libido, Sexualität, Gewalt, das Unbewusste sowie das Irrationale finden Einlass in TWIN PEAKS. Begehren, Lust, Abhängigkeiten und Aggression spiegeln sich in der Handlung wider. „Sex ist eine Pforte zu etwas so Mächtigem und Mystischem, aber Filme zeigen ihn für gewöhnlich in einer ziemlich langweiligen Art und Weise", erklärt Lynch. „Wenn man eindeutig ist, zapft man den mystischen Aspekt nicht an, stattdessen tötet man ihn, denn Menschen wollen den Sex gar nicht sehen, sondern viel eher die Emotionen erleben, die damit einhergehen. So etwas ist schwer in einem Film zu übermitteln, weil Sex solch ein Mysterium ist.“ So gelingt es David Lynch, all seine Themen, die er bereits in seinen Filmen untergebracht hat, und die auch seine späteren Klassiker durchweben werden, in voller Pracht in die Serie zu integrieren, ohne sie zu überfrachten. 
Die Gesamtlaufzeit der Serie mit insgesamt 450 Minuten (in der ersten Staffel) kommt ihm hierbei sehr entgegen.

Die berühmteste (und schönste) Leiche der Seriengeschichte


Aus heutiger Sicht ist der Cast beeindruckend. 
Zwar sind, bis auf Kyle MacLachlan, der bereits in DUNE – DER WÜSTENPLANET und BLUE VELVET mit Lynch zusammenarbeitet, und Piper Laurie, die in HAIE DER GROßSTADT neben Paul Newman, und als Mutter von CARRIE weltberühmt wird, alle Darsteller ziemlich unbekannt (auch Joan Chen ist ein bekanntes Fernsehgesicht der 80er und konnte mit ihrer Rolle in DER LETZTE KAISER ebenfalls auf sich aufmerksam machen), doch umso spielfreudiger agieren sie. Und etliche von ihnen, vor allem die Frauen, werden durch ihren Auftritt in TWIN PEAKS zu Topstars.
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Kyle MacLachlans Agent Cooper ist smart, trocken und unglaublich begeisterungsfähig. Ein libenswertes Unikat, und dennoch in seinem Hang zum Mystizismus kompetent und ernst zu nehmen. Lynch hat seit jeher einen Hang zu Detektiv- und Ermittlerfiguren, die für den Voyeurismus des Zuschauers stehen: „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle Voyeure sind. Das ist ein Teil dieser Detektivsache. Wir wollen Geheimnisse erfahren, und wir wollen wissen, was hinter diesen Fenstern vor sich geht. Aber nicht auf eine Art, die wir anwenden würden, um jemanden zu verletzen. Die Sache hat einen gewissen Unterhaltungswert, aber gleichzeitig wollen wir wissen: Was tun die Menschen? Tun sie dieselben Dinge, die ich tue? Auf irgendeine Art geht es darum, sich Wissen anzueignen.“
Darüber hinaus stattet Lynch Agent Cooper mit seinem eigenen Hang zur fernöstlichen Mystik aus: „Den Dalai Lama traf ich, als ich gerade an Twin Peaks arbeitete. So kam es zu Special Agent Dale Coopers Faible für Tibet. Maharishi Yogi hat eine Technik namens 'Transzendentale Meditation' entwickelt, die ich seit fast vierzig Jahren praktiziere. Seitdem meditiere ich zweimal täglich. Man verabschiedet sich von Stress, traumatischen Belastungen, Depressionen und Wut. Die Angst schwindet. Dinge, die einen früher aus dem Gleichgewicht gebracht haben, sind nicht mehr bedrohlich. Menschen, die man nicht leiden konnte, stören einen nicht mehr. Es ist, als ob man eine kugelsichere Weste hätte. Eine glücklichere Welt offenbart sich.“

