11.05.17

Porträt: Margaret Rutherford – Frühe Träume, später Ruhm

Sie werden nie einen Komödianten finden, 
der nicht auch einen starken Hang zur Traurigkeit hat.
Quelle: DVD „Blithe Spirit“ © Global Entertainment (Bisher keine deutsche Heimkinoauswertung)

Eine Version dieses Porträts findet sich auch in Ausgabe 17 von„35 Millimeter“, dem Retro-Filmmagazin.

 Biancas Blick:

Margaret Rutherford gilt bis heute als eine der bekanntesten britischen Schauspielerinnen des vergangenen Jahrhunderts. Fragt man Cineasten und Filmfreunde, worauf sich dieser Ruhm gründet, hört man immer wieder die gleiche Antwort: Weil sie Miss Marple ist!
Obwohl Margaret Rutherford über 50 Film- und Fernseheinträge hat, und eine der am meisten beschäftigten Theaterdarstellerinnen Großbritanniens ist, ja, 1963 sogar einen Golden Globe und einen Oscar für ihren Auftritt in HOTEL INTERNATIONAL einheimst, kennt man sie heute fast ausschließlich als schrullig sympathische Jane Marple in den vier Filmen, die Mitte der 60er Jahre entstehen.


Tragödien pflastern ihren Weg


Margaret Rutherfords Familiengeschichte ist durchwoben von Tragödien, persönlichen Schicksalsschlägen und Umwälzungen.
Bereits zehn Jahre vor ihrer Geburt erschlägt ihr unter schweren Depressionen leidender Vater, William Rutherford Benn, ihren Großvater, Reverend Julius Benn, während des Erholungsurlaubs nach einer erfolgreich behandelten depressiven Phase. Sein anschließender Selbstmordversuch misslingt. William Rutherford Benn entgeht der Todesstrafe nur durch die Einweisung in ein Hospital für geisteskranke Kriminelle.

Nach sieben Jahren wird er in die Obhut seiner Frau Florence übergeben. Da einige Mitglieder der Familie Benn in der politischen Öffentlichkeit stehen, legt die Familie den Namen „Benn“ ab, nennt sich fortan nur noch „Rutherford“, um nicht länger mit dem Mord in Verbindung zu stehen.

1892 wird Margaret Rutherford geboren. Wenige Monate später wandert sie mit ihren Eltern nach Indien aus, wo ihr Vater als Kaufmann Geschäftsbeziehungen hat und darüber hinaus journalistisch tätig ist.
Quelle: DVD „Der Wachsblumenstrauß“ © Warner Home Video
Zwei Jahre nach der Übersiedelung nimmt sich Margaret Rutherfords erneut schwangere Mutter Florence das Leben. Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag, mit dem die Familie – insbesondere der labile Vater – umgehen muss. 1895 kehrt Rutherfords Vater nach England zurück und übergibt die dreijährige Margaret der Schwester seiner verstorbenen Frau. Er selbst geht zunächst wieder nach Indien und lebt auch einige Zeit in Frankreich, kehrt aber schließlich nach England heim, wo er ab 1904 abermals in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wird.

Ihre Tante versucht Margaret Rutherford vor der Wahrheit über ihren Vater zu schützen und verschweigt dessen Vatermord. Erst mit zwölf Jahren erfährt Rutherford die Hintergründe ihres Halbwaisentums, da ein Landstreicher bei ihrer Tante einbricht und dem Mädchen von ihrem in der Psychiatrie eingesperrten Vater erzählt. Margaret Rutherford reagiert darauf mit panischer Angst, ihr Vater könne ausbrechen und auch sie töten, und bleibt der Schule für mehrere Monate fern.
Bis zu ihrem Lebensende trägt sie zudem die Furcht mit sich, ähnlich instabil und psychisch krank zu werden wie ihre Eltern, insbesondere ihr Vater.


Frühe große Träume


Margaret Rutherford besucht die Highschool und entdeckt ihre Liebe zur Schauspielerei während eine Privataufführung, in der sie sowohl einen Prinz als auch eine böse Fee verkörpert. „Damals war ich fast trunken vor Glück – eine kleine Flamme war in mir entzündet worden und sie blieb brennen, bis ich 25 Jahre später auf die Bühne des Old Vic treten durfte“, sagt Rutherford später über diesen ersten Auftritt im privaten Kreis.
Quelle: DVD „Blithe Spirit“ © Global Entertainment (Bisher keine deutsche Heimkinoauswertung)
Margaret Rutherford erwirbt zunächst ein Diplom als Klavierlehrerin und anschließend eines in Sprecherziehung an der Royal Academy of Music. Da gutes Sprechen im England jener Jahre eine wichtige Voraussetzung für die gesellschaftliche Anerkennung ist, ist die Nachfrage in diesem Metier sehr hoch, und so sichern beide Qualifikationen Margaret Rutherford in mageren Schauspieljahren den Lebensunterhalt.

