06.10.16

Kinokritik: 24 Wochen (D 2016) – Die unmögliche Wahl

So etwas gab es noch nicht. Nie zuvor wurde eine Abtreibung im Film so radikal, so umfassend und als derart unlösbares Dilemma inszeniert.
24 WOCHEN, der schon auf der Berlinale 2016 für Aufsehen sorgte, treibt das Thema weiter als jeder andere Film – und umschifft dabei jedes Klischee und jeden Kitsch.
Ein Film, den man gesehen haben muss – und der niemanden kalt lässt.
© Zero One Film
Biancas und Marcos Blick: 

Die Besprechung zu 24 WOCHEN fiel uns schwer. Zum einen, weil der Inhalt des Films kein leichter ist, zum anderen, weil das Thema dahinter ein sensibles ist. 
Darüber hinaus haben wir lange mit der Frage gerungen, wie wir uns dem Thema annähern sollen. Denn obwohl wir denselben Film gesehen haben, und durchweg derselben Ansicht sind, dass der Film herausragend ist, waren es doch zwei gänzlich unterschiedliche Seherlebnisse.
Das ist nur logisch, wenn man als Mann und als Frau einen Film schaut, der sich der Frage widmet, ob man das ungeborene Leben im Körper des einen nun beenden soll oder nicht. Am Ende haben wir versucht, einen Mittelweg zu finden und uns auf die Aspekte zu konzentrieren, die uns vereinen.

Die Kabarettistin Astrid und ihr Lebensgefährte/Manager Markus erwarten ihr zweites Kind. Ein erster Schicksalsschlag trifft sie, als eine Pränataldiagnose feststellt, dass das Kind unter Trisomie 21 leidet und als „Downie“ auf die Welt kommen wird.
 Die aufgeschlossenen Eltern beschäftigen sich noch ausgiebig mit der Frage, ob sie sich dieser Situation gewachsen fühlen, als schon der nächste Schlag kommt: Das Baby hat einen schweren Herzfehler. Wird vermutlich sein Leben lang schwerster Pflegefall bleiben, immer wieder Operationen durchstehen müssen und sieht einer ungewissen Lebenserwartung entgegen.
Für die Eltern wird die Entscheidung für oder gegen das Leben des Kindes zu einem schier unlösbaren Dilemma. Denn: Astrid ist bereits im sechsten Monat, und eine Spätabtreibung würde die aktive Ermordung ihres an sich bereits lebensfähigen Babys und eine anschließende Totgeburt bedeuten …

Besser nie als spät?


Das Thema Spätabtreibung wird heutzutage kaum thematisiert. Der Grund ist vermutlich recht simpel: Während sich Frühabtreibungen häufig um den Wunsch drehen, gar kein Kind zu bekommen, handelt es sich bei Spätabtreibungen um den Wunsch, speziell dieses Kind nicht zu bekommen. Eines der häufigsten Argumente dafür ist eine ausgeprägte Behinderung des Kindes, die dank besserer Pränataldiagnostik immer häufiger frühzeitig erkannt wird. Besonders Trisomie 21 gilt als häufiger Grund für eine Spätabtreibung. Statistiken sprechen davon, dass knapp 90% der Frauen, bei deren Kind das Down-Syndrom diagnostiziert wird, abtreiben.
Das jedoch führt auch schnell zu Diskussionen, denn nicht zuletzt Eltern von Down-Kindern sprechen sich in den meisten Fällen gegen eine Spätabtreibung von Down-Kindern aus und stellen heraus, dass auch von der Chromosomenabweichung betroffene Menschen viel Lebensfreude erleben können.

Abtreibung ist grundsätzlich ein Thema, das emotional diskutiert aufgeladen ist. Dafür muss man nicht nur den noch immer heftig tobenden Kampf in den USA oder die immer wieder aufflammenden Diskussionen um den §218 beobachten.
Gerade Spätabtreibung jedoch wird aus genannten Gründen von vielen Menschen besonders scharf kritisiert. Argumente wie „Das ist Kindermord“, „Auch Down-Kinder können ein erfülltes Leben führen, auf das sie eine Chance verdienen“ oder „Eine Behinderung ist kein Grund, ein Baby zu ermorden“ finden sich zuhauf unter jedem Beitrag zu diesem Thema in den sozialen Netzwerken.
Der „Streitpunkt“ liegt dabei in dem Umstand begründet, dass jeder Diskussionsteilnehmer davon ausgeht, sein eigener Standpunkt müsse als Handlungsmaxime für alle anderen Menschen ebenso gelten. Eine Art Kategorischer Imperativ, den jeder an das Thema heranträgt. Doch da im Falle eines behinderten Kinds eben nicht ausschließlich das