Auf die Frage, weshalb seine Filme, aber auch TWIN PEAKS, von exzessiver Gewalt durchzogen sind, antwortet Lynch: „Gewalt ist nun einmal Teil dieser Welt, aber deswegen heiße ich sie nicht gut. 'Transzendentale Meditation' ist wie ein Schlüssel, der die Tür zu einem anderen Bewusstsein öffnet. Was nicht heißt, dass ich ein Asket wäre. Die materielle Welt kann betörend und spannend sein. Aber es gibt etwas anderes, viel Wichtigeres als nur die materielle Welt. Und wer das begreift, kann sie noch mehr genießen.“
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Sheryl Lee, die die blonde Laura Palmer, sowie deren brünette Cousine Maddy spielt (eine mehr als deutliche Anspielung auf Hitchcocks VERTIGO), Sherilyn Fenn, die die lolitahafte Audrey mimt, aber auch Dana Ashbrook, Mädchen Amick und Lara Flynn-Boyle spielen sich in die Herzen der Zuschauer.
Besonders Sherilyn Fenns Audrey findet eine große Fangemeinde, und soll ein Spin-Off erhalten, was aber nie zustande kommt. Doch ganz fallen lässt Lynch die Idee nicht, und gestaltet aus seiner Idee zu dem Spin-Off später MULLHOLLAND DRIVE, in dem Naomi Watts' Charakter deutlich an den von Audrey angelegt ist.

Über Sheryl Lees Leistung im 1992 entstandenen Film TWIN PEAKS – DER FILM sagt Lynch rückblickend: „Es zeigt sich, dass sie, zumindest meiner Ansicht nach, eine herausragende Schauspielerin ist, und dass sie einige unglaubliche Dinge in dem Film gemacht hat. Ich habe nicht sehr viele Leute erlebt, die so in eine Rolle sinken und ihr so viel geben. Das war eine große Neuigkeit für mich. Da war dieser Mensch, der engagiert wurde, um ein totes Mädchen zu spielen, und es zeigt sich, dass sie eine großartige Schauspielerin ist, und die perfekte Laura Palmer.“

Die Figur der Josie Packard soll ursprünglich Isabella Rosselini spielen, die bereits in BLUE VELVET für Furore gesorgt hat, doch dazu kommt es nicht und Joan Chen übernimmt den Part der schönen, zwielichtigen Sägewerksbesitzerin. Doch Lynch ist dennoch zufrieden und sagt später augenzwinkernd: „Sie ist der beste China-Export seit Pasta – und sieht deutlich besser aus.“

Ein nicht unerhebliches Statement, denn Aussehen hat Bedeutung in Twin Peaks. Alle (Identifikations-)Figuren sind äußerst attraktiv, wirken rein und unverbraucht; doch jeder trägt mindestens ein dunkles Geheimnis in sich. 
Das gibt der Serie die Möglichkeit, die nach außen scheinbare Schönheit nach und nach zu demaskieren.
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Vor allem gilt das für Laura Palmer, die in der ersten Folge als Engel und Highschool-Schönheit dargestellt und etabliert wird. Doch bereits in der zweiten Folge beginnt das Bild arg zu bröckeln und Laura Palmer – die wohl bekannteste Leiche der Seriengeschichte – wird zu einem drogensüchtigen und männermordenden Vamp degradiert. Dennoch gibt es auch für TWIN PEAKS Grenzen. So werden zwar Szenen gedreht, in denen James Hurley sexuellen Kontakt mit seiner Mutter hat, diese finden aber nie Einzug in die Serie. Zu abartig? Zu abgedroschen? Zu mutig?

Und dann die Musik


TWIN PEAKS besticht, damals wie heute, durch seine stets etwas düstere, larmoyante, nostalgische Atmosphäre. Einen nicht unerheblichen Einfluss darauf hat der unverkennbare Soundtrack. Die Kompositionen von Angelo Badalamenti heben die mystische Stimmung sowie die Bilder der Serie deutlich hervor – und die Titelmelodie wird mit einem Grammy belohnt.

Der Soundtrack wird zu einem echten Verkaufshit. Was heute dabei kaum noch jemand weiß: Etliche der Tracks haben eine Gesangsstimme. Julee Cruise, Sängerin und Schauspielerin, singt sich mit „Falling“ in die Herzen der Fans. Aber auch „The World spins“ und „The Nightingale“ sind großartige Songs der Serie. Immer wieder tritt Cruise in der Serie (und im Film) als Nachtclubsängerin im Roadhouse auf.

