"Das Erstaunliche an Wassertropfen ist, dass sie immer den Weg des geringsten Widerstandes nehmen. Bei Menschen ist das das genaue Gegenteil."
Biancas
Blick:
Nach gut vier Jahren kommt mit DIE KARTE MEINER TRÄUME endlich
Jean Pierre Jeunets neuer Film in die deutschen Kinos. Der Meister des
gefühlvoll kreativen Films hinterlässt damit neben einem Wohlfühlgefühl auch ein
breites geseufztes „Hach“.
DIE KARTE MEINER TRÄUME erzählt den Auszug einer Kindheit
in Montana.
Der 10-jährige T.S. Spivet lebt mit seinem Bruder Layton, seiner Schwester
Gracie und seinen Eltern in einem roten, idyllischen Farmhaus. T.S. eifert seiner
Mutter nach und ist der Wissenschaftler
der Familie, während sein Bruder Layton wie sein Vater ein Cowboy werden will.
Seine Schwester hingegen träumt von einer Schauspielkarriere und trauert über
die Einöde, in der sie leben muss.
Nachdem ein Unglücksfall das Leben der Familie grundlegend verändert,
vergräbt sich T.S. umso mehr in seine Bemühungen, die Welt mit Zeichnungen, Karten
und wissenschaftlichen Regeln zu verstehen.
Als T.S. das Perpetuum Mobile erfindet und seinen Entwurf
nach Washington schickt, wird er ins dortige Smithsonian Institute eingeladen, um den
renommierten Baird Preis für seine Entwicklung entgegenzunehmen.
Er nimmt die Einladung an, läuft heimlich von zu Hause weg und beginnt eine lange abenteuerliche Reise. Mit
dem Güterzug rumpelt er nicht nur den heiligen Hallen der Wissenschaft
entgegen, sondern auch sich selbst und der Aufarbeitung einer Tragödie.
DIE KARTE MEINER TRÄUME ist die Verfilmung des 2009 erschienenen
Erstlingswerks des Amerikaners Reif Larsen, „The Selected Works of T.S. Spivet“.
Dieser schreibt den Roman mit gerade einmal 29 Jahren und legt gleich einen
Bestseller vor.
Das Buch ist angereichert mit Karten und Illustrationen, die
T.S. anfertigt, um die Welt zu verstehen und dem Leser einen Einblick in seine
Sicht der Dinge zu geben.
Larsen gibt in Interviews an, dass die großen Skizzen und
Bilder, die den Roman begleiten, zunächst gar nicht geplant waren, sich aber aus dem
Schreiben der Geschichte ergaben. Da er aus einer künstlerischen Famile stammt –
seine Mutter ist Malerin und Fotografin, sein Vater ist Grafiker –, lag die Visualisierung
der Erzählung nahe. Larsen zeichnet die Bilder selbst, wird aber von Ben Gibson,
einem befreundeten Künstler, unterstützt.
Die amerikanischen Verlage reißen sich um die Rechte. Am
Ende erhält der unbekannte Autor einen Vorschuss von 900.000 Dollar! Für
seinen Debütroman!
Das Buch begeistert die Kritiker und wird noch heute in
verschiedene Sprachen übersetzt. Es ist eines der meistgelesensten Bücher der
letzten Jahre.
Kinderfilme und
Kinderfilme
Kinderfilme, also solche, in denen Kinder die Hautprolle
spielen, gibt es viele und sie sind grob in zwei Kategorien einzuteilen:
Zum einen gibt es die reinen Kinderfilme, deren Zielpublikum
ebenfalls Kinder sind, an denen Erwachsene aber auch ihre Freude haben, wenn sie die
Kleinen ins Kino begleiten. Etwa DIE KLEINEN SUPERSTROLCHE, PÜNKTCHEN UND
ANTON, DAS FLIEGENDE KLASSENZIMMER, DENNIS, MATHILDA aber auch die HARRY
POTTER-Reihe. Es sind Filme, die sich ganz und gar in die Welt der Kinder
begeben.
Sie sind abenteuerlich, spannend und befassen sich mit
Themen, die Kinder interessieren: Selbstständigkeit, Freundschaft, Loslösung
von den Erwachsenen, die meist nur Staffage oder Antagonisten sind. Die Kinder
agieren mit anderen Kindern, erleben Streiche, Familienstreitigkeiten,
Schulstress oder phantasievollere Themen wie Zauberei und den Kampf für das
Gute gegen das Böse. Die recht klare Moral und Aufteilung in Protagonisten und
Antagonisten machen sie für Kinder gut zugänglich.
