21.06.16

Porträt: Juliette Lewis – Die Frau fürs Grobe

Das Kino der 90er ist die Zeit der neuen, wilden Stars und Filme. Klassiker wie PULP FICTION, TRUE ROMANCE, NATURAL BORN KILLERS oder FROM DUSK TILL DAWN krempeln das dreckige, junge Kino um. Stars wie Gary Oldman, Tom Sizemore, Brad Pitt oder Woody Harrelson szehen für unangepasstes, freches Kino. Doch keiner von ihnen verkörpert diese laute Phase der Wiedergeburt so intensiv wie Juliette Lewis.
Vom zarten Teenystar zur Rotzgöre des Kinos und schließlich zum Rockstar - Lewis hat eine der erstaunlichsten Karrieren Hollywoods hinter sich. Grund genug, sie noch einmal Revue passieren lassen.
Quelle: Blu Ray Natural Born Killers © Warner Home Video
Biancas Blick:

Juliette Lewis steht wie keine Zweite für das exhibitionistische, tabubrechende, „rotzige“ und feministische Kino der 90er Jahre.
Gemeinsam mit Winona Ryder, die jedoch am entgegengesetzten Ende des Rollenspektrums die brave, rehäugige Elfe spielt (und mit der Lewis öfter um Rollen konkurriert, etwa in BEETLEJUICE), dominiert Lewis das junge, wilde Kino mit seinen politisch-gesellschaftlich-konfliktfreudigen, immer wieder Grenzen überschreitenden Filmen.
Lewis' Image ist deckungsgleich mit ihren Rollen. Unangepasst. Radikal. Böse.
 

Ohne Schulabschluss ins Filmgeschäft


Juliette Lewis wird am 21. Juni 1973 in Los Angeles geboren, ihre Mutter ist Grafikdesignerin und ihr Vater der schon damals erfolgreiche Schauspieler Geoffrey Lewis. Entsprechend ungewöhnlich ist bereits ihre Kindheit. So erwägt ihr Vater etwa, sie Snow Lake Lewis zu taufen.

Wie so oft in künstlerischen Biografien, lassen sich auch Lewis‘ Eltern früh scheiden, als Lewis gerade zwei Jahre alt ist. Sie wächst auf einer Farm im kalifornischen Tarzana bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern auf, lässt sich jedoch bereits mit vierzehn offiziell aus der Vormundschaft ihrer Eltern befreien und für selbstmündig erklären, zieht von zu Hause aus und wohnt allein. Sie gibt an, von ihren Eltern zur Rebellin erzogen worden zu sein - es gab keine Regeln, keine Grenzen, stattdessen wäre sie sehr hippiehaft“ und frei aufgezogen worden, immer unterstützt und bestärkt – bis heute.

Mit fünfzehn bricht sie die Highschool ab – nach nur drei Wochen! –, um sich ganz der Schauspielerei zu widmen. Noch im gleichen Jahr wird sie verhaftet, weil sie ohne Führerschein (oder sechzehn zu sein) ihr eigenes Auto fährt, das sie sich mit dem Namen eines Freundes gekauft hat. Ohne Führerschein fährt sie übrigens, bis sie einundzwanzig ist.
Mit sechzehn wird sie erneut verhaftet, weil sie regelmäßig einen Nachtclub besucht.
Quelle: Blu Ray Schöne Bescherung © Warner Home Video
Die Freude an der Schauspielerei erweckt ihr Vater in ihr, der sie oft ans Set mitnimmt.
Eine andere Legende erzählt hingegen, dass Juliette Lewis mit sieben Jahren GREASE gesehen habe und ab diesem Zeitpunkt elektrisiert gewesen sei. Sie sei nur noch singend durch das Haus getanzt und habe Olivia Newton-John kopiert.
Was auch immer die Entscheidung in ihr weckt, Schauspielerin zu werden, es ist die richtige!