Insidern ist Julee Cruise bereits vor TWIN PEAKS ein Begriff, ist ihr Song “Floating into the Night” doch schon ein Jahr vor TWIN PEAKS ein großer Erfolg. Die Zusammenarbeit zwischen Cruise und Lynch verläuft mittelprächtig. Für Cruise ist die gesamte Filmerfahrung befremdlich und „spooky“. 2012 resümiert sie: „Gott, das war etwas. Ich bin durch so viele Gefühle gegangen. Als erstes war da das Gefühl, wenn man morgens sehr früh nach unten geht, und dort wartet diese riesige Limousine. Dann kam ich dort an, und David rief: 'Julee!', und alle haben eine Riesensache aus mir gemacht. Dabei bekam ich nicht mal eine Anzahlung und wusste gar nicht, ob ich am Ende was rausbekomme, auch wenn es sich schließlich gelohnt hat. Lara Flynn Boyle war auch ein wenig gruselig. Und es ist wirklich schade, dass mein Dad TWIN PEAKS nicht mehr zu sehen bekam – er hätte Dale Cooper gemocht.“
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Für Cruise scheint das Thema TWIN PEAKS abgeschlossen zu sein, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass sie in der Wiederaufnahme noch einmal auftritt. „Erfolg ist nicht dein Höhepunkt, oder was die Leute denken, was so toll wäre. Und auch nicht der Auftritt, der am meisten abwirft, und ich habe mit Auftritten eine Riesenmenge Geld gemacht. Erfolg bedeutet, dabei zu bleiben. Du bleibst dabei, denn wenn du mit drei Jahren weißt, was du den Rest deines Lebens tun willst, dann, so denke ich, ist das dein Schicksal.“

Was den Score unter anderem so heraushebt, ist die Tatsache, dass die Tracks deutlich einzelnen Figuren und Situationen zuzuordnen sind. Vor allem Laura Palmers Melodie brennt sich schnell ins Gedächtnis ein. 
Es lohnt sich, hinzuhören, wann die beinahe schon schmerzhafte und herzzerreißende Melodie eingespielt wird, nämlich immer dann, wenn eine Figur über ihre Zeit mit Laura spricht, oder ihre Gefühle zu ihr beschreibt. Eine damals für Fernsehserien ungewöhnliche Verwendung, die dazu beiträgt, die Serie zu einem perfekt ineinandergreifenden Geflecht zu kombinieren.

Heute, nach über 25 Jahren, bleibt zu postulieren, dass der jazzige Soundtrack enorm zum Erfolg der Serie beigetragen hat. Gerade die Lieder von Julee Cruise sind nicht nur Teil eines der erfolgreichsten Seriensoundtracks überhaupt, sondern auch zu einer wunderbaren Erkennungsmelodie für die Ewigkeit geworden.

Der erste Spoiler des Fernsehens und andere Katastrophen


Dem ein oder anderen aufmerksamen Leser mag es aufgefallen sein: Bisher haben wir quasi ausschließlich die erste Staffel der Serie lobend erwähnt. Und das nicht ganz grundlos. Denn wie kaum eine andere Serie der Geschichte demontiert sich TWIN PEAKS bereits in der zweiten Staffel komplett selbst – und wird auch dafür berühmt.
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Die erste Staffel ist so erfolgreich, dass schnell feststeht: Hier braucht es eine weitere. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf.
In einer der bedeutendsten Fragen sind sich nicht einmal die Macher David Lynch und Mark Frost einig. Lynch will ursprünglich nicht, dass überhaupt je aufgeklärt wird, wer Laura Palmer umgebracht hat. Frost vertritt die Ansicht, dass man die Zuschauer irgendwann belohnen müsse.
Der Sender hingegen will bereits zum Ende der ersten Staffel aufdecken, wer Laura Palmer ermordet hat.