Dann gibt es, deutlich seltener, Kinderfilme, die sich an
Erwachsene richten. Sie nutzen die Perspektive und Figur des Kindes für metaphorische
und philosophische Aussagen – für Kinder bieten sie allenfalls ein paar lustige
Szenen. Neben der vermeintlich simplen Handlung versteckt sich meist eine deutungsfreudige
Ebene, die entschlüsselt werden will.
Einer der ersten Filme dieser Sparte ist STAND BY ME von
1986.
Darin verfilmt Rob Reiner eine Stephen King Novelle, die er
deutlich erweitert.
Die Suche der vier Jungs nach einer Leiche ist nur
oberflächlich gesehen eine Abenteuergeschichte. Im Kern geht es ums
Erwachsenwerden, um das Wissen, dass es der letzte gemeinsame Sommer der vier
Freunde wird. Es geht um das Suchen nach sich selbst, und das Finden von
Verständnis. Die Kinder in diesem Film erkennen sich selbst, überwinden tief
sitzende Ängste und bereiten sich auf das Leben vor. Sie befinden sich an der
Schwelle des Teenagerdaseins und auch mit dem biologischen Alter wird die
„unbeschwerte“ Kindheit, die bei keinem der Kinder so richtig existiert, bald zuende
gehen. Sie beginnen zu erkennen, was wirklich wichtig ist im Leben, und dass
ihre Suche nach einem toten Jungen nicht der tatsächliche Grund ihrer Reise ist.
STAND BY ME wird seinerzeit als Kinder-und Jugendfilm vermarktet,
avanciert aber schnell zu einem der erfolgreichsten Filme des Jahres, der
ebenso viele Erwachsene anlockt. Sie finden sich in der Atmosphäre der 60er wohl,
der Zeit ihrer eigenen Kindheit, und erkennen den tieferen Wert der
augenscheinlich simplen Geschichte.
Aktuellere Beispiele sind BEASTS OF THE SOUTHERN WILD, KRABAT, HUGO CABRET und eben auch
DIE KARTE MEINER TRÄUME.
Und worum geht’s in der Tiefe?
Auch DIE KARTE MEINER TRÄUME greift diese inneren Konflikte der Figuren auf.
Die Familie findet sich zu Filmbeginn in einer von einem
Unglück ausgelösten Stagnation wieder.
Keiner weiß genau, wie er mit der Situation umgehen soll.
Der
kleine T.S. verräbt sich in seine Wissenschaft. Die Familie lebt aneinander
vorbei, redet nicht mehr miteinander, spricht nicht über den Vorfall. Die Leere
im Haus wird mit emotionaler Leere überdeckelt.
Vor allem die Eltern scheinen sich loszulösen. Der Vater,
sowieso eher wortkarg, kann mit T.S.‘ wissenschaftlichen Arbeiten nichts
anfangen und genießt sein Essen lieber im Regen als am Familientisch. Die Mutter vertieft sich in
die Suche nach einem Käfer, den es vielleicht gar nicht gibt.
Erst als T.S. aufbricht und sich der familiären Situation
entzieht, entblößt er die entstandenen Lücken und zwingt sich und seine Familie,
sich mit ihren Gefühlen zu befassen.
Auf seiner heimlichen Reise entblättert er
Oberflächlichkeiten und gesellschaftliche Doppelbödigkeit. Aber eben auch nicht
funktionierende familiäre Strukturen. Die Reise der „Wissenschaft“ ist
eigentlich eine Reise in die „Emotionalität“. Die Fahrt weg von der Familie
nähert ihn und die Familie wieder einander an.
Das Klischee, dass innerhalb der Wissenschaft kein
Verständnis gefunden werden kann und nur Erfolg und Unverständnis für
kindlichen Belange vorherrscht, ist dabei sicherlich nicht ganz glücklich gewählt.
Der Kontrast hätte subtiler ausfallen können.
Und dann kam Amelie
Um den Roman zu verfilmen, der visuell ungewöhnlich und
phantasievoll aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, brauchte es einen
Regisseur, der Bilder und Phantasie umzusetzen weiß, und mit Jean-Pierre Jeunet wird
der perfekte Kandidat gefunden.
Regisseur Jeunet. © DCM |
Und zwar mit den Augen von Amelie.
Zwar hatte Jeunet bereits vor AMELIE große Erfolge mit seinen Filmen DELICATESSEN, ALIEN 4 und DIE STADT DER VERLORENEN KINDER, aber revolutioniert hat er das Kino mit diesen Werken nicht.