Geoffrey Lewis (der insgesamt acht Kinder hat) gelingt nie der große Durchbruch, dennoch spielt er in über 221 Filmen und Serien mit – aufgrund seiner knorrigen Gesichtszüge und seiner stechend blauen Augen häufig als Bösewicht. Mehrmals spielt er neben Clint Eastwood und Robert Redford, und doch gelingt es ihm, als Schauspieler größtenteils unsichtbar zu bleiben. So unsichtbar, dass die Academy of Motion Pictures and Sciences es versäumt, den im April 2015 verstorbenen Künstler in ihrer „in Memoriam“-Sequenz während der Oscarverleihung 2016 zu erwähnen. 
Juliette Lewis äußert ihren Unmut über dieses Versäumnis lautstark auf Twitter: Ich weiß, die Academy wollte meinen von vielen geliebten Vater Geoffrey Lewis in ihrem 'Memorian' nicht vergessen.” Wenig später fügt sie hinzu: Mein Vater Geoffrey Lewis wurde von vielen geliebt und spielte mehr als 220 Filmrollen. Vielleicht kann die Academy nächstes Jahr an ihn erinnern.” Wir schließen uns dieser Hoffnung an.

Erste Schritte ins Fernsehen


Angespornt durch die Leidenschaft ihres Vaters besucht Lewis schon früh viele Vorsprechen. 1987 erhält sie ihre erste Rolle in dem fast vierstündigen Fernsehfilm HOME FIRES. Anschließend gehört sie zum Ensemble der Fernsehserien I MARRIED DORA und THE FACTS OF LIFE.
Größere Bekanntheit erlangt sie aber mit ihrer ersten Kinorolle als Jessies Freundin in MEINE STIEFMUTTER IST EIN ALIEN an der Seite von Kim Basinger, sowie als Audrey Griswold im (heutigen) Weihnachtsklassiker SCHÖNE BESCHERUNG, in dem sie die Tochter von Beverly D’Angelo und Chevy Chase und die Schwester von Johnny Galecki spielt.
In der dritten Staffel der Serie WUNDERBARE JAHRE erhält sie 1989 und 1990 eine wiederkehrende Rolle als Wayne Arnolds Freundin. Es ist eine der populärsten Serien der späten 80er Jahre, und die Figur lässt sie erneut deutlich bekannter werden. 

Hauptrollen und emotionaler Durchbruch


1990 geschehen zwei Dinge in Lewis' Leben, die es entscheidend verändern werden:
Sie spielt ihre erste Hauptrolle in dem Fernsehfilm ZUM STERBEN VIEL ZU JUNG und lernt dabei ihren 10 Jahre älteren Filmpartner Brad Pitt kennen und lieben.
Quelle: DVD „Kalifornia © Twentieth Century Fox
Die beiden betreten zeitgleich die Stufen des Erfolgs, feiern kurz darauf zeitgleich ihren Durchbruch, gelten zeitweise als eines der „heißesten Pärchen“ Hollywoods. (Auch hier spiegelt sich Lewis mit Winona Ryder, die fast zeitgleich mit Johnny Depp das andere angesagte Hollywood-Pärchen ihrer Zeit abgibt.)
Lewis und Pitt verbindet der unbändige Wille, sich schauspielerisch zu entwickeln und mit jeder neuen Rolle das ihnen zuvor auferlegte Image zu brechen.
Pitt, der 1991 mit THELMA UND LOUISE seinen Durchbruch feiert und von da an als einer der schönsten Männer der Welt gilt, will nichts sehnlicher, als unangepasste Rollen spielen, die mit Schönheit und Anmut möglichst wenig zu tun haben.

Ebenso will Lewis die Untiefen ihrer Charaktere ausloten und begibt sich in den folgenden Jahren auf die stetige Suche nach der künstlerischen Herausforderung – für sie selbst und das amerikanische Publikum.

1993 trennt sich das Paar. Noch 1999 gibt Juliette Lewis an, dass sie die Trennung von Brad Pitt niemals ganz überwinden wird. Heute warnt sie übrigens davor, sie nach Pitt zu fragen, und bricht Interviews an dieser Stelle öfter mal ab.