Also sichert der Sender sich in der zweiten Staffel mehr Einfluss zu. Haben Lynch und Frost in der ersten Staffel noch die komplette künstlerische Freiheit, werden sie nun, bei der Konzeptionierung der zweiten Staffel, beschnitten und gegängelt. Die zweite Staffel wird mit 22 Folgen nicht nur fast dreimal so lang wie die erste, sondern als Ergebnis auch deutlich verquaster, undurchdringlich und äußerst inkohärent. Manche Figuren entwickeln sich derartig seltsam, dass die Schauspieler selbst es nicht verstehen. So erklärt etwa Wendy Robie, die die einäugige Nadine spielt, die sich in Staffel zwei zu einer der wohl seltsamsten Figuren der Fernsehgeschichte wandelt: „Ich hatte keine Ahnung, was das sollte, aber ich hab es einfach mitgemacht, und hatte viel Spaß dabei. In der ersten Staffel war ich immer so zornig. Und dann? Wann hätte ich jemals eine dauerglückliche Superheldin spielen können?“
Beinahe alle Figuren machen einen unerklärlichen Wandel durch und verhalten sich in der zweiten Staffel – die inhaltlich nahtlos an die erste anschließt – anders und sind für den Zuschauer kaum noch greifbar. Einzig die Polizisten Cooper, Truman und Hawk, sowie Audrey bleiben halbwegs konstant. Der Sender fürchtet außerdem, die Zuschauer nicht länger mit der Frage nach Lauras Mörder halten zu können, und zwingt Lynch zu einer frühen Auflösung.
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Die Aufklärung des Mordes zur Mitte der Staffel wirkt unglaubwürdig und dahingerotzt – und führt in Deutschland zu einem mittelschweren Skandal!
Hierzulande läuft die Serie ab Ende 1991 auf RTL Plus. Als die Serie (seinerzeit wurde in Deutschland aufgrund der Synchronisationsverzögerung noch nicht in 'Staffeln' gedacht) sich ihrem Höhepunkt nähert, und RTL damit wirbt, in der nächsten Folge den Mörder zu offenbaren, grätscht Konkurrent SAT.1 dazwischen: Wenige Tage vor der Ausstrahlung verrät der Kanal mit dem Ball die Identität des Mörders in seinem Videotext.

Die Wirkung ist verheerend – was für RTL als Höhepunkt der Serie dienen sollte, wird zur ersten Folge mit sinkenden Einschaltquoten. Eine Entwicklung, die der in den USA gleicht. Auch dort kann sich die schwächelnde Serie nicht mehr davon erholen, ihren zentralen Handlungspunkt aufzugeben.

Auch sonst verliert die Serie mehr und mehr Identität. Der Mystizismus nimmt unglaubwürdige Züge an, was in Anbetracht der subtilen Brillanz der ersten Staffel bedauerlich ist. Die Darsteller und Regisseure wirken lieblos und nicht selten  überfordert. Nach 15 Episoden unterbricht der Sender die Ausstrahlung und konzipiert das gesamte Finale um – samt einer unglaubwürdigen Liebesgeschichte für Cooper. Als die Serie, auf wechselnden Sendeplätzen, mitten im Golfkrieg wieder anläuft, sind kaum noch Zuschauer da, die den Untergang verfolgen. Lynch wird aus dem Desaster seine Lehre ziehen: „Ich drehe lieber gar keinen Film, als einen, bei dem ich nicht das letzte Wort habe.“

So ist es nicht verwunderlich, dass es zähe, langjährige Verhandlungen braucht, bevor er sich bereit erklärt, 2017 eine Wiederaufnahme der Serie in Betracht zu ziehen.
Kyle MacLachlan sagt später über seine Erfahrungen mit TWIN PEAKS: „Nach der Serie hatte ich Zweifel, für den Film zurückzukehren. Ich war ziemlich naiv, was das betrifft. Damals hatte ich das Gefühl, in dieser farblosen Rolle gefangen zu sein, aber wenn ich zurückblicke, war Dale Cooper eine der besten Rollen, die mir je angeboten wurden. Ich habe anschließend einige Filme gemacht, die etwas seltsam waren – gedreht mit den besten Absichten, aber das Ergebnis war nicht zwangsläufig das, welches ich mir erhofft hatte.“
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Die Zusammenarbeit mit Lynch ist nicht immer einfach und auch die Konzeptionierung der Figuren (explizit die der Audrey in der zweiten Staffel, die ursprünglich eine Affäre mit Cooper beginnen soll, was aber aus verschiedenen Gründen fallengelassen wird) kann MacLachlan heute nicht immer nachvollziehen. Dennoch ist und bleibt Lynch für ihn ein bemerkenswerter Regisseur: „Es gibt nicht viele Filmemacher wie David, schon gar nicht in Amerika. Er ist so mutig. Er zieht seine Ideen aus einem unerforschten Ort. Er folgt keinen Regeln. Er folgt einem unbewussten Drang, und das ist schwer umzusetzen heutzutage, wo die Produzenten am ersten Drehtag wissen wollen, wie viel der Film einspielt. Sie wollen das Geld an Tag 90 wieder drin haben, oder an Tag 120, oder Tag 180. So arbeitet David einfach nicht, und das ist nicht mehr gefragt.“

