CITIZEN KANE ist einer jener Filme, über deren Titel jeder
Cineast früher oder später stolpert. Begriffe wie „Meisterwerk“,
„Jahrhundertfilm“ oder sogar „Bester Film aller Zeiten“ sind dabei noch dezente
Beinamen, die man Orson Welles‘ Regiedebüt anhängt.
Dass es den einen besten Film aller Zeiten nicht geben kann,
liegt auf der Hand. Umso mehr stellt sich die Frage, wie CITIZEN KANE diesen
Nimbus erhalten konnte. Was genau macht CITIZEN KANE überhaupt so ungewöhnlich,
so bewundernswert, so unterhaltsam?
Denn, soviel steht fest: Es ist einer der besten je gedrehten Filme!
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Marcos Blick:
Eine alte Binsenweisheit sagt: Wenn du etwas mit Taubenmist
beschmieren willst, dann stell es auf ein Podest, der Rest kommt von ganz allein.
Dasselbe gilt für CITIZEN KANE. Seit über sechzig Jahren
ergehen sich Filmkritiker und Filmfans in dem Konsens, dass CITIZEN KANE ein
künstlerisches Novum sei. Eben „Der Beste Film aller Zeiten.“
Wenn eine solch kategorische Aussage über so viele
Jahrzehnte aus so vielen Mündern wiederholt wird, entwickelt sie zwei Formen
eines Eigenlebens. Die erste ist die, dass man die Aussage als „irgendwie
richtig“ akzeptiert. Deshalb wiederholen Generationen von Cineasten immer
wieder diesen Satz, darunter selbst solche, die CITIZEN KANE gar nicht gesehen
haben.
Die zweite ist, dass viele Menschen sich genötigt fühlen, zu
beweisen, dass die Anbetung dieses Films falsch sei. Und so mehren sich auch
die kritischen Stimmen, die CITIZEN KANE das Prädikat „Unterhaltsam, aber
überbewertet“ verleihen.
Ein gern geäußerter Satz lautet: „CITIZEN KANE der beste
Film aller Zeiten? Gut, der war technisch nett, und seiner Zeit voraus, aber
ich war enttäuscht.“
Hier offenbart sich eines der größten Missverständnisse, die
über CITIZEN KANE kursieren! CITIZEN KANE war oder ist seiner Zeit niemals in
besonderem Maße voraus gewesen. Eher schwelgt der Film in seinerzeit längst
vergessenen Tugenden des Filmemachens und erreicht damit ein ganz anderes
Wunder: CITIZEN KANE ist ein durch und durch zeitloser Film!
Der Dribbelkönig von Hollywood
Der beliebte Filmkritiker Roger Ebert sagte einmal: „Wenn mich jemand fragt, welches der tollste Film aller Zeiten
ist, sage ich immer CITIZEN KANE. Natürlich ist das eine dämliche Frage, denn
man kann Filme nicht auf diese Art vergleichen. Aber für mich ist CITIZEN KANE jedes
mal, wenn ich ihn mir ansehe, so einfallsreich, so frisch und neu, dass ich einfach
niemals müde werde, ihn mir noch einmal anzuschauen.“
Damit packt Roger Ebert, in der ihm eigenen Brillanz, die
Seele von CITIZEN KANE in einen simplen Nebensatz.
Generationen von Filmemmachern und Filmkritikern haben sich
über die technischen Aspekte von CITIZEN KANE ausgelassen, die ihrer Zeit zwar
nicht voraus ist, aber in ihrer Umsetzung makellos. Orson Welles und sein
Kameramann Gregg Toland bieten einen nie versiegenden Strom visueller
Kunstwerke, auf die wir, der Vollständigkeit halber, später noch kurz zu
sprechen kommen werden.
Wirklich modern und seiner Zeit voraus ist die
Erzählstruktur, die Welles und Autor Herman J. Mankiewicz für ihre
Episoden-Biographie entwickeln. Die Narratologie von CITIZEN KANE ist vollkommen neuartig und wurde seither in unzähligen Sekundärwerken
behandelt – auch ihr werden wir uns später noch kurz widmen.
CITIZEN KANEs Genialität jedoch liegt in seiner Verspieltheit!
Die pure Freude am filmischen Erzählen ist es, die noch heute,
mehr als siebzig Jahre nach Erscheinen, immer noch begeistert, die fesselt,
und die den Film so modern wirken lässt.