In ihrer trockenen, humorvollen Art versucht sie den Trennungsgrund zu erörtern:
„Ich bin morgens neben ihm aufgewacht, und selbst nach einer langen Nacht und wenig Schlaf sah Brad immer aus wie im Kino. Als ob die Natur seine persönliche Stylistin wäre. Und man selbst steht auf und sieht im Spiegel die Spuren der Nacht.

Unser spezielles Problem war aber der Altersunterschied. Heute weiß ich, dass ich einfach zu jung war, um in einer ernsthaften Beziehung zu leben. Ich war 16, ein Teenager, als wir zusammenkamen, Brad war zehn Jahre älter. Er war ein Star, und ich habe ihn angehimmelt. Da haben Sie das Problem.“ 

Obwohl ZUM STERBEN VIEL ZU JUNG kein besonders guter Film ist, bestechen beide Jungstars bereits mit ihrem Spiel. Und das erregt Aufmerksamkeit.
Martin Scorsese ist von Lewis' Leistung so beeindruckt, dass er sie, ebenfalls 1991, als Sam Bowdens Tochter Danielle in KAP DER ANGST engagiert, seinem Remake des Klassikers EIN KÖDER FÜR DIE BESTIE.
Der Film wird zu einem Prestigeprojekt, avanciert zu einem der erfolgreichsten Filme 1991 und bringt Lewis, neben dem internationalen Durchbruch, ihre erste und bisher einzige Golden-Globe- und Oscarnominierung als Beste Nebendarstellerin ein.
Quelle: DVD „Kap der Angst © Universal Pictures Germany GmbH
Diese Würdigungen erhält sie zu Recht! Zwar ist ihre Figur eines jungen Teenagers im Umfeld einer gescheiterten Ehe und in den Fängen eines psychotischen Mörders oft anstrengend und nervtötend, das gilt jedoch als Leistungsbeweis ihres Spiels!
Die Szene, in der Lewis Robert De Niros Daumen lutscht, wird zu einem Klassiker und begründet Juliette Lewis' Lolita-Image, das sie jahrelang pflegt. Dabei sagt sie selbst einmal: Weil ich nicht perfekt aussehe, kriege ich bessere Rollen.
Martin Scorsese sagt über Lewis, sie besäße die seltene Gabe „emotionaler Wahrheit“! Was für ein Kompliment für einen Schauspieler! 

Ein Star betritt die Filmlandschaft


KAP DER ANGST macht Juliette Lewis endgültig zum Star.
In den folgenden acht Jahren spielt sie nur noch in Kinofilmen. Das Besondere dabei ist, dass sie, trotz ihres Erfolgs und ihrer wachsenden Stellung, stets auch bereitwillig Nebenrollen spielt, wenn diese gut geschrieben sind oder sie hinter dem Projekt steht.
Das ist einzigartig und unterstreicht Lewis' Wunsch, Kunst statt Kommerz zu machen.

Namhafte Regisseure stehen Schlange, um mit Juliette Lewis zu arbeiten. Den Anfang macht Woody Allen, der sie in EHEMÄNNER UND EHEFRAUEN besetzt.
1993 treten Pitt und Lewis erneut gemeinsam vor die Kamera – und schockieren die Kinowelt als mordendes „White-Trash“-Pärchen im stimmungsvoll unappetitlichen Thriller KALIFORNIA. Pitt frisst sich für die Rolle ordentlich Pfunde an und lässt sich einen ungepflegten Vollbart stehen. Der „Schönling“ nuschelt und rülpst, wirkt schmierig und fettig. Lewis hingegen mimt seine etwas einfach gestrickte, hörige Freundin.
Early und Adele werden zu einem Kultpärchen der frühen 90er.
Die Rollenauswahl der beiden ist mutig und risikoreich, bringt sie aber in ihrer schauspielerischen Entwicklung auch immer weiter voran.
KALIFORNIA floppt zwar an der Kinokasse, entwickelt sich aber in den folgenden Jahren zu einem Genretipp und gilt heute als Klassiker des Serienkiller-Kinos.

