07.11.14

Boyhood (USA 2014) - Das lange Trauma Jugend

Richard Linklaters Langzeitwerk BOYHOOD sorgt 2014 für offenstehende Münder und jede Menge Applaus. Einige bescheinigen ihm, der vielleicht beste Independentfilm aller Zeiten zu sein. In jedem Falle ist er einer der ungewöhnlichsten und äußerst sehenswert. Für die Beteiligten ist die dreizehnjährige Arbeit an dem Film deutlich angenehmer, als das Werk anschließend zu sehen. Und es bleibt die Erkenntnis, dass BOYHOOD zwar eine exzellente Zeitreise ist, aber kein Coming of Age Film zumindest kein guter.
© 2014 Universal Pictures Home Entertainment

Biancas Blick:
Ab sofort auf Blu Ray und DVD

Man kann das Risiko, das Richard Linklater mit seinem Filmexperiment BOYHOOD eingegangen ist, gar nicht hoch genug würdigen.

Natürlich gab es schon vorher ähnliche Langzeitprojekte. Etwa die Reportage DIE KINDER VON GOLZOW von Barbara und Winfried Junge, die Kinder des Ortes im ehemaligen Osten Deutschlands begleiteten – vom Jahr des Mauerbaus 1961 bis 2007, ungescriptet und undramatisiert. Eine Langzeitstudie.
Oder Michael Apteds UP-Reihe, eine Dokumentarfilmreihe, bei der Apted 14 Personen seit 1964 alle sieben Jahre aufsucht und begleitet. Der letzte Teil lief 2012. Oder Francois Truffauts Figur Antoine Denoil, den er über vier Spielfilme begleitet (u.a.1959 in SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN), allerdings ist die Handlung hier dramatisiert.
Es gab also entweder reine Langzeit-Dokus oder Spielfilmreihen, die lange Zeitabschnitte abdeckten. Aber kein Projekt, das beides zu vermischen versuchte.


Achtung! Mit Stolpersteinen muss gerechnet werden!


Etwa 1999 entwickelt Linklater die vage Idee, einen dokumentationsähnlichen Spielfilm zu inszenieren, in der ein Junge die Schulzeit durchlebt. Ein Crossover von Fiktion und Dokumentation. (Einige Jahre später sollen ihm die sogenannten Mockumentarys zuvorkommen, die allerdings meist einen humorvollen Hintergrund haben.)
Zu dieser Zeit dreht Linklater den ersten Teil seiner BEFORE-Trilogie, für die er ähnliche Ambitionen hegt und die er als Vorläufer von BOYHOOD ansieht - ihn interessieren die Langzeitwirkungen von Beziehungen, die im Film meist nach zwei Stunden "fertig" sind.
Im Laufe von mittlerweile 18 Jahren folgt er in dieser Trilogie den drei Schlüsselmomenten eines jungen Paares, einer Französin (Julie Delpy) und eines Amerikaners (Ethan Hawke), die jeweils eine Nacht und einen Tag miteinander verbringen, reden, philosophieren, sich einander annähern, getrennte Wege gehen, um dann doch in einer Beziehung landen, die schließlich altert.

Linklaters bisher 25 Jahre umspannende Karriere zeugt von dem enormen Drang, Neues zu versuchen und Genres zu vermischen. Er „erfindet“ die Alltagsunterhaltung im Film, dreht Komödien, Dramen, Science Fiction, gibt seinen Realfilmen WAKING LIFE und A SCANNER DARKLY per Rotoscope-Technik einen Zeichentricklook, und wendet sich nun einem auf ganzer Breite der Zeitebene ausgebreiteten Filmexperiment, das viele seiner bevorzugten Filmelemente vereint.
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Mit Ethan Hawke verbindet Linklater nicht nur eine berufliche Zusammenarbeit, acht von seinen bisher 18 Filmen dreht Linklater mit Hawke, sondern auch eine tiefe Freundschaft.
Hawke erfährt als erster von LInklaters Idee, dieses einzigartige Langzeitprojekt zu inszenieren. Hawke ist sofort Feuer und Flamme und sagt seine Mitwirkung zu. Hawke ist nach seinem Durchbruch als Todd Anderson im 1989er Schuldrama DER CLUB DER TOTEN DICHTER inzwischen in der A-Liga des Independentfilms angekommen und etabliert.
Mit Patricia Arquette bekommt das Projekt eine zweite solide Säule und die Drehbuchentwicklung beginnt.
Linklaters Tochter Lorelei, damals sieben Jahre alt, will ebenfalls unbedingt mitmachen und erhält somit die Rolle der Sam, Masons älterer Schwester.
Als Hauptfigur Mason castet Linklater schließlich den jungen Ellar Coltrane, dessen Kindheit und Jugend wir durch seine Augen erleben.