Um einen populären Vergleich zu bemühen: Jeder weiß, dass
Fußball ein Kinderspiel ist, also buchstäblich ein Spiel für Kinder. Kinder
lieben es, sich zu treffen, den Ball zu kicken, sich neue Tricks, Kniffe,
Konter und Angriffe auszudenken. Das ist die Seele des „Spiels“, das, was den
Spaß am Fußball“spiel“ bringt. Mit Freunden, auf einem Platz, mit nichts als
einem Ball am Fuß, kann ein Tag wie in Sekunden verfliegen, wenn man ihn damit
verbringt, möglichst elegante Tricks auszutauschen. (Dasselbe gilt übrigens für
das heute so populäre Konsolenfußball im heimischen Wohn- und Jugendzimmer.)
Dieser spielerische Aspekt geht aber verloren, wenn es um
den Profifußball geht. Wenn Millionengehälter, Leistungsdruck, Mannschafts-
und Trainerabhängigkeiten dazwischengeraten! Fußball-Profis spielen nicht, sie
arbeiten! Sie spulen ihre im Training auswendig gelernten Abläufe ab. Ihr Ziel
ist nicht das schöne Spiel, sondern das erfolgreiche. Nicht Innovation zählt,
sondern das Ergebnis.
Aus diesem Grund werden die wenigen Profis, die bei dieser
Arbeit noch ihren Spaß und ihre Innovation sichtbar werden lassen, auch zu so
beliebten Superstars.
Ein Tor ist ein Tor, und dennoch kann ein „schönes Tor“, ein
elegantes, ein spielerisches, ein kreativ und meisterhaft versenktes Tor die simple
Befriedigung des Treffers noch um ein Vielfaches steigern. Schöne und
skandalöse Tore werden noch Jahre und Jahrzehnte später diskutiert, gezeigt,
gefeiert.
Nichts anderes bietet CITIZEN KANE! Es ist „nur“ ein Film,
der „nur“ aus Szenen besteht – und doch ist er viel mehr, weil Orson Welles das
Spielerische, das Kreative, das Besondere wieder zurückbringt in einen Beruf,
der einst spielerisch war, und mittlerweile in eine professionelle
Formelhaftigkeit verfallen ist.
Zu Beginn der Filmgeschichte, „als die Bilder Laufen
lernten“, wie es so schön heißt, ging es um den Spaß an der Sache. Filme waren
selten länger als fünf oder sechs Minuten. Es ging nicht darum, packende Dramen
zu erzählen, tiefe Charaktere zu formen, oder Stars aufzufahren.
Die Zuschauer erfreuten sich an den kreativen Lösungen,
welche die Filmemacher sich ausdachten, um ein filmisches Problem zu lösen.
Wie vermittelte George Méliès in seinem Klassiker DIE REISE
ZUM MOND die Wucht und das gewaltsame Eindringen der Reisenden in die Mondwelt?
Mit dem noch heute berühmten Bild der „Raketenpatrone“ im Auge des
„Mondmannes“!
Wie gelang es Murnau, seinen Grafen Nosferatu mysteriös und übersinnlich zu gestalten, als er mit der Kutsche durch den Wald reist? Er behängte die (sonst schwarze) Kutsche mit weißen Tüchern und invertierte das Bild – wodurch eine schwarze Kutsche durch einen gespenstisch weißen Wald raste.
Film kannte keine Regeln! Die Filmemacher wollten ihren Zuschauern eine Information oder ein Gefühl vermitteln, und suchten den individuellsten und kreativsten Weg, um das zu erreichen. Das war das Spiel, das war der Spaß.
Wie gelang es Murnau, seinen Grafen Nosferatu mysteriös und übersinnlich zu gestalten, als er mit der Kutsche durch den Wald reist? Er behängte die (sonst schwarze) Kutsche mit weißen Tüchern und invertierte das Bild – wodurch eine schwarze Kutsche durch einen gespenstisch weißen Wald raste.
Film kannte keine Regeln! Die Filmemacher wollten ihren Zuschauern eine Information oder ein Gefühl vermitteln, und suchten den individuellsten und kreativsten Weg, um das zu erreichen. Das war das Spiel, das war der Spaß.
1941 ist davon nichts mehr übrig. Hollywood hat aus dem
Spiel eine Industrie gemacht. Es geht nicht mehr um den Spaß am Spiel, sondern um
die Berechenbarkeit von Millionenumsätzen an den Kinokassen. Man will Stars und
Images und Eitelkeiten verkaufen, keine kreativen Lösungen, denn die sind nicht
vermarktbar. Hollywood ist zur langweiligen Formelfabrik verkommen.