Niemand ist mit der zweiten Staffel zufrieden. Der Sender ist noch immer nicht mit dem ungewohnten Konzept warm geworden, dessen Erfolg sie nicht steuern oder kontrollieren können. Lynch, Frost und der Cast verlieren immer mehr das Interesse, ebenso wie die Zuschauer, die ihr skurriles Mystery-Crime-Drama nicht mehr wiedererkennen. Alle Pläne für eine abschließende dritte Staffel werden sang- und klanglos fallengelassen.
So hoch die Serie durch ihre revolutionäre erste Staffel steigt, so tief stürzt sie in der zweiten Staffel ab. Noch heute gibt es zwar auch Stimmen, die sogar der zweiten Staffel Lynchs unnachahmliches Genie unterstellen, und darin ein Stück Fernsehkunst finden. Doch nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sie weder mit der Qualität, noch dem Erfolg, und schon gar nicht der Popularität der ersten Staffel mithalten kann.

Ein bisschen Frieden


Lynch versucht dennoch, sich wenigstens ein bisschen mit seinem Sorgenkind zu versöhnen, und kratzt das Geld für einen abschließenden Film zusammen. In TWIN PEAKS – FIRE WALK WITH ME widmet er sich den in der Serie nur erwähnten letzten sieben Tagen von Laura Palmer vor deren Ermordung.
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Das Drehbuch schreibt er diesmal nicht mit Mark Frost, denn seit der Dreharbeiten zur zweiten Staffel ist das Verhältnis der beiden Künstler deutlich abgekühlt, sondern mit Robert Engels. „Das Drehbuch schrieb sich eigentlich ganz von allein. Wir gehen zurück in die Vergangenheit, viele Elemente der Vorgeschichte sind uns bekannt, aber viele eben auch nicht. Für Bob Engels und mich war es äußerst witzig und spannend, die Informationslücken zu füllen, die Löcher zu stopfen.“ Lynch konzipiert die Idee zu dem Film gemeinsam mit dem Fernsehproduzenten Aaron Spelling, der bereits die Serie mitproduzierte. Nachdem der Sender ABC Mitte der zweiten Staffel beschließt, die Serie nach der dreißigsten Folge abzusetzen, keimt in Lynch die Idee, alle (oder fast alle) losen Enden noch einmal in einem Film zusammenzuführen.
Aaron Spelling mutet aus heutiger Sicht als Produzent seltsam für den Film an, ist er doch der „Saubermann“-Produzent, ein Schöpfer heiler Welten, der weltweite Erfolge mit Serien wie LOVE BOAT, HART ABER HERZLICH, DER DENVER CLAN, HOTEL, oder später den Straßenfegern BEVERLY HILLS 90210 und MELROSE PLACE (die zumindest als Saubermann-Serie beginnt, bevor sie zum telegenen Bitchfight mutiert) einfährt.

Familiäre und persönliche Probleme finden in Spellings Welt nach 45 Minuten stets ein sorgenfreies Ende, und er entlässt die Zuschauer mit der blütenweißesten Moral, die Amerika zu bieten hat. Und dieser Spelling produziert nun einen Film, der psychedelische Bilder, psychische Abgründe, sexuelle Obsessionen, Drogenkonsum und ungewohnte Gewaltspitzen dem Publikum zum Greifen nahe bringt.