Als 1923 Rutherfords Tante Bessie verstirbt, die sie bereits zehn Jahre lang gepflegt hat, investiert Margaret Rutherford ihr Erbe in Schauspielunterricht, um ihren Wunsch wahr werden zu lassen.
1925 hat sie endlich ihren ersten professionellen Auftritt am renommierten Old Vic Theater. Mit 33 Jahren ist sie dort eine der ältesten Debütantinnen. Ein Jahr lang bleibt sie gut beschäftigt, bis 1926 keine weitere Rollen mehr für sie zur Verfügung stehen. Wieder muss sie allein vom Klavier- und Sprechunterricht leben.
Ab 1928 geht es wieder aufwärts. Sie spielt an verschiedenen Bühnen, wie dem Grand Theatre in Fulhalm oder dem Epsom Little Theatre, und kann sich finanziell gerade so über Wasser halten.
Tyrone Guthrie, einer der bedeutendsten Theaterregisseure jener Zeit, entdeckt ihr Talent und fördert Margaret Rutherford in verschiedenen Besetzungen seiner Inszenierungen.

Neben ihrer Filmkarriere tritt Margaret Rutherford immer wieder im Theater auf und wird 1961 für ihre Leistung in den Ritterstand erhoben. Der Theaterkritiker Kenneth Tynan notiert einst zu ihr: „Das Einzigartige an Margaret Rutherford ist, dass sie allein mit ihrem Kinn schauspielern kann.“
Und tatsächlich macht Rutherford sich schon im Theater mit dem bemerkbar, was später ihre Leinwandkarriere auszeichnen wird. Mit ihren schrägen, energiegeladenen Auftritten stiehlt sie den anderen Schauspielern jedesmal die Schau, selbst wenn ihre Rolle nur winzig ist.
Quelle: DVD „Blithe Spirit“ © Global Entertainment (Bisher keine deutsche Heimkinoauswertung)
1936, im Alter von 44 Jahren, spielt Margaret Rutherford ihre erste Filmrolle in dem Film DUSTY ERMINE. Wirkliches Aufsehen erregt sie jedoch erst 1945 mit David Leans Filmversion von GEISTERKOMÖDIE, mit dessen Bühnenversion Rutherford bereits große Erfolge feiern konnte. Endgültig bekannt wird sie spätestens 1952 mit der Verfilmung des Oscar-Wilde-Bühnenstückes ERNST SEIN IST ALLES.
Weitere Klassiker ihrer frühen Filmkarriere werden BLOCKADE IN LONDON, DER WUNDERBARE FLIMMERKASTEN und DIE KLEINSTE SCHAU DER WELT.


Miss Marples erster Auftritt


Miss Marple wird in Agatha Christies zugrundeliegenden Romanen als kultivierte, hochgewachsene, etwas blasshäutige und zerbrechlich wirkende ältere Dame mit blauen Augen aus der oberen Mittelschicht beschrieben.
Bei ihren ersten Romanauftritten in den Kurzgeschichten der 1930er Jahre scheint sie ungefähr 65 Jahre alt zu sein und trägt ihr hochgestecktes weißes Haar unter einer schwarzen Spitzenhaube, während sie auch beim Stricken, ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung, die Finger mit schwarzen Halbfinger-Spitzenhandschuhen bedeckt. Ihren Lebensunterhalt scheint sie aus dem Erbe ihrer Eltern zu bestreiten, sie muss aber sehr sparsam haushalten. So wird Miss Marples Wesen und ihre äußere Erscheinung beschrieben.

Davon ist nicht mehr viel zu erkennen, als Rutherford als populäre Hobbydetektivin das erste Mal auftritt. Ruhterfords Marple ist eine liebenswert-schrullige alte Jungfer, die aber, wenn es um das Lösen von Rätseln geht, ihren scharfen, logischen Verstand unter Beweis stellt. In bester Krimitradition erstaunt sie dabei Inspektor Craddock immer wieder aufs Neue, indem sie Analogien zu früheren Ereignissen und Personen aus dem Dorfleben herstellt.
Quelle: DVD „Vier Frauen und ein Mord“ © Warner Home Video
In den vier Auftritten, die Margaret Rutherford als Miss Marple hat, erfährt man außerdem, dass die Figur, anders als in der literarischen Vorlage,e an Reit- und Golfturnieren teilgenommen hat und sogar schießen und fechten kann. Alles Attribute, die die Burschikosität der Filmfigur noch unterstreicht.
Bald schon ist Rutherfords Marple deutlich bekannter als die sprödere Romanversion.