Zwar hatte Jeunet bereits vor AMELIE große Erfolge mit seinen Filmen DELICATESSEN, ALIEN 4 und DIE STADT DER VERLORENEN KINDER, aber revolutioniert hat er das Kino mit diesen Werken nicht.
Dann kommt mit DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE einer der
bezauberndsten Streifen der Filmgeschichte in die Kinos. Er zeigt uns die Welt
aus der Sicht einer jungen Frau, die alles versucht, ihre Umwelt glücklich zu
machen und sich selbst dabei fast vergisst,
ihre Liebe beinahe übersieht.
Jeunet spielt in diesem Film mit surrealen und realen
Elementen, Traum und Wirklichkeit und hat mit Audrey Tautou einen absoluten Glückgriff getätigt.
Amelie will die Welt bezaubern und tut es einfach durch ihr
Dasein. Und sie tut es mit den einfachsten Mitteln. Es braucht nicht viel, um
Menschen glücklich zu machen, manchmal reicht es einfach nur, ihnen zuzuhören
und ihnen das zu geben, was sie sich ersehnen. Seien es Erinnerungen, Fotos und
dadurch kleine Momente der Freude.
Sie steht im stetigen Kampf zwischen ihrer Fantasie- und der
realen Welt.
Jeunet nimmt sich für seine Filme stets sehr viel
Vorbereitungszeit. Für Amelie sammelt er fast 19 Jahre lang Bilder und Ideen.
Aber auch sonst liegen meist 3-5 Jahre zwischen seinen Arbeiten. Er bereitet
sich akribisch vor und legt viel Wert auf Details.
Spannend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass
Jeunet ursprünglich als Regisseur für THE LIFE OF PI geplant ist.
Auch das eine Romanverfilmung, die zwischen Realität und Fantasie hin und herspringt und das perfekte Sujet für
Jeunet darstellt.
Aufgrund seiner akribischen, langfristigen Planungen und seinem Faible für hochwertige Aussattung, liegt sein veranschlagtes Budget bei 85
Mio Dollar und für die Produzenten viel zu hoch. Schließlich bekommt Ang Lee den Regiestuhl angeboten - und dreht den Film für 135 Mio Dollar. Im Gegenzug nimmt er 2013 den Oscar für
die beste Regie entgegen.
Was hätte Jeunet aus dem Schiffbruchdrama herausgeholt? Wir werden es nie
erfahren.
Farben und visuelle
Kontraste
Wie auch schon in AMELIE nutzt Jeunet in DIE KARTE MEINER TRÄUME eine ausgiebige
Farbenpracht als erzählerisches Mittel.
Montana als Drehort ist von sich aus bereits prächtig und
wuchtig, doch malt Jeunet das Gras noch grüner, die Scheune noch roter und den
Himmel noch blauer, und unterstreicht damit die von einem Kind wahrgenommene
Welt. Die Nostalgie des Romans fängt Jeunet ein, indem er die Welt in satten
Farben erstrahlen lässt und den Film sehr klassisch ausstattet. Zu Beginn wähnt man sich in
den 40er oder 50er Jahren ab. Erst durch die Bemerkung, dass Handys auf der Farm keinen Empfang haben, wird deutlich: wir sind in den 2000ern.
Die Welt in Montana scheint unendlich, etwas, das der Sicht eines Kindes durchaus entgegenkommt. (Und in Montana immer leicht zu filmen scheint!)
Umso kontrastreicher werden Chicago und Washington gemalt: klare Linien und
Symmetrien, hohe Häuser, viel grau, kein Grün und doch eine seltsam beeindruckende,
wuchtige Schönheit. Auch hier filmt Jeunet mit Kinderaugen, denn für T.S. ist die Welt, in die er da eintaucht,
geheimnisvoll, groß, zum Teil unfassbar, aber schön.
© DCM |
Jeunet bedient sich auch in der Stadt seiner surrealen Bilder. So
erscheinen die Erwachsenen bedrohlicher als in der realen Welt (Polizisten,
Landstreicher, Fakultätsvorsteher), unterstützt von den phantasievollen
Gedankenbildern eines Zehnjährigen.
Jeunet erreicht nicht den Glanz von AMELIE – zu unscharf
verwischen surreale und reale Bilder, derer es mehr hätten sein können und auch
deutlicher kontrastierend, aber er erschafft eine Welt voller Nostalgie,
Reinheit und kindgerechter Spannung.