Linklater sagt später in einer Pressekonferenz, das größte Risiko sei gewesen, einen Sechsjährigen für ein Langzeitprojekt zu casten. Ihm standen keine Möglichkeiten zur Verfügung, den Jungen zu binden. 13-Jahresverträge gäbe es nunmal nicht. Er musste also darauf vertrauen, dass Ellar bis zum Schluss im Projekt bleiben wolle.
Auch war nicht abzusehen, in welche Richtung Ellar sich möglicherweise entwickeln würde. „Wäre er als Teenager 250 Pfund schwer, wäre das wahrscheinlich eine komplett andere Geschichte geworden“, witzelt Linklater.

In den Drehpausen verbringen Linklater und Coltrane viel Zeit miteinander. Sie wohnen in dergleichen Stadt, gehen oft ins Kino. Coltrane wird zu Hause unterrichtet, hat also einen komplett anderen Background als Mason im Film, was den Dreh zunächst erschwert. So lehnten sich beide Kinder beispielsweise gegen ihre Filmkleidung auf, mit der Begründung, privat würden sie so was nie tragen.
Coltrane wächst jedoch im Laufe der Jahre immer besser in seine Rolle hinein, ebenso Lorelei Linklater.

Besser gut improvisiert als schlecht gespielt


Gedreht wird alle neun bis achtzehn Monate für vier oder fünf Tage. Linklater entwickelt das Drehbuch jährlich weiter und fügt die fertigen Szenen sofort ans bereits vorhandene Material an, damit der Fluss erhalten bleibt.
Linklater selbst sagt zur Drehbuchentwicklung, er habe nie zuvor einen Film realisiert, bei dem sich das Drehbuch so eigenständig entwickelt habe wie bei BOYHOOD. Es habe seine eigene Geschichte gefunden und erzählt, besonders, wenn die Drehtage nahten. Insgesamt verfasst Linklater 12(!) Drehbücher. Das gibt ihm die Möglichkeit, felxibel zu bleiben. Er kennt zwar grob die Handlung, aber jeder Dreh verändert die Umstände ein wenig. Vor allem fließen die Charaktere der Schauspieler immer wieder ein, mit denen Linklater sich vor dem Dreh bespricht. Der Film entwickelt sich immer selbständiger.
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Ethan Hawke und Patricia Arquette wirken bei der Drehbuchentwicklung und der Entstehung ihrer Dialoge entscheidend mit. Wie immer in Linklaters Filmen entwickeln sich die Dialoge in der Improvisation. Dadurch entstehen natürliche und der jeweiligen Situation angepasste Dialoge, die den Dokumentarfilm-Charakter unterstreichen.

Auch Ellar Coltrane und Lorelei Linklater, welche die Drehs als jährliches Treffen mit Freunden bezeichnet, entwickeln ihre Texte selber, je älter sie werden, allerdings weniger pointiert und zielgerichtet.

Patricia Arquette und Ethan Hawke als Masons Eltern füllen ihre kurzen Auftritte mit Spielfreude und glaubwürdigen Handlungsimpulsen. Sie sind durch ihre Aktionen diejenigen, die, drehbuchgebunden, die Handlung vorantreiben. Sie verändern sich von Revoluzzern und von der Liebe enttäuschten und nach Anerkennung suchenden Endzwanzigern zu gereiften und gesetzten Mittvierzigern.

Etliche Zuschauer und Kritiker bekunden nach der Sichtung des Filmes, dass sie den Film für eine Dokumentation gehalten hätten, wenn Arquette und Hawke nicht so bekannt gewesen wären.