Ein gutes Beispiel für diese Langweiligkeit bietet der nur
ein Jahr nach CITIZEN KANE erschienene Klassiker CASABLANCA – ein Film, dessen
Klassikerstatus gänzlich andere Gründe hat als CITIZEN KANE.
Womit glänzt CASABLANCA? Einem überraschenden Drehbuch? Eher nicht, es gibt weder Enthüllungen noch spannende Wendungen. Mit tiefen Charakteren? Ebenfalls nicht, keine Figur entwickelt sich, keine Figur weist mehr als ein oder zwei Charaktereigenschaften auf. Bietet CASABLANCA komplexe Konflikte? Fehlanzeige – eine Frau zwischen zwei Männern ist weder besonders originell, noch besonders spannend.
Schau mir in die Formel, Kleines!
Womit glänzt CASABLANCA? Einem überraschenden Drehbuch? Eher nicht, es gibt weder Enthüllungen noch spannende Wendungen. Mit tiefen Charakteren? Ebenfalls nicht, keine Figur entwickelt sich, keine Figur weist mehr als ein oder zwei Charaktereigenschaften auf. Bietet CASABLANCA komplexe Konflikte? Fehlanzeige – eine Frau zwischen zwei Männern ist weder besonders originell, noch besonders spannend.
CASALANCA ist im Kern ein durchkalkulierter, langweiliger
Schmachtfetzen, der weder überrascht noch fesselt, und auf dem Niveau eines
Groschenhefts rangiert. Trotzdem ist er ein Klassiker. Wieso? Wieso schwärmt
die Filmwelt bis heute von dem Streifen?
Aus zwei Gründen: Bogart! Und Bergman!
CASABLANCA ist ein typisches Kind seiner Zeit. Es geht nicht
um den Film! Zu keiner Zeit sind Handlung, Figuren oder Konflikte wirklich
bedeutsam. Es geht um die Stars! Humphrey Bogart und Ingrid Bergman sind 1942 Ikonen. Über Jahre von den Studios aufgebaut, verkörpern sie eine Lebensart und ein Lebensgefühl, das
vermarktet wird. Es ist ihr Charisma, das die Leute in die Kinos lockt und im
Sitz hält – der Film drum herum ist nur ein Goodie.
Auch hat sich 1941 längst eine feste Grammatik der
Filmsprache entwickelt. Nirgendwo ist das deutlicher als in den auflodernden
Western, wo Held, Schurke und die „Damsel in Distress“ auf den ersten Blick am
Outfit zu erkennen sind! Kamerawinkel, Bildausschnitt, Schnittempo - für jede Emotion, für jeden dramatischen Kniff gibt es eine niedergeschriebene Regel, alles ist in jedem Film gleich, alles ist längst zur Konvention geworden. Für die Zuschauer ist das bequem, für die Filmemacher umso mehr.
Orson Welles schert sich nicht um irgendwelche Regeln und
Formeln, oder um Einspielergebnisse! Schon am Theater, schon beim Radio ist der
Regisseur an „Wirkung“ interessiert, nicht an „Ergebnissen“! Welles will sein
Publikum unterhalten, will zeigen, was er kann, und sucht nach kreativen,
sinnvollen Wegen, seinem Publikum möglichst verspielt etwas mitzuteilen.
Welles will kein Tor schießen, er will mit dem Ball zaubern,
und das Publikum mit der Show fesseln!
Und so fällt CITIZEN KANE bereits 1941 auf wie ein bunter
Hund! (Ein gern zitierter Mythos weckt fälschlicherweise das Gefühl, die
Zuschauer hätten erst später erkannt, wie ungewöhnlich gut CITIZEN KANE ist.
Das stimmt nicht – die Zuschauer, die der Film 1941 hat, sind begeistert – es
sind aufgrund der von Zeitungsmogul Hearst angeleierten Schmutzkampagne gegen Welles und den Film nur
nicht besonders viele Zuschauer!)
Orson Welles zaubert in seinem Film ohne Unterlass – CITIZEN
KANE bietet keine einzige Szene, keine einzige Einstellung, die irgendwie, in
irgendeiner Art und Weise, erwartbar ist. Welles bricht keine Regeln oder Formeln, er ignoriert sie schlicht! Er will keine Formelhaftigkeiten, sondern
für jedes Gefühl, jede Information im Film sucht er seinen eigenen, möglichst
kreativen, möglichst unterhaltsamen Weg.