Agatha Christie äußert sich später betrübt darüber, dass sie ihre Miss Marple bereits so alt hat in Erscheinung treten lassen. So musste sie dem jüngeren Hercule Poirot eine Vielzahl der Fälle überlassen, für deren Aufklärung Miss Marple bereits zu alt gewesen wäre.
Ihren letzten Fall klärt die Roman-Miss-Marple 81-jährig in „Ruhe unsanft“, bevor sie sich literarisch zur Ruhe setzt.
Ein Zitat der Roman-Miss-Marple fällt dabei ins Auge, weil es auch für Rutherfords ganz andere Marple stehen könnte: „Die jungen Leute denken, die Alten sind Narren, aber die Alten wissen, die Jungen sind Narren.“


Die berühmteste alte Dame der Welt und ein Oscar


1961 also spielt Margaret Rutherford unter der Regie von George Pollock (der alle vier Marple-Filme inszenieren wird) das erste Mal Jane Marple – und muss dazu erst einmal überredet werden, denn „Mord“ ist etwas, das sie, vielleicht hervorgerufen durch ihre Vergangenheit, zutiefst abstößt. „Wissen Sie, Mord ist die nicht die Art von Sache, an die man sich gewöhnen kann. Ich mag diese Dinge nicht, die nur Spannung erzeugen sollen. Da wäre es mir lieber, gar nicht zu arbeiten. Ich mag keinen Mord. Er hat immer so eine Stimmung, die ich als unangenehm empfinde.“
Quelle: DVD „Der Wachsblumenstrauß“ © Warner Home Video
Vielleicht auch deshalb spielt sie in 16:50 AB PADDINGTON die Hobbydetektivin mit solch frech-burschikosem Verve und Esprit, dass die Romanautorin Agatha Christie über die Darstellung entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. In ihren Augen hätte Jane Marple viel gutmütig-bedachter und eleganter sein müssen. Das Publikum hingegen ist begeistert und so avanciert 16:50 AB PADDINGTON zu einem der erfolgreichsten britischen Produktionen des Jahres.

Als die beiden Damen sich während der Dreharbeiten kennenlernen, schließen sie eine langjährige Freundschaft. Agatha Christie widmet ihren Roman MORD IM SPIEGEL niemand Geringerem als Margaret Rutherford!
Die setzt zwei interessante Dinge in der Produktion durch: Zum einen trägt sie ausschließlich ihre eigene Kleidung, und zum anderen lässt sie eine Figur verändern, die im zugrundeliegenden Roman als „Assistentin“ auftaucht. Sie macht daraus einen Mann und eine bedeutende Nebenfigur: Mr. Stringer, ihr kongenialer Freund und Helfer, wird als Ersatz kreiert und von ihrem damaligen Ehemann Stringer(!) Davis gespielt. Dieser ist in England als Darsteller des „English Gentleman“ in kleinen aber feinen Nebenrollen bekannt. Die Legende besagt, dass Stringer hoffnungslos in John Gielgud – einem der größten Bühnendarsteller Englands – verliebt gewesen sei. Doch diese Liebe blieb unerwidert. Er soll diese Schwärmerei später seiner Frau gebeichtet haben, die diesen Umstand wohl recht gelassen hingenommen hat.

Bevor die erfolgreiche Miss Marple-Reihe fortgesetzt wird, tritt Margaret Rutherford 1963 in einem Elizabeth-Taylor-Richard-Burton-Vehikel auf und stiehlt dem skandalträchtigen Paar die Show! In HOTEL INTERNATIONAL spielt sie zwar nur eine kleine Nebenrolle, diese aber so pointiert und gekonnt, dass der sonst eher gefällige, träge Film allein dadurch äußerst sehenswert wird.
Der Lohn sind ein Golden Globe und Oscar für die Beste Weibliche Nebenrolle.
Rutherford ist 71 und erklimmt gerade erst den Zenit ihrer Filmkarriere.
Quelle: DVD „Mörder Ahoi!“ © Warner Home Video
Ebenfalls 1963 entsteht der zweite Marple-Film, der eigentlich auf einem Hercule-Poirot-Roman basiert. DER WACHSBLUMENSTRAUß kommt ähnlich frech und humorvoll wie der Vorgänger daher und festigt Margaret Rutherfords Version der Jane Marple. Auch die zweite Verfilmung besticht nicht mit Raffinesse oder durch einen ausgeklügelten Plot, sondern mit seiner hervorragend schrulligen Hauptdarstellerin.
Die Premiere des Streifens findet auf einer Gartenparty statt, bevor er erfolgreich in den britischen Kinos anläuft.