Altern mal ganz natürlich


Auch für die Beteiligten ist der Film bei Erscheinen keine leichte Kost. Linklater hat die fertigen Szenen seit Beginn zurückgehalten. Erst jetzt sehen die Darsteller das Ergebnis.
Patricia Arquette sagt, nachdem sie den Film gesehen hat, es sei außergewöhnlich und nicht immer leicht gewesen, sich selbst innerhalb so kurzer Zeit völlig natürlich auf der Leinwand altern zu sehen, ohne Make Up oder Spezialeffekte. Dennoch bewundert sie das Projekt und ist froh, teilgenommen zu haben.
Immer wieder bekunden alle Beteiligten, wie lebensbegleitend der Dreh war. Arquette wird während der Drehzeit Mutter und geschieden, ebenso Ethan Hawke. Alle verlieren Familienmitglieder und erfahren andere fundamentale Umwälzungen im Leben. Damit wird BOYHOOD auch real zu einem Zeitdokument, bei dem die Darsteller die Drehzeit und einzelnen Episoden mit realen Geschehnissen verbinden.

Auch die „Kinder“ Lorelei Linklater und Ellar Coltrane dürfen den Film erst nach Beendigung sehen. Lorelei sagt, dass es schwer gewesen sei, ihre ganze Jugend und Entwicklung innerhalb so kurzer Zeit wieder aufleben zu sehen, und dass sie geweint habe.
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Das Gefühl des Erwachsenwerdens, das der Film versprüht, wirkt vielleicht auch dadurch so stark: weil es authentisch ist!


Marcos Blick:

BOYHOOD wird von dem zusammengehalten, was Richard Linklater am besten kann: Das entspannte Dahintreiben auf dem Fluss des Lebens.
Von daher ist es einer seiner besten Filme, weil es ihm durch Geduld und Ausdauer gelingt, den langen ruhigen Fluss des Lebens in Originalzeit zu bereisen. Nicht nur für die Darsteller, auch als Zuschauer eine faszinierendes Erfahrung.

Linklaters Stärke erweist sich hier allerdings auch als seine Schwäche. Denn wenn ein Film einen jungen Protagonisten über dreizehn Jahre durch die gesamte Schulzeit hindurch begleitet, muss er es sich gefallen lassen, ein Coming of Age Film zu sein. Und genau hier offenbart BOYHOOD seine vielleicht einzige echte Schwäche.

Des Bauernkindes Lehrjahre


Ein Blick zurück an die Wurzeln des Coming of Age Themas offenbart das Brachland des Mittelalters.

In vielerlei Hinsicht ist das Leben bis ins 16. Jahrhundert hinein deutlich einfacher gestrickt. Vor allem, weil sich keine Notwendigkeit ergibt, sich zu überlegen, was man mit seinem Leben anfängt.
Das Leben gilt als vorherbestimmt. Als prädeterminiert.
In den meisten Fällen tut es das aus Notwendigkeit und Mangel an Alternativen. Wer als Sohn eines Bauern auf die Welt kommt, wird sein Leben mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Hof verbringen. Irgendwann wird er ihn führen, seine Eltern versorgen, und eigene Kinder aufziehen.
Wer in der Stadt lebt, wird ein Handwerk erlernen, häufig das des Vaters, und in diesem sein Dasein fristen. Er wird seine Eltern versorgen und eigene Kinder aufziehen.
Kaufmannssöhne werden Kaufmänner, Tischlersöhne Tischler, Bauernsöhne Bauern. Mädchen heiraten, oft genug in Familien aus dem gleichen Stand: Kaufmannstöchter heirateten Kaufmänner, Tischlertochtern Tischler und Bauerntöchter Bauern.
Waisenkinder landen oft in den weniger beliebten Berufen – können sich aber hier tatsächich etwas entfalten. Ansonsten bleibt das Leben meist von Geburt an relativ klar vorgezeichnet.

Damit die zeit auf Erden nicht allzu trist und sinnlos erscheint, gibt es die Religion. Solange die Menschen aus ihrem starren Berufskorsett nicht herauskönnen, bietet der Glaube ihnen die Möglichkeit, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Ob man Gottes Liebe oder Verdammnis empfängt, hat man selbst in der Hand. Sinn und Ziel des Lebens ist nicht die berufliche Erfüllung, sondern der Einzug ins Paradies.
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Tatsächlich stellt das meist die einzige freie Wahl dar, die der Bevölkerung bleibt: Wer kein Bauer, Tischler oder Kaufmann werden will, kann sein Leben Gott widmen und als Mönch oder Nonne leben.
Damit ist das übliche Ausmaß der Entscheidungsfreiheit bereits ausgeschöpft.