Das geraffte Drama
Ein konkretes Beispiel: Das Problem der gerafften Zeit. 1941 hat sich in Hollywood längst ein
Standard dafür etabliert, wie man das Vergehen von Zeit darstellt: Die
halbdurchlässige Darstellung einer Uhr oder eines Kalenders, die Zeiger drehen
sich schnell vor, oder Kalenderblätter werden abgerissen und wehen davon. Der Zuschauer weiß
nun, das Zeit verstreicht.
CITIZEN KANE bietet diverse Zeitsprünge, und jeder einzelne davon
ist individuell und äußerst kreativ gelöst.
So etwa die Montage, die Kanes Jugend im Schnelldurchlauf
abspult:
Die Szene, in der Kane aus seiner Familie und seinem Spiel
mit dem Schlitten herausgerissen wird, um in der Obhut des Bankiers Thatcher zu
landen, endet mit einer Aufnahme des Schlittens, der unter Schnee begraben wird. Es
kommt ein Sprung zur nächsten Szene, in welcher der noch junge Kane vor den
Augen einiger reicher Männer das Geschenkpapier von einem neuen Schlitten
reißt. Er sieht auf zu dem nun für ihn verantwortlichen Mr. Thatcher, der ihm „Frohe
Weihnachten“ wünscht.
Es gibt einen Schnitt – Thatcher sieht älter aus, und
erweitert die Floskel um „und ein frohes neues Jahr.“ Diesmal zeigt sich
allerdings, dass er einen Brief diktiert, an einen Kane, der längst nicht mehr
bei ihm lebt und bald seinen 25. Geburtstag feiert, der ihn von Thatchers
Vormundschaft befreit.
In nur drei Szenen überspringt Welles also nicht nur elegant
gut 14 Jahre und Kanes Jugend, sondern vermittelt auch ein Gefühl dafür, wie
Kane aufgewachsen ist.
Das wird umso bedeutender, wenn man bedenkt, dass es jener
eingeschneite Schlitten ist, der Kanes verlorene Kindheit symbolisiert, und die
Figur bis ans Ende ihres Lebens verfolgt – nichts davon wäre durch ein paar
davonwehende Kalenderblätter erreicht worden.
Besonders berühmt ist der Verlauf von Kanes erster Ehe,
einer meisterhaften Szene, die noch immer begeistert und mittlerweile öfter zitiert wird: Zu Beginn sitzen Kane und
seine erste Frau Emily liebevoll dicht beieinander am Frühstückstisch und
unterhalten sich fröhlich und neckisch über Kanes viele Arbeit. Die Kamera
fährt heran und zeigt einen in seiner Bildsprache klassischen Dialog mit Schuss und Gegenschuss. Zwischen
den Schnitten des Dialogs verraten lediglich die wechselnden Kostüme und
das sich verändernde Aussehen der beiden Figuren (okay, und ein kleines "Wusch"-Insert), dass auch Zeit vergeht.
Das Gespräch
behandelt die klassischen Themen einer Ehe – Beruf, Kinder, Familie. Was
sich mit jedem Schnitt ändert, ist Kanes Reaktion auf die Wünsche seiner Frau –
ist er zunächst noch verständnisvoll und stellt seinen Terminplan um, lehnt er später humorvoll ab, wird aber bald rigoros im Beharren auf seinen eigenen Vorstellungen,
bis er seine Frau offen unterbricht, und keine Widerrede zulässt.
Am Ende sitzen beide schweigend und sich beäugend am
Esstisch – Gespräche haben keinen Sinn mehr. Jetzt erst fährt die Kamera
wieder zurück in ihre Ursprungsposition.
Erneut etabliert Welles in einer einzigen Szene, einem
simplen, recht kurzen Dialog, nicht nur einen enormen Zeitsprung, sondern er zeigt auch auf,
wie eine Ehe zerbricht, und wie Kanes Charakter sich verändert – aus dem
spritzigen, freundlichen jungen Mann, der helfen und Gutes tun will, wird ein
alternder Despot, der keine Widerrede duldet und seinen Willen durchsetzt – um
jeden Preis.
Beides sind sensationelle Formen des stark gerafften
Erzählens – man erkennt, wieviel Zeit vergeht, man erkennt aber auch, wie die
Figuren ihre Beziehung zueinander ändern, und wie sie selbst sich verändern.
Natürlich gibt Welles hier mit seinem Können an, und gestaltet Kunst, die weit
über simples Erzählen hinausgeht. Nur ist Welles dabei eben auch unterhaltsam.
Er fordert seine Zuschauer, ohne sie zu überfordern. Man erkennt als Zuschauer
deutlich, dass man hier etwas Ungewöhnliches sieht, ein komplexes filmisches
Spiel. Welles schafft einen erzählerischen Mehrwert, indem er seine
Informationen maximal unterhaltsam und individuell (und immer wieder auch äußerst humorvoll, wie die elegante Kamerafahrt auf der Opernpremiere beweist) in den Film einbaut.