Und doch befeuert der Film schon damals Lewis' Starstatus, mit dem sie ordentlich hadert:
„Niemand hatte mich gewarnt, was das für meinen Alltag bedeutete. Du merkst, dass irgendwelche Leute dich plötzlich auf der Straße anstarren. Du hörst, wie sie hinter dir flüstern, wenn du ein Restaurant betrittst. Du holst dir blaue Flecke auf der Seele.“
 

Die stille Heldin im Nirgendwo


Nach ihrem Auftritt in dem rotzigen Crime-Drama ROMEO IS BLEEDING spielt sie 1994 an der Seite von Johnny Depp und Leonardo DiCaprio eine ihrer schönsten (und unscheinbarsten) Rollen: die der Becky in GILBERT GRAPE – IRGENDWO IN IOWA.
Buchverfilmungs-Experte Lasse Hallström zeichnet darin das Bild eines scheinbaren Verlierers, der durch die Verantwortung seiner Familie gegenüber im Nirgendwo festsitzt und erst durch die durchreisende, quirlige Becky von seiner Bedeutung im Leben der anderen erfährt und es mit einer neuen Sicht akzeptieren und mit Glück füllen kann.
Quelle: Blu Ray Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa © Universum Film GmbH
Trotz des wunderbaren Spiels Depps und Lewis' stiehlt ihnen jedoch der 19-jährige Leonardo DiCaprio mit seiner Darstellung des geistig behinderten Arnie komplett die Schau.
DiCaprios Arnie entwickelt sich zu einer der bekanntesten Film-Figuren der 90er, oft zitiert und augenzwinkernd geflachst, und ebnet DiCaprio seinerseits den Weg zum Star.

Zwei Jahre später treffen DiCaprio und Lewis erneut aufeinander, wenn auch nur in zwei kurzen Szenen: JIM CARROLL - IN DEN STRAßEN VON NEW YORK zeigt DiCaprio in der Hauptrolle des gleichnamigen drogenabhängigen Poeten. Lewis kreuzt als drogenabhängige Diane Moody zweimal seinen Weg. Eine winzige Nebenrolle, die sich aber dank Lewis' eindringlichem Spiel ins Gedächtnis einbrennt.
Lewis steht zu dem Projekt und freut sich, daran teilhaben zu können, wenn auch nur mit einer sehr kleinen Rolle.

Spätestens jetzt wird auch deutlich, dass sie längst zur Gruppe der „Jungen Wilden“ der Neunziger gehört: Pitt, Depp, DiCaprio, Gary Oldman oder Tom Sizemore – immer wieder steht sie neben den größten Shootingstars ihrer Zeit auf der Leinwand. Und sie macht sich gerade erst warm.

Bad Girl rises


1994, sie ist gerade neunzehn, liefert Lewis ihren bis dahin komplexesten und berühmtesten Auftritt ab. Oliver Stone besetzt sie in seinem Skandalwerk NATURAL BORN KILLERS als serienmordende Mallory Knox – eine Paraderolle für Lewis. Das ist Kult, das ist radikal, das ist ein Klassiker und 1994 ein revolutionärer Megafilm, der das Kino erbeben lässt!
Die Kritiker sind entsetzt über die brachiale, wild inszenierte Gewaltoper, das Kinopublikum, zumindest der Teil, der sich nicht angewidert abwendet, ist hingegen begeistert!
Stark inspiriert von Warren Beattys BONNIE UND CLYDE ballern sich Mallory und Mickey Knox, Letzterer hervorragend verkörpert von Woody Harrelson, quer durch Amerika.
Am Ende stehen 52 Leichen auf ihrem Konto.