Viele der Stammschauspieler der Serie sagen ab. Entweder, weil sie bereits andere Projekte haben, oder aber, weil sie durch die dramatischen Fehlkonzeptionierungen ihrer Rollen während der zweiten Staffel jede Motivation verloren haben, an dem Projekt weiterzuarbeiten. So sagt Sherilyn Fenn in einem Interview kurz nach Ende der Serie: „Ich war extrem enttäuscht von der Art und Weise der zweiten Staffel. So schnell wollte ich nicht wieder mit von der Partie sein.“ Sie wurde also aus dem Drehbuch gestrichen, ebenso wie Richard Beymer als Benjamin Horne. Lara Flynn Boyles Figur der Donna war für den Film allerdings unverzichtbar und musste, nach Flynn Boyles Absage, mit Moira Kelly neu besetzt werden.
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Und selbst Kyle MacLachlan zögert lange: „Das Drehbuch konnte mich nicht restlos überzeugen. Ich war auch schon von den Büchern der letzten TV-Staffel nicht mehr begeistert gewesen. Ein Drehbuch muss mich stimulieren und mein Interesse für die Geschichte und die Charaktere wecken.“

Einzig Sheryl Lee sieht in der Fokussierung des Films auf ihre nie wirklich ausgespielte Rolle der Laura Palmer eine bedeutende Möglichkeit, der sonst nur als Foto bekannten Figur Kontur zu verleihen und sagt sofort zu. Und sie liefert eine beeindruckende Performance ab!

TWIN PEAKS – DER FILM hat am 16. Mai 1992 in Cannes Premiere, bevor er weltweit in den Kinos startet – und gnadenlos floppt. In den USA spielt der Film gerade mal vier Millionen Dollar ein. Heute gilt er als einer von Lynchs unterschätztesten Filmen, und mit Sicherheit liegt der Misserfolg im Kino auch daran, dass die in der Serie zum Heiligtum stilisierte Figur der Laura Palmer minutiös demontiert wird. Sheryl Lee legt als Laura Palmer einen Seelenstriptease hin, der verstört. Die beliebte Highschool-Schönheit ist kurz vor ihrem Tod ein psychisches Wrack, das die Tage nur mittels Alkohol und Drogen übersteht, promiskuitiv und von einem Dämon besessen ist, der sie ihre „dunkle“ Seite ausleben lässt. Darüber hinaus sieht man sie bei inzestiösem Sex, was für deutlichen Unmut in der Fangemeinde sorgt. Der FAZ-Kritiker Patrick Bahners fasst zusammen, was viele Fans denken: „Das Antlitz der Göttin verliert so an Macht.“
Die restlichen Bewohner Twin Peaks' bleiben allesamt blass, besonders die Figuren, die nur einen unerklärlichen, kurzen Gastauftritt haben, wie etwa Bobby, James, Shelly, die Scheit-Lady, Philipp Jeffries, und, und, und. Diese Auftritte wirken eher wie ein Fan-Service, als dass sie für die Geschichte sinnvoll genutzt werden.

Die Bildsprache hingegen ist beeindruckend. Traum und Realität, psychedelische Rauschbilder und pittoreskes Kleinstadtambiente gehen gekonnt ineinander über und zeichnen ein schräges Sittenbild einer amerikanischen Kleinstadt. Der Film hat nicht die Leichtigkeit der Serie. Erstaunlich düster, nihilistisch, vulgär und bitter kommt das Drama mit eingeflochtenen Horror-Elementen daher.
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Bezweifeln darf man auch, ob Kinobesucher, die die Serie nicht kennen, dem Film viel abgewinnen können. Auch das wohl ein Grund für den Misserfolg. Viele Serienfans sind zudem noch immer von dem Ausklang der Serie enttäuscht. Da der Film vor der Serie spielt, erfüllt er nicht einmal die vage Hoffnung, unter Umständen das nie aufgelöste Cliffhanger-Ende aufzulösen, mit dem die Serienfans zurückgelassen wurden.