Kreativität ohne Verfallsdatum
Diese Vielschichtigkeit, diese Form, ein einzelnes Bild,
eine einzelne Szene, eine einzelne Sequenz mit verschiedenen, Ebenen der
Erzählung aufzuladen, das ist die Kunst, die CITIZEN KANE auszeichnet. Die ihn
bis heute zeitlos bleiben lässt, die Kritiker begeistert, das Publikum fesselt,
und Legenden wie Roger Ebert trotz Tausender gesehener Filme immer wieder neu
und erfrischend unterhält. CITIZEN KANE ist ein Brasilianer auf dem
Fußballplatz, eine bunte Wundertüte der Kreativität, ein Meisterwerk der
filmischen Erzählkunst.
Natürlich ist Orson Welles nicht der einzige, der mit seiner
Kunstart spielt, und sie trickreich erweitert. Besonders Alfred Hitchcock verbrachte
seine ganze Karriere damit, die kreativsten und wundervollsten filmischen
Auflösungen für Figuren- und Handlungsentwicklungen zu entwickeln. Und doch
überragt die in einem einzigen Film geballte Wucht des CITIZEN KANE jedes Einzelwerk des
großen Hitchcock, der darüber hinaus – anders als Welles, der genau wusste,
welche Wirkung er erzielte – häufig einfach experimentierte, auch auf die
Gefahr hin, zu scheitern.
Nur wenige Filme haben bei Erscheinen derart die
herrschenden Regeln ignoriert und ihre eigene Filmgrammatik aufgestellt (THE
MATRIX ist eines der erfolgreichsten Beispiele), und noch weniger haben es gut
getan. Aber kein anderer Film hat jemals derart elegant und verspielt
unterhalten wie CITIZEN KANE. Bis heute nicht!
Dass der Film trotz seines Alters noch immer so frisch und modern wirkt, liegt vor allem daran, dass er eben auch einzigartig ist! Da er
wenig Erfolg hat, und schnell im Giftschrank des Produktionsstudios landet, wird
die Formelhaftigkeit Hollywoods nicht mal angerührt! Auch heute sind die meisten
Filmen fest in der Hand einer unveränderlichen Grammatik. Wir wissen schnell,
wer der Böse, wer der Gute ist, dass Zeit vergeht, dass ein Konflikt aufbricht.
Für all das haben sich Regeln etabliert, Sehgewohnheiten, die bis heute
fortbestehen. Es sind andere Regeln und Gewohnheiten als 1941, in der Regel einfach subtilere
(weswegen uns alte Filme auch so alt erscheinen).
Doch noch immer sind Welles‘ Lösungen für CITIZEN KANE
derart innovativ, neu und frisch, dass sie selbst gegen heutige
Sehgewohnheiten clever, smart und unterhaltsam wirken. Und das macht den Film
zum unvergänglichen Klassiker: Dass Welles‘ Kreativbombe noch heute, nach
weiteren siebzig Jahren Formelhaftigkeit, spannende und gute Alternativen zu
diesen Formeln und Gewohnheiten findet!
Scharfe Tiefen, tiefe Symbole
Natürlich ist Kreativität allein nicht alles. Welles erweist
sich darüber hinaus, selbst in seinem Debüt, als herausragender Handwerker!
CITIZEN KANE ist ein hochartifizieller Film, vollgeladen mit
Symbolen und ungewöhnlichen, technisch geschickten "Gemälden"! In CITIZEN KANE
ist, ähnlich wie später bei Stanley Kubrick, kein einziges Bildelement zufällig gewählt oder aufgebaut. Alles verfolgt eine feste Absicht.
Beispiele gefällig? Gerne.
So arbeitet Welles in CITIZEN KANE fast ausschließlich mit
Tiefenschärfe. Das bedeutet, dass das gesamte Bild bis in die Tiefe hinein
scharf im Fokus ist. Das wird in gängigen Filmen kaum gemacht, aus zwei
Gründen: 1.) einem technischen: Tiefenschärfe erfordert eine nur gering geöffnete
Blende in der Kamera. Das aber erfordert enorme Lichtmengen, um etwas erkennen
zu können. Die Sets von CITIZEN KANE müssen also extrem hell ausgeleuchtet
gewesen sein.