Dann kommt eine Bewegung auf, die das ändert: Die Aufklärung! Mit dem Ansteigen der Bildung wachsen die Möglichkeiten. Und mit den Möglichkeiten kommt der Zweifel an der Prädeterminiertheit des Lebens. Und damit der Zweifel an Gott.
Die Gesellschaft beginnt, ihr Schicksal aus Gottes Hand zu holen und selbst Verantwortung zu übernehmen. Plötzlich kann jeder, in gewissem Rahmen, entscheiden, was er mit seinem Leben anstellen will.

Bis dieses neuartige Konzept allerdings Einzug in die Literatur findet, dauert es noch. Doch als es kommt, kommt es mit einem Donnerschlag! Zwischen 1795 und 1796 erscheint Johann Wolfgang von Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – der erste bedeutende Entwicklungsroman und direkter Vorläufer der modernen Coming of Age Geschichten!

Bildung für alle! Selbst Katzen!


Goethes Werk ist revolutionär. Bisher sind Romanfiguren bis in den letzten Winkel vorherbestimmt. Ihr Schicksal, ihr Leben, alles ist Teil von Gottes Plan. (Einige wenige Romane wie „Der grüne Heinrich“ bringen bereits Entwicklungselemente ein, aber keiner so konsequent und fokusiert wie Goethes „Lehrjahre“.) Wilhelm Meister aber führt ein gänzlich ungeplantes Leben. Er lässt das Gewerbe seines Vaters stehen und zieht in die Welt mit dem Wunsch, Schauspieler zu werden. Doch diverse Begegnungen, Erfahrungen, gescheiterte Versuche und geglückte Zufälle führen ihn schließlich in eine gänzlich andere Richtung. Wilhelm Meister nimmt seine Erlebnisse und Erfahrungen an und auf und entwickelt sich an ihnen weiter. Durch sie findet er seinen Weg im Leben, den er gehen will.

Goethes Roman ist bei Erscheinen ein umwälzendes Werk. Die Vorstellung, eine Romanfigur – oder ein Mensch! – könne sich verändern und entwickeln, schon die Vorstellung, der Mensch würde sich anhand seiner Erlebnisse entwickeln, scheint vielen Suspekt. Goethe nimmt viele psychologische Aspekte der menschlichen Entwicklung vorweg, fast hundert Jahre, bevor die Psychologie überhaupt aufkommt.
Den stets streitbaren E.T.A. Hoffmann inspiriert Goethes revolutionär-ketzerisches Werk zu seiner Satire „Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern“, in dem er seine eigene Katze Murr auf ihrem an Wilhelm Meister angelehnten Bildungsweg begleitet.

Doch die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten – die zunehmendes Bildung und der durch die Industrialisierung aufkommende Wohlstand löst die Vorherbestimmtheit der jungen Generation mehr und mehr auf. Goethe soll recht behalten: Bald wird nahezu jeder Mensch – von gewissen Einschränkungen wie Rasse, Geschlecht, Religion oder anderen oft verfolgten Merkmalen abgesehen – selbst in der Hand haben, was er aus seinem Leben machen will.
Mehr und mehr gerät die Jugendzeit zu einer Zeit der Selbstfindung. Was den Kern der Coming of Age Geschichte ausmacht.

Das kommende Alter


Im Kern ähneln sich sämtliche Coming of Age Geschichten: Es geht um junge Menschen, oft Jugendliche, die nicht wissen wer sie sind, aufgrund ihrer Erlebnisse aber herausfinden, was sie sein wollen.
Manchmal geschieht das schlaglichtartig wie „Der Fänger im Roggen“, der Holden Caulfields Wandlung vom Kind zum Mann an einem Wochenende folgt. (Ähnlich in DER DUFT DER FRAUEN.)
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Manchmal geht es komplexer zu, etwa in DIE REIFEPRÜFUNG, in dem Benjamin Braddock lernt, sich gegen die Anweisungen der Erwachsenen durchzusetzen. In STAND BY ME reicht ein zweitägiger Ausflug, um Gordie Lachance den Tod seines Bruders überwinden zu lassen und den Wert, aber auch die Zerbrechlichkeit, von Freundschaft schätzen zu lernen. Die Beispiele sind nahezu endlos!
Coming of Age Filme nutzen junge Figuren, um moralische, politische, philosophische oder soziale Themen anzusprechen und zu behandeln. Die Ereignisse im Film prägen die junge Figur. Sie wird weniger naiv, reifer, willensstärker, entschlossener, weiser, reichhaltiger, strukturierter, zielgerichteter oder einfach verständnisvoller. In jedem Fall führen die Ereignisse zu einer Entwicklung, dazu, dass eine junge, durchs Leben treibende Figur sich etwas klarer positionieren kann, etwas klarer weiß, was es vom Leben erwartet oder will.