Grob angelehnt an eine Grundidee von Quentin Tarantino hat Oliver Stone sich das Script zu eigen gemacht und daraus eine wilde und messerscharfe Medienschelte und Gesellschaftskritik erstellt, die er in einer Tour de Force vor sich hertreibt. Beide Hauptdarsteller (sowie der kongenialen Robert Downey, Jr.) erbringen hier eine der besten Leistungen ihrer Karrieren. Besonders für das junge, medienkritische Publikum geraten die Hauptfiguren und Lewis' lasziv-mordende Mallory zu einer gefährlich-anziehenden Projektionsfläche, die eine bizarre Identifikation heraufbeschwört.
Quelle: Blu Ray Natural Born Killers © Warner Home Video
Spätestens als (der damals extrem erfolg- und einflussreiche) John Grisham eine Klage gegen Oliver Stone unterstützt, nachdem ein Teenagerpärchen nach zwei brutalen Morden NATURAL BORN KILLERS als Motivationsquelle angibt, ist der Skandal auf seinem Gipfel angekommen. Der Prozess zieht sich bis 2002 durch alle Instanzen, bevor der Kunstfreiheit Recht gegeben wird.
Doch noch lange danach wird der Film immer wieder als Grund für brutale Gewaltverbrechen angegeben - häufig genug, dass die Liste es auf ihre eigene Wikipedia-Seite schafft.

Heute kann man sich niemand anderen in der Rolle der Mallory Knox vorstellen als Juliette Lewis. Und für Stone ist auch von Beginn an keine andere im Gespräch, wenn es auch andere Stars wie Rosanna Arquette gibt, die Interesse haben, und Stone sich tatsächlich mit Tori Amos trifft, die kurz für die Rolle im Gespräch ist.
Mit NATURAL BORN KILLERS beweist Juliette Lewis, dass sie bereitwillig da zugreift, wo eine Winona Ryder aus Furcht um ihr Image oft zögert.

Juliette Lewis baut sich ihr eigenes Image auf – sie wird Hollywoods Frau fürs Grobe. (Dazu passt auch, dass sie Tom Sizemore während des Drehs zu NATURAL BORN KILLERS die Nase bricht!)
Sie ist risikobereit, unangepasst, emanzipiert.
Quelle: DVD „Romeo is Bleeding © EuroVideo Medien GmbH
In eine ähnliche Kerbe schlägt sie ein Jahr später in Kathryn Bigelows Meisterwerk STRANGE DAYS, setzt ihrem Badgirl-Image sogar noch eins drauf.
Diesmal wieder als Nebendarstellerin, aber dennoch einprägsam und radikal, spielt sie eine rotzige Ex-Freundin.
Wieder dienen Medien als Aggressor, als Stimulator gewaltbereiter Atmosphäre. Wieder geht es um Gewalt und den medialen Umgang damit.

Diese Dystopie ist nach NATURAL BORN KILLERS weniger radikal oder tabubrechend, und auch weniger erfolgreich, aber dennoch nachhaltig. Vor allem Lewis bleibt als unangepasste Figur in Erinnerung. 

Back to Standard - und ins Aus


Kein Wunder, dass Lewis kurz darauf auch mit den beiden jungen Enfant Terribles des Regiestuhls ihrer Zeit zusammenarbeitet.
In FROM DUSK TILL DAWN von Robert Rodriguez und Quentin Tarantino spielt sie wieder eine Tochter, diesmal von Harvey Keitel. Die Rolle ist in Anbetracht des Weges, den Lewis darstellerisch hinter sich hat, augenscheinlich ein Rückschritt. Dennoch ist ihre Leistung gewohnt herausragend: Ihre oft lolitahafte Laszivität ist mittlerweile zu einem ihrer Markenzeichen geraten, ebenso die Fähigkeit, mit einer unvergleichlichen Unschuld anzügliche, brutale oder anderweitig verstörende Szenen und Figuren zu spielen.
Quelle: DVD „From Dusk Till Dawn © STUDIOCANAL
Von all dem bietet sie in FROM DUSK TILL DAWN eine grandiose Menge, womit der Auftritt zu einem ihrer „typischsten“ wird. Vielleicht auch deshalb rückt sie (obwohl sie das „Final-Girl“ des Films ist) eher in den Hintergrund. Der Film begeistert mit anderen, nie gesehenen Highlights, die ihn zu einem absoluten Kultklassiker erheben. Die vielleicht wichtigste davon ist Salma Hayek, die mit einer kurzen, legendären Schlangen-Tanzeinlage ebenso zum Weltstar avanciert wie die Band Tito & Tarantula, die den Track After Dark" beisteuern. Lewis gelingt es mit ihrem Spiel erstmals nicht, die anderen Spitzen des Films zu überstrahlen.
Von 1996 bis 1998 tritt Juliette Lewis in keinem Film mehr auf.