Der zweite Grund ist der, dass die Schärfe dem Regisseur in
der Regel als „Augenführer“ dient. Das Auge des Zuschauers konzentriert sich
automatisch auf den Punkt des Bildes, an dem sich die Schärfe bündelt. So lenkt
der Regisseur das Auge des Zuschauers dorthin, wo er es haben will.
Dreht man mit Tiefenschärfe, muss man andere, komplexere
Wege finden, das zu erreichen.
Auf der einen Seite ermöglicht die Tiefenschärfe es dem
Zuschauer, im Bild zu verweilen. Sein Blick kann „frei herumwandern“.
Das ist einer der Gründe, weshalb CITIZEN KANE so befriedigend ist, und bei
jedem Anschauen etwas Neues bietet.
Zum anderen braucht er Anhaltspunkte, da ein Bild nicht
überladen sein darf. Man hat festgestellt, dass das menschliche Auge nicht mehr
als drei Punkte oder Ebenen in einem Bild aufnehmen kann – und so konzipiert
Welles seine Bilder in CITIZEN KANE auch stets mit drei Punkten, in drei Ebenen.
Diese Bilder, die er teilweise nur mit Tricktechnik
realisieren kann, füllt er anschließend auch noch mit Symbolik. Ein gutes Beispiel ist dieses hier:
Neuland aus der Tastatur
Man kann mit gutem Gewissen sagen, dass Welles und Autor Herman
J. Mankiewicz mit dem Drehbuch zu CITIZEN KANE Neuland betreten haben. Anders
als gängige Filme, die chronologisch, und schon 1941 oft in einer
3-Akt-Struktur aufgebaut sind, präsentiert sich CITIZEN KANE als Puzzle, das -
scheinbar - vollkommen unchronologisch erzählt wird.
Damit das funktioniert, bedienen sich die beiden allerdings
eines kleinen Tricks, der, wie so viele Taschenspielertricks, sehr simpel ist,
und kaum auffällt. Denn zunächst erzählen sie den Film in Kurzform und klassisch
chronologisch:
Eine der ersten Szenen, direkt nach dem Tode Kanes, ist ein
chronologischer Rückblick auf sein Leben, in der Form einer der um 1941
populären Wochenschauen inszeniert. Der Zuschauer erhält einen Überblick über
das gesamte Leben des Charles Foster Kane – seinen Reichtum, seine Wirkung als
Zeitungsmagnat, seine zwei Ehen, das tragische Ende seiner ersten Frau, und
auch einige persönliche Verwicklungen. Wir kennen die Geschichte des Films also
bereits, bevor sie vor uns ausgebreitet wird.
Der Film verschleiert diesen Trick gut, indem er die
Wochenschau als Aufhänger für den Reporter Jerry Thompson darstellt, sich auf
die Suche nach dem „Menschen“ Charles Foster Kane zu machen. Etwas
herauszufinden, das hier nicht erwähnt wurde. Die Bedeutung des Wortes
„Rosebud“ dient lediglich als MacGuffin, um den Reporter auf eine
Schnitzeljagd zu schicken, die filmisch noch einmal alles ausführt, was die
Wochenschau bereits erzählt hat.
Und selbst im Anschluss bleibt der Film grundsätzlich chronologisch, oder in jedem Fall bleiben die Elemente sinnvoll erzählt: Zunächst erkundet der Reporter Kanes Kindheit, was direkt weiterführt zu seiner
finanziellen Entwicklung, Kanes Auflehnung gegen seinen Vormund, den Bankier
Thatcher, dem er am Ende doch nicht entkommen kann.
Anschließend wird, mit dem Wissen um Kanes Zeitungsimperium,
sein Weg ins Zeitungswesen dargestellt, der erst endet, als er seine erste
Frau kennenlernt.
Es folgt der Abschnitt, der Kanes erste Ehe schildert – bis
er die Sängerin Susan Alexander trifft.
Nun ist der Weg geebnet, zu erklären, wie Susan Alexander
Kanes politischen Erfolg verhindert, und seine erste Ehe beendet. Es folgt der
Abschnitt, der Kanes zweite Ehe schildert. Enttäuscht von seinen politischen
Misserfolgen, seiner verlorenen Zeitungsmacht, verbirgt Kane sich in seinem
Schloss, wo seine zweite Ehe fast vollständig stattfindet.
Sein einziges Projekt in dieser Zeit ist der vergebliche
Versuch, Susan zu einem Opernstar aufzubauen, was den nächsten Part erläutert,
der auch das Ende seiner Freundschaft zu Jed Leland mit sich bringt.
Der Film endet mit Kanes zweiter Scheidung, und seinem
einsamen Tod auf Xanadu.