Die surrealen Bilder durchziehen den Film und lassen den
Zuschauer oft rätselnd zurück: Ist das Gesehene real oder aus der Sicht eines
Kindes ins Surreale überzeichnet?
Jeunet dreht mit diesem Werk seinen ersten 3D Film, um die Vieldimensionalität
der Karten und Skizzen von T.S. hervorzuheben.
Ein Franzose malt
amerikanisch
Der Film muss viel Kritik einstecken, gerade im Vergleich
zum Roman.
Zu idyllisch seien die Bilder, zu sehr verliere sich Jeunet
in seiner gemalten Amerika-Nostalgie. Zu sehr greife er nach Klischees, die das
Amerikabild eines Europäers ausmachen.
Nimmt man den Film alleine, ohne den Roman zu kennen, ist
nicht alles geglückt, aber er erschafft eine Atmosphäre der Wärme und Fantasie.
Die größte inszenatorische Schwäche des Films ist vielleicht
auch seine größte visuelle Stärke.
Da man im Nachhinein nie so genau weiß, was nun Realität und
was nur T.S.‘ Sicht ist, verliert man sich als Zuschauer in dieser Ebene. Denkt
man einen Tag über den Film nach und versucht zu erörtern, was nun real war und
was nicht, ist es schier unmöglich. Denn ist nicht vielleicht der ganze Film gefälscht?
In einigen Szenen wie dem Telefonat nach Hause oder der „Gehirnuntersuchung“,
wird die Kindessicht zwar deutlich herausgestellt, aber schließlich schildert
das Kind ja die gesamte Geschichte. Was ist echt? Was ist Sicht des Kindes?
Aus Kindersicht ist die Stadt imposant, ein Hot Dog das
höchste aller Nahrungsgüter (gerade wenn die Mutter auf gesunde Ernährung
achtet und somit solch kindgeliebte Nahrungsmittel verboten sind), Polizisten
grimmig, die Reise nach Washington eine abenteuerliche Weltreise. Ist die
Wiederzusammenführung der Familie so herzzerreißend, weil es von dem Kind so
wahrgenommen und eingeordnet wird?
Wer vermag die Grenzen zwischen Traum, Fantasie, Kindersicht
und Realität klar zu ziehen?
Bedauerlich ist allenfalls, dass die Auseinandersetzung mit
der Vergangenheit seiner Mutter im Film zu kurz kommt. Die Beschäftigung mit
ihrem Tagebuch, das T.S. klaut, nimmt im Roman einen großen Teil des zweiten
Aktes ein, wird im Film aber nur kurz behandelt.
Allerdings hilft auch der kurze Tagebuchausschnitt, T.S.
deutlicher zu zeichnen und klar zu machen, dass er die Welt in Maßen, Zahlen und
Wissenschaftlich sieht, nahezu autistisch, nicht mit den Augen eines Kindes.
Hauptdarsteller Kyle Catlett leistet übrigens hervorragende Arbeit! Der Jungschauspieler meistert die Verantwortung, einen tiefgründigen Film zu tragen, ohne sichtbare Mühe. Mit tollen Bildern und einem anrührenden, freudigen Spiel trägt er den Film, der sein Kinodebüt darstellt. Größere Bekanntheit errang der Junge zuvor nur als Sohn eines Serienmörders in der Kevin Bacon Serie THE FOLLOWING. Als nächstes wird er im Remake von POLTERGEIST zu sehen sein. Auch der Rest des Casts bietet eine sehenswerte Performance, besonders Helena Bonham Carter darf mal wieder eine ruhige und gefühlvolle Rolle spielen, neben ihren für gewöhnlich ins Extreme tendierenden Rollen.
Ingesamt erreicht der Film sein Ziel: Er lässt den Zuschauer erwärmt zurück und regt zum Nachdenken an. Er ist ein "traumhaftes" Gesamtwerk, im wahrsten Sinne des Wortes.
Wow, ich habe selten eine so ausführliche Kritik zu dem Film gelesen, da kommt meine (https://filmkompass.wordpress.com/2014/08/17/the-young-and-prodigious-t-s-spivet-omu-2013/) ja vergleichsweise spartanisch daher. Die Buchvorlage kannte ich nicht und mir hat dieser Kinder-Roadmovie ganz gut gefallen.
AntwortenLöschenDankeschön! Ja, der Film war wirklich super. Uns gefällt deine Rezension aber auch gut. Sie macht in jedem Fall auch große Lust auf den Film!
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