Seit einiger Zeit frönt sie zudem einer nicht unerheblichen Selbstzerstörung, die allmählich ihren Tribut fordert:
„Die Antwort auf die Frage, warum sich jemand selbst zerstören will, ist viel komplizierter als nur Beziehungsprobleme. Ich war keine Partygängerin, ich habe keine Orgien gefeiert, ich hatte keine tolle Zeit. Sie können mein Verhalten nicht mit einem Partyunfall vergleichen, so als ob ich eher zufällig angefangen hätte Drogen zu nehmen. Es war nichts anderes als ein langfristig angelegter Selbstmordversuch. Erst Marihuana, dann Pillen, dann die härteren Sachen. Sie haben mich komplett verändert: Ich wurde asozial und verlor meine Freunde. Ich war einfach nicht glücklich.“ 
Ihren Drogenentzug macht sie für 30.000 Dollar pro Woche in der Scientology Church.
„Etwa zehn Jahre [bin ich nun Mitglied bei Scientology]. Das ging einher mit dem Ende meiner Drogensucht. Ich habe an einem Scientology-Programm teilgenommen, bei dem du alle Gifte ausschwitzt. Das ist ein großer Wendepunkt, da danach wirklich alle Gifte, auch die in den Fettdepots, aus dir raus sind. Diese Methode hat Hubbard entwickelt. Man nimmt dabei viele Vitamine zu sich. Und ich habe das Gefühl, dass ich heute wilder als damals bin, weniger Konformist, weniger ein Mitläufer. Ich habe einfach mehr Spaß am Leben“, erklärt sie zu dieser Phase in ihrem Leben – und zu ihrer etwas komplexen religiösen Ausrichtung, die sie selbst als „Christlich und Scientology“ angibt.

1999 kehrt sie mit dem Film GANZ NORMAL VERLIEBT zurück, in dem sie ein geistig behindertes junges Mädchen spielt, das sich in einen ebenfalls geistig behinderten Jungen verliebt, gespielt von Giovanni Ribisi.
Lewis selbst bezeichnet ihren Auftritt als Carla als eine ihrer schönsten Rollen, es sei eine „sehr persönliche“ gewesen. Regie führt Gary Marshall, der 1990 mit PRETTY WOMAN einen der erfolgreichsten Filme aller Zeiten inszeniert.
Und es geschieht das Unglaubliche: Juliette Lewis wird 2000 als Schlechteste Schauspielerin für eine Goldene Himbeere nominiert. Sie verliert jedoch gegen Heather Donahue in THE BLAIR WITCH PROJECT.
2001 lehnt sie die Hauptrolle in PLÖTLICH PRINZESSIN ab – die Anne Hathaway den Durchbruch ermöglicht.
Quelle: Blu Ray Roller Girl © Senator Home Entertainment
Lewis' große Zeit auf der Leinwand ist vorbei, als sie noch nicht einmal 30 ist. Mit dem neuen Jahrtausend verschwindet sie mehr und mehr in der Versenkung. Zumindest als Schauspielerin... 

Wäre da nicht die Musik


... denn parallel macht Juliette Lewis inzwischen viel lieber Musik und gründet 2003 ihre Rockband „Juliette and the Licks“.
Bereits zuvor schreibt sie Songs und veredelt Soundtracks zu ihren eigenen Filmen wie z.B. Born Bad“ im Film NATURAL BORN KILLERS und „Rid of Me“ in STRANGE DAYS. Hier darf sie mit Hardly Wait auch erstmals live vor der Kamera mit ihrer Musik auftreten.