Man erkennt also eine klar chronologische Struktur,
die allerdings immer wieder ein wenig geöffnet wird, indem bestimmte Elemente
vorweggenommen, oder einem anderen Thema zugeordnet werden (Etwa, dass wir die
Details über Kanes Einstieg in die Zeitungswelt erst erfahren, als wir dem
Zusammenbruch seines Imperiums bereits beigewohnt haben.)
Kaufen, verkaufen, kaufen, verkaufen!
Dennoch ist CITIZEN KANES Struktur seinerzeit, und selbst
heute noch, äußerst ungewöhnlich. Weniger ungewöhnlich ist, dass die Struktur
sich trotz allem der klassischen Dramatik folgt: Wir folgen im Film
dem schleichenden Verfall eines Menschen.
Zu Beginn ist Kane ein sympatischer Idealist, der sein Leben lang die Liebe seiner Eltern zu ersetzen versucht, und dadurch alles verliert, was er nicht kaufen kann. Das wird umso tragischer, weil Kane – und hier trennt sich
die Figur deutlich von ihrer Vorlage William Randolph Hearst – so eine
gebrochene Figur ist. Auf der einen Seite sucht sie stets nach Liebe und
Anerkennung, auf der anderen ist Kane ein egomanischer Despot. Ein derart
widersprüchlicher Charakter muss im Leben scheitern!
Einen weiteren packenden Aspekt stellt Jeffrey Knapp in
seinem Essay „Throw that Junk“ heraus, wenn er feststellt, dass Kane auf der
einen Seite jemand ist, dem es ums Verkaufen geht. Er will möglichst
viele Zeitungen verkaufen. Dazu braucht er schnelle, „hingerotzte“ Nachrichten,
denn je flüchtiger das Produkt, desto höher die Verkäufe. Ein Produkt, das
millionenfach gleich ist, gleichgeschaltet, und von allen in gleicher Art
konsumiert.
Auf der anderen Seite ist er ein Sammler, der alles hortet, was die weltweite Kunstwelt zu bieten hat. Er setzt seinen aus Massenprodukten gewonnenen Reichtum in Einzelstücke um, in schwierig zu produzierende, nur einmal vorhandene, kaum zu genießende Werkstücke. Der manische Verkäufer ist manischer Käufer.
Auf der anderen Seite ist er ein Sammler, der alles hortet, was die weltweite Kunstwelt zu bieten hat. Er setzt seinen aus Massenprodukten gewonnenen Reichtum in Einzelstücke um, in schwierig zu produzierende, nur einmal vorhandene, kaum zu genießende Werkstücke. Der manische Verkäufer ist manischer Käufer.
Knapp unterstellt Welles hier, glaubwürdigerweise, eine
kritische Aussage, wenn er feststellt, dass die „teure“, individuelle Kunst im
Film kaum gewürdigt wird – sie steht ungeordnet, ungezählt und ungeliebt
einfach nur herum. Es sind zwei billige, aus der Massenproduktion stammende
Schrottteile, eine Schneekugel und ein Schlitten, die von der Kamera liebkost
werden, und mit eleganten, künstlerischen Bildern versehen.
CITIZEN KANE bietet eine Fülle von Möglichkeiten zur
Interpretation. Er ist voller gebrochener, gespaltener, in sich
widersprüchlicher Figuren, und Welles nutzt eine Menge von Tricks und Bildern,
um das zu untermauern. Bilder, die man herrlich interpretieren kann – was auch seit
sechzig Jahren auf breiter Front getan wird!
Hereinspaziert, Zutritt verboten!
Herausheben möchte ich allerdings noch, dass CITIZEN KANE
über die möglicherweise beste Introsequenz der Filmgeschichte verfügt!
Der Zuschauer weiß es nicht – aber lange bevor er Kane das
erste Mal auch nur zu Gesicht bekommt, weiß er bereits alles über diesen Mann –
und über den Film, der ihn erwartet!
CITIZEN KANE eröffnet beinahe wie ein Horrorfilm, ein
Thriller, oder eine Detektivgeschichte. (Als die er sich ja auch ein wenig
verkleidet.) Düstere Musik spielt, langsam blendet das Bild ein und zeigt ein Schild,
auf dem steht „Zutritt verboten“ (obwohl das englische „No Trespassing“ hier
deutlich vielschichtiger ist). Es folgt eine Reihe von Überblendungen immer
dicker werdender Zäune, bis man in der Ferne ein mächtiges Schloss, beinahe
eine Festung, in den dunklen Himmel ragen sieht. Eine im Dunkeln liegende
Festung, in der nur ein einziges Fenster erleuchtet ist.