Ziellos sentimental


All das sind allerdings keine Merkmale eines Richard Linklater – und damit auch nicht von BOYHOOD.
Man sollte meinen, wenn man zweieinhalb Stunden zuschaut, wie aus einem sechsjährigen Jungen ein neunzehnjähriger Collegestudent wird, würde er weiser aus der Geschichte herauskommen, als er hineingegangen ist. Doch genau das bietet Linklaters Film nicht.
Dass Mason mit sechs Jahren noch nicht weiß, was er mit seinem Leben anfangen will, ist verständlich. Dass er es nach diversen Entwicklungen mit neunzehn immer noch nicht weiß, wirkt hingegen künstlich.
Nun ist es Linklaters Markenzeichen, „Slacker“ zu inszenieren – Figuren, die ohne den Wunsch nach viel Verantwortung durchs Leben treiben, und morgens noch nicht wissen, was sie abends tun werden.

Dabei ist Linklater kein Neuling im Coming of Age Genre. Schon öfter inszenierte er Jugendliche und andere an der Schwelle zum Erwachsensein Stehende. Wie in BOYHOOD ist das immer interessant, immer emotional – nur eben nicht zielgerichtet.

Bei vielen seiner Figuren ist das auch durchaus passend. Es sind Mittzwanziger oder Mittdreißiger, die sich gezielt davor drücken, etwas zu wollen. Das Ergebnis sind spannende Dialoge über alle möglichen Themen. Es ist dieses Verharren im Augenblick, das niemand besser inszeniert als Linklater.
Genau diesen Genuss des Augenblicks bietet auch BOYHOOD. Zur Genüge.
Ethan Hawke erklärt über seinen Freund „Rick“ Linklater: "Als wir an BEFORE SUNRISE arbeiteten, fürchteten wir, der Film könne langweilig werden. Rick sagte: ‚Ich war noch nie in einem Flugzeugabsturz, einem Feuergefecht oder Teil einer Regierungsverschwörung. Trotzdem ist mein Leben voller traumatischer Erlebnisse. Das Traumatischste, was mir je geschehen ist, war der Kontakt zu anderen Menschen.‘“
Damit gibt Hawke Linklaters Welt nahezu perfekt wieder. Linklater sucht die Dramen und Traumata im Alltag, gerade im Alltag des Erwachsenwerdens. Seine Jugendfilme sind Filme über das Trauma des Erwachsenwerdens, das jeder von uns durchmacht – weshalb seine Filme stets so sentimental wirken. Sie erinnern einen schnell an die eigene Kindheit.

Auch BOYHOOD ist bis obenhin angefüllt mit den Traumata des Erwachsenwerdens, vom Heilen der Wunden, von der Assimilation ins eigene Leben. Das macht den Film so gut, und in Kombination mit seiner Langzeitproduktion auch so angenehm wuchtig.
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Dennoch bleibt ein Hauch von Enttäuschung, dass es eben kein Coming of Age Film ist. Es bleibt enttäuschend, dass Mason mit 19 immer noch nicht weiß, wohin sein Leben führen soll. Er begegnet den Unbillen des Lebens durchgehend stoisch und mit einem Achselzucken. Die fehlende Wandlung und Reife wirkt hier besonders schmerzlich, wenn eine Figur, die offensichtlich politische Ansichten hat, moralische Werte, die mit der Fotografie kurzzeitig einem Hobby frönt, am Ende einzig darauf reduziert wird, dass sie über die Trennung von der High School Freundin hinwegkommt.
Damit entlässt der Film einen nach dreizehn Jahren: Mason findet ein neues Mädchen interessant!
Dass es eben auch anders ginge, zeigen die Figuren von Ethan Hawke und Patricia Arquette! Beide entwickeln sich weiter, lernen aus den Jahren, finden neue Einflüsse und Inspirationen. Beide sind am Ende gereifter und weiser, ruhiger und auch etwas furchtsamer. Beide wachsen und reifen.