2004 schreibt sie einige Texte für das Album Always Outnumbered, Never Outgunned der britischen Band „The Prodigy“ und ist auch auf den Tracks zu hören.

Parallel tourt sie mit ihrer eigenen Band durch die Clubs.
Quelle:„Hard Lovin' Woman © UX Entertainment Group (Noch kein deutscher Start bekannt)
Als Musikerin feiert sie enorme Achtungserfolge, gilt mittlerweile als feste Rockgröße, und die Musik wird ihr Halt und zweites Standbein.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist es diese Kunst, in die sie dieselbe Kraft, Intensität und Kreativität steckt wie zuvor in die Schauspielerei – und dieselbe Rotzigkeit.

Lewis' musikalischer Stil ist von Geschwindigkeit bestimmt – auf der Bühne springt, zappelt und wirbelt sie herum, verrenkt sich, und wer sie auftreten sieht, kommt nicht umhin, darin eine Erklärung für ihr wildes Spiel auf der Leinwand zu erkennen. Denn in jeder Rolle bringt sie dieselbe unbändige Energie auf. Wenn sie sie auch nicht immer körperlich ausleben kann, so sprüht sie ihren Figuren doch immer aus jeder Pore. Vielleicht verraten also ihre musikalischen Auftritte, bei denen sie niemals stillstehen kann, das Geheimnis der Schauspielerin Lewis.
Und auch den Drogen bleibt sie fern, ist seit nunmehr 18 Jahren drogenfrei und zu Recht stolz darauf.

Mit HARD LOVIN‘ WOMAN (Trailer; Film) erscheint 2016 eine Dokumentation, die beide Karrieren Lewis' beleuchtet und sich ihnen widmet.
Und das bietet eine Menge Stoff, denn mittlerweile ist Lewis seit fast 30 Jahren im Showgeschäft, und längst selbst der alte Hase, den sie in ihrem Vater einst bewundert hat.
Die Idee zu einer Dokumentation trägt sie selbst bereits lange mit sich herum, doch als endlich Mike Rapaport als Regisseur feststeht, sagt sie erst „Fuck!“ und dann „Yes!“. Sie kennt Rapaport seit zwanzig Jahren und vertraut ihm, dass er ihr Leben würdig festhält.
 

Sie ist wieder da!


In einem Interview erklärt Juliette Lewis einmal, dass sie sich irgendwann hätte entscheiden müssen zwischen der Schauspielerei und der Musik, und dass zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung für die Musik gefallen sei.
Quelle: DVD „Wayward Pines - Staffel 1 © Twentieth Century Fox
In der Tat ist festzustellen, dass Lewis in den 2000ern zwar immer wieder auch schauspielerisch beschäftigt ist, die großen Rollen aber ausbleiben. Ihre letzten Hauptrollen spielt sie 2001, einmal in dem äußerst sehenswerten TV-Film (und Adam Arkins Spielfilmdebüt als Regisseur) MY LOUISIANA SKY und an der Seite von Gina Gershon in dem Thriller LOST IN TORONTO. Beide erscheinen seinerzeit gar nicht erst in Deutschland. (LOST IN TORONTO erhält 2014 immerhin eine DVD-Auswertung!) Sonst gibt sie höchstens kleine Nebenrollen in eher mittelmäßigen Filmen wie GENUG, STARSKY & HUTCH und COLD CREEK MANOR, und leistet sich immer wieder mehrjährige Lücken.

Doch zu unser aller Glück scheint sie zuletzt wieder mehr Lust auf die Schauspielerei entwickelt zu haben, denn sie wird deutlich aktiver.
Ein erstes Projekt nimmt sie 2009 mit Drew Barrymoores Regiedebüt ROLLER GIRL in Angriff, in dem sie neben Ellen Page erstmals wieder eine größere Rolle spielt. Über einen Genretipp kommt der Film aber nie hinaus.
 