Der dritte Film beruht ebenfalls lose auf einem Hercule-Poirot-Roman: VIER FRAUEN UND EIN MORD spielt in einem kleinen englischen Theater und zeichnet sich durch eine pointierte Darstellung von Manierismen und Anekdoten der schauspielenden Zunft aus. Das Werk ist dadurch humorvoll überzeichnet.
So darf Rutherford etwa als Miss Marple ein Vorsprechen abliefern und begeistert den Theaterregisseur im Film, wie das Publikum vor der Leinwand gleichermaßen.
Die Kritiker jener Jahre sind sich einig: Große Kinokunst bekommen sie nicht geboten, aber erneut einen handwerklich gut gemachten und schwarzhumorigen Krimi mit einer beeindruckenden


Margaret Rutherford, die allein schon das Kinoticket wert ist.


Noch im gleichen Jahr entsteht der letzte Film der Marple-Reihe, der sich lose an Motiven des fünften Miss-Marple-Romans Fata Morgana orientiert.
MÖRDER AHOI! ist sicherlich der albernste und überzogenste Film der Reihe, dank Rutherford aber immer noch sehenswert.
Die Kritiker freuen sich erneut über die bis in die kleinste Nebenrolle gelungene Darstellung der Figuren.
Quelle: DVD „Der Wachsblumenstrauß“ © Warner Home Video
Diese vier Filme zementieren Rutherfords Starstatus bis heute.
Obwohl sie in den folgenden Jahren noch mit einigen Größen der Filmwelt dreht, sind es diese vier Filme, die Filmfans als erstes einfallen, wenn der Name Margaret Rutherford fällt.
Ob sie durch ihren Erfolg exzentrisch geworden sei, ist eine in jenen Jahren häufig gestellte Frage, auch in Hinblick auf die von ihr so kongenial verkörperte Miss Marple. Dazu äußert sich Rutherford gewohnt komödiantisch: „Ich hoffe, dass ich ein Individuum geblieben bin. Ich schätze, ein Exzentriker ist ein Super-Individuum. Vielleicht ist ein Exzentriker etwas weg vom Zentrum – ex-zentrisch. Aber das widerspricht meiner Überzeugung, dass wir zentrifugal bleiben müssen.“


Filmischer Abgesang und persönliche Erfüllung


1965 darf Margaret Rutherford noch einmal als Jane Marple auftreten: Gemeinsam mit Stringer in einem Cameo-Auftritt in dem Hercule-Poirot-Streifen DIE MORDE DES HERRN ABC.
Im selben Jahr besetzt Orson Welles sie in seinem gefeierten FALSTAFF – GLOCKEN UM MITTERNACHT.
Zwei Jahre später tritt Margaret Rutherford in Charlie Chaplins DIE GRÄFIN VON HONGKONG auf.
Quelle: DVD „16 Uhr 50 ab Paddington“ © Warner Home Video
1970, mit 78 Jahren, beginnt sie noch mit der Arbeit an DIE MAGD UND DER ZIGEUNER, muss aber die Dreharbeiten aufgrund eines Sturzes, bei dem sie sich die Hüfte bricht und fortan meist an den Rollstuhl gefesselt ist, abbrechen und wird durch Fay Compton ersetzt. Kurz darauf wird Alzheimer bei ihr diagnostiziert. Die Erkrankung macht eine Rückkehr auf die Leinwand unmöglich.
Am Ende ihrer Karriere sagt sie rückblickend: „Wie gern wäre ich eine große traditionelle Schauspielerin wie die Bernhardt, Duse oder Ellen Terry gewesen. Es gab so viele Stücke, die ich gern gespielt hätte.“

Mit Stranger Davis lebt Rutherford bis zu ihrem Tod.
1972 stirbt Margaret Rutherford 80-jährig an den Folgen einer Lungenentzündung.
Ein Jahr später verstirbt Stringer Davis und wird neben seiner Frau beerdigt.

Am 21. Juli 1972 findet ihr zu Ehren eine besondere Gedenkfeier in der St. Paul's Cathedral statt. Britische Film- und Theatergrößen wie John Gielgud, Flora Robson, Ralph Richardson, Joyce Grenfell und Sybil Thorndike nehmen daran teil.

In ihrer Biographie beschreibt sie ihre einzigartige Karriere gewohnt treffsicher:

Mein Erfolg kam spät, aber – wenn ich so sagen darf – in recht sensationeller Art.
Quelle: DVD „Blithe Spirit“ © Global Entertainment (Bisher keine deutsche Heimkinoauswertung)

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