Linklaters Schwerpunkt liegt eindeutig nicht darauf, dass seine Figuren „lernen“ oder mit einer Erkenntnis aus dem Film kommen. Linklater sucht (und findet) die Gefühle, die Ängste und Sorgen und eben Traumata des Erwachsenwerdens, besonders schön eingefangen in einer Szene, in der Mason erkennt, dass es in der echten Welt keine Magie gibt – oder zumindest nicht die Magie, die er als Kind stets für glaubwürdig gehalten hat.
Aber ein Coming of Age Film erfordert, dass, in irgendeiner Art und Weise, der älterwerdende Charakter aus dem Älterwerden eine Erkenntnis mitnimmt. Die bietet BOYHOOD aber nicht – aus welchen Gründen auch immer.
Trotz all der spannenden Erlebnisse ihrer Jugend bieten weder Mason noch seine Schwester (die von Jahr zu Jahr gelangweilter in die Kamera schaut) viel interessante Entwicklung.
Ellar Coltrane, mittlerweile 19, mit Regisseur Richard Linklater. Ein spannendes Experiment, dem Jungen beim Aufwachsen zuzusehen.
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Das macht aus BOYHOOD keinen schlechten Film. Er ist ein packendes Experiment, eine fantastische Zeitkapsel, die das Flair jedes Jahres gekonnt einfängt. Er bietet packende Szenen und hervorragende Dialoge und ist trotz einiger Längen zwischendrin absolut keine Zeitverschwendung. Er bietet eine emotionale Reise in die eigene Kindheit – Linklaters Wunsch, das Gefühl der Kindheit filmisch einzufangen, ist in jedem Fall hervorragend geglückt.

Aber für einen Jugendfilm, für einen Coming of Age Film, ist BOYHOOD zu unfokussiert, zu ungeplant und bietet keine Erkenntnis, die man eventuell aufs eigene Leben übertragen könnte. Das ist schade, weil man sich wünscht, dass ein so geduldig erzählter Film irgendeinen Eindruck auf das eigene Leben haben kann, außer dass man sich daran erinnert, selbst mal Kind gewesen zu sein. Dafür fehlt dem Film allerdings die Wucht, und wenn, dann kommt sie aus den Figuren der Erwachsenen, nicht der Kinder – die damit zu Nebendarstellern verkommen.
So ist BOYHOOD ein Film, der emotional so gehaltvoll ist, wie er an Erkenntnis unter seinen Möglichkeiten bleibt.

2 Kommentare:

  1. Ich habe euren Blog zufällig entdeckt. Das ist spannend, wie mehrere Meinungen nebeneinander stehen und konkurrieren.Die Filmauswahl spricht mich auch an und die Gründlichkeit und Sorgfalt der Texte.
    Übrigens finde ich schon, dass "Boyhood" genug Wucht hat. Es sind die Dramen des Alltags, die für den, der sie erlebt, spektakulär sein können. Ein Regisseur muss sie nur gut genug inszenieren, etwa den letzten Blick des Jungen zurück aus dem Auto auf die Straße und den Freund, die er beim Umzug gerade zum letzten Mal sieht. Darüber habe ich auch zwei Artikel geschrieben:
    http://filme-sehen.blogspot.de/2014/07/boyhood-drama-of-life_19.html
    http://filme-sehen.blogspot.de/2014/08/boyhood-kinder-sind-keine-pawlowschen.html
    http://filme-sehen.blogspot.de/
    munaretto2014@gmail.com

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  2. Hallo Stefan,
    vielen Dank für das Kompliment.
    Natürlich hast du recht, dass die kleinen Alltagsdramen in BOYHOOD wuchtvoll sein können und für die Figuren ja auch sind.
    Die Frage, an der sich das aufreibt ist die, ob eine in sich geschlossene, für die Figuren dramatische Situation ausreicht, oder ob der Film als (nahezu dreistündiges) Kunstwerk für die Zuschauer eine Form von paraphrasierter Aussage bereitstellt.
    In unseren Augen ist Letzteres im Film zu dünn gesät. Du legst in deinen Artikeln aber auch gut dar, dass es durchaus reichen kann, Filmimmanent dramatisch zu bleiben.
    Das ist tatsächlich eine Frage persönlicher Neigung und Erwartung.
    Danke für den spannenden Zusatz. :)

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