Wie so viele mittlerweile verglühte Stars ihrer Zeit (etwa Winona Ryder oder Christian Slater), versucht auch Juliette Lewis aktuell, sich mittels hochkarätiger Serien neu zu etablieren.
Leider sind ihre aktuellen Rollen in SECRETS AND LIES und WAYWARD PINES zwar spannend und sehenswert, aber auch spürbar eindimensional und erlauben Lewis bisher nicht, ihr von einst bekanntes Potenzial voll auszuspielen. Es bleibt zu hoffen, dass sie in kommenden Staffeln und Projekten mehr Freiheit gewinnt.
Quelle: „Secrets and Lies © ABC Studios
Auf die Leinwand kehrt sie mit einer gefeierten Nebenrolle in einem brillanten Cast in IM AUGUST IN OSAGE COUNTY zurück. Im Herbst 2016 tritt sie zudem in dem mit Spannung erwarteten Social-Media-Thriller NERVE auf – inzwischen als Mutter. Die Junge Wilde ist erwachsen geworden.

Doch egal wie – sie ist wieder da!
Im Fernsehen, auf der Kinoleinwand und auf den Musikbühnen dieser Welt, denn aktuell tourt sie noch immer weltweit mit ihrer Band, war kürzlich auch in Deutschland zu bestaunen – wovon es glücklicherweise einen Konzertmitschnitt gibt.

Wir freuen uns, sie wieder zu sehen, gesund, produktiv und differenziert, und hoffen, sie möglichst schnell wieder in wirklich guten Rollen bewundern zu dürfen!

Und das noch aus einem ganz anderen Grund: Mittlerweile ist Juliette Lewis frische 43 Jahre alt. Ein spürbares Alter für einen ehemaligen Teeny-Star und eine Schauspielerin, die immer mit ihrer ungewöhnlichen, lolitahaften Schönheit kokettiert hat. Und ein Alter, in welchem Schauspielerinnen für gewöhnlich eher im 40er-Loch verschwinden, als einen Comebackversuch zu starten. Doch wenn wir jemandem den Biss zusprechen, das zu schaffen, dann Juliette Lewis. Wir würden es uns wünschen, denn sie beweist, dass sie noch immer sehens- (und hörens-)wert ist.

Mittlerweile kann ich ganz gut [mit dem Ruhm] umgehen. Damals nahm ich Drogen – als ich noch viel zu jung war. Ich habe den Rausch gebraucht, weil ich mich verstecken wollte. Seit ich 22 bin, habe ich keine Drogen mehr angerührt. Was ich auch noch gelernt habe und wonach ich lebe ist: Um man selbst zu sein, muss man sich selber kennen – um dann ein bisschen wie man selbst sein zu können …
Quelle: Blu Ray Natural Born Killers © Warner Home Video

4 Kommentare:

  1. Schöne Hommage an eine großartige Schauspielerin und ebenso gute Musikerin. Ich würde auch sehr begrüßen sie mal wieder mehr im visuellen, denn im auditiven Medium zu erleben. mal schauen, was da zukünftig so kommt.

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    1. Danke für das Kompliment. Wir hoffen auch sehr, wieder mehr von ihr zu sehen, und es sieht ja vielversprechend nach einem Comeback aus. :)

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  2. Klasse Bericht...ich bin letzt erst wieder auf sie gestossen durch Secrets and Lies...und da hat sie so toll gespielt...ich habe echt Angst vor ihr bekommen...Tolle Frau...

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    1. Ging uns genauso, wenngleich wir der Meinung sind, dass sie in SECRETS AND LIES ihr Potenzial noch nicht ganz ausspielen konnte. Erst in den letzten zwei Folgen zeigten sich etwas mehr Figurenfacetten.
      Aber wir freuen uns auch sehr auf die zweite Staffel, der Trailer ist vielversprechend! :)

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