Es folgt eine Reihe von Bildern, die uns immer näher ans
Schloss heranführen – es sind Bilder von Verfall und Verwüstung, aber auch
Bilder, die anzeigen, wie gigantisch das Anwesen ist, wie dekadent: ein
verwaister Zoo, ein Käfig, in dem einst ein „Bengalischer Tiger“ hauste.
Ein morscher Steg, an dem venezianische Gondeln liegen. Doch
die Gondeln sind längst gesunken, leckgeschlagen und ragen nur noch teilweise
aus der Wasseroberfläche, in der sich gespenstisch das Schloss spiegelt.
Eine alte, vielleicht „siamesische“ Zugbrücke, deren eine
Hälfte hochgefahren ist, die alt wirkt, rostig und zerfallen.
Loch 16 eines Golfplatzes. Doch die Fahnen stehen schief im
Rasen, sie sind zerfleddert, die Holzkiste, die den Startpunkt markiert ist
morsche und voller loser Bretter.
Der ganze Ort wirkt wie die Ruine eines einst
ausschweifenden Lebens, die sie ist. Wer immer hier lebt, er ist am Ende,
gebrochen, nur noch ein Schatten eines einst wohlhabenden, glücklichen Mannes.
Gleichzeitig fühlt der Zuschauer sich unbehaglich. Nicht nur
durch das „Zutritt verboten“-Schild und die dicken, hohen Zäune am Anfang hat
er das Gefühl, irgendwo einzudringen, nicht erwünscht zu sein. Er hat auch das
Gefühl, in die Privatssphäre eines Mannes einzudringen, über den er nichts wird
erfahren können.
Und dieser Aussage bleibt Welles auf die bestmögliche Art und Weise treu – denn er beendet den Film, wie er ihn begonnen hat. Am Ende, nachdem die Schätze aus Kanes Kindheit mit einem simplen „Throw that Junk“ ins Feuer geworfen werden, sieht man Rauch aus dem Schloss steigen. Kanes einst machtvolles Leben ist nur noch Rauch am Abendhimmel.
Makelloser Schrott
Und dieser Aussage bleibt Welles auf die bestmögliche Art und Weise treu – denn er beendet den Film, wie er ihn begonnen hat. Am Ende, nachdem die Schätze aus Kanes Kindheit mit einem simplen „Throw that Junk“ ins Feuer geworfen werden, sieht man Rauch aus dem Schloss steigen. Kanes einst machtvolles Leben ist nur noch Rauch am Abendhimmel.
Anschließend senkt sich die Kamera herab und endet, wo sie
begonnen hat: Auf dem Schild „Zutritt verboten“. Und obwohl wir Zuschauer am
Ende mehr wissen als der Reporter, obwohl wir als einzige die Bedeutung des
ominösen Wortes „Rosebud“ erfahren – wissen wir nichts Wirkliches über Kane.
Das erste Bild von CITIZEN KANE ermahnt seine Zuschauer, dass sie keinen
Zutritt zu Kanes Leben erhalten werden, und das letzte Bild erinnert sie daran,
dass es wirklich keinen Zutritt zu Kanes Leben gibt.
Die große Kunst des CITIZEN KANE liegt darin, uns mit einem Menschen
mitleiden zu lassen, den wir nie wirklich kennenlernen. Der allein in einer
Wochenschau und den Erzählungen von Weggefährten erhalten bleibt, dessen wahres
Wesen aber mit ihm gemeinsam stirbt.
Hinter all seinen filmischen Kunststückchen und
Trickeinlagen präsentiert Orson Welles also ein zutiefst tragisches Epos über
einen großen Menschen, der an seinem eigenen Wesen scheitert.
Es ist dieses Gesamtpaket, diese fast völlige
Makellosigkeit, Größe und Kunstfertigkeit, die CITIZEN KANE – wenn es schon
keinen besten Film aller Zeiten gibt – zu einem der sehenswertesten Kunstwerke
der Filmgeschichte macht. Zu einem der erstaunlichsten Filme aller Zeiten.
Zum Abschluss unseres großen Orson Welles Blocks widmen wir uns in wenigen Tagen dem gefallenen Star selbst in unserem Porträt: Orson Welles - Der Mann, der vier Jahre König war.
Zum Abschluss unseres großen Orson Welles Blocks widmen wir uns in wenigen Tagen dem gefallenen Star selbst in unserem Porträt: Orson Welles - Der Mann, der vier Jahre König war.
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