David Lynch ist dennoch zufrieden, und findet seinen Frieden: „Ich liebe diesen Film. Heute kann ich sagen, dass THE STRAIGHT STORY mein experimentellster Film ist, aber bis zu dem Augenblick war es TWIN PEAKS – FIRE WALK WITH ME. Und einige der Dinge, die Kombinationen, die Sequenzen … Es war ein düsterer Film, aber wie Peggy Lipton in einem Interview sagte, er war einfach zu direkt, und ihm fehlte der Humor der Serie. Es war also, was es sein sollte, aber es war nicht das, was die Leute wollten. Er sollte für sich selber stehen, aber er sollte gleichzeitig die letzte Woche von Laura Palmers Leben zeigen. Und all diese Dinge, die bereits etabliert waren, sie konnten auf einer Erfahrungsebene angenehm sein, aber sehr unangenehm auf einer ganz anderen Ebene.“

Ring frei für Runde drei


Doch die Welt ist noch nicht fertig mit TWIN PEAKS.
Als 2013 erste Gerüchte laut werden, dass die Serie auf den Bildschirm zurückkehrt, jubeln die Fans weltweit. Doch die Verhandlungen verlaufen zäh. Immer wieder steigt Lynch aus, und mit ihm die Darsteller des Originals, die zu einer Rückkehr bereit sind. Erst Ende 2015 beginnt der Dreh.

37 der Schauspieler von 1990 sind wieder mit an Bord – gealtert, aber mit viel Optismismus. Hinzu kommen unzählige neue Figuren – in einem Cast, der vor Stars nur so strotzt.
Die Mini-Serie soll 18 Folgen umfassen, und auch wenn von der Geschichte allenfalls Splitter bekannt sind, werden diese sehnsüchtig erwartet.
© Paramount (Universal Pictures)
Ob das Revival das Flair und die revolutionären Ideen von 1990 wiederholen oder wiederaufleben lassen kann, ist fraglich. TWIN PEAKS war immer auch eine Serie über das Fernsehen, die Sehgewohnheiten gezielt verdrehte und in eine Art Anti-Fernsehen verdrehte. Doch heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, ist die Fernsehlandschaft eine gänzlich andere. Nicht zuletzt dank TWIN PEAKS. Es gibt kaum noch Tabus, kaum noch feste Regeln. Im Gegenteil – der Regelbruch ist zu einer bedeutenden Konstante im Fernsehen geworden. Eine derartig krasse Revolution wie 1990 scheint heute kaum noch möglich.

Doch vielleicht geht es darum auch gar nicht.
TWIN PEAKS ist für unzählige Fans ein zweites Zuhause. Die Serie machte Mittagspausengespräche über rückwärts sprechende Zwerge oder Scheit-Ladys nicht nur möglich, sondern zum guten Ton. Auch heute noch, 27 Jahre nach ihrer Premiere, wirkt die Serie frisch und modern, mit Meta-Score Werten um 9,0 Punkte, wie sie sonst nur modernen Geniestreichen wie GAME OF THRONES, THE WIRE oder BREAKING BAD vorbehalten sind.
Man lässt sich auch heute noch mit Freude von Coopers Begeisterung für guten Kaffee, Donuts und Douglas-Tannen anstecken; man entwickelt noch immer eine unerklärlich friedvolle Verbindung zu einer nie sichtbaren Diane. Man rätselt und lacht, fürchtet Bob und das One-Eyed-Jack's, und steigt mit hinab in den Sumpf, der sich hinter der rotbraunen, holzverkleideten Fassade der Kleinstadt nahe der kanadischen Grenze verbirgt.
Und vielleicht ist das genug. Vielleicht ist es genug, sich mit „Alten Freunden“ zu treffen. Denn TWIN PEAKS und seine Bewohner sind immer eine Reise wert.
© Paramount (Universal Pictures)

3 Kommentare:

  1. Schön geschrieben. Ich mochte den Film eigentlich auch ganz gern und das obwohl die gute Lara Flynn Boyle nicht darin mitwirkte. Die war nämlich damals in der Serie für einen pubertierenden Jungen wie mich eine Offenbarung... ;)

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    1. O ja, die war eine Hübsche. Erstaunlich auch, wie viel Ähnlichkeit sie in der ersten Staffel mit Winona Ryder hatte. :)

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    2. Herzlichen Dank für diesen umfassenden Überblick, nach welchem ich nun einiges besser verstehe (vor allem den Qualitätsabfall in Staffel 2).
      Den Film fand ich beim Kinostart grandios - nun habe ich grosse Lust, den mal wieder zu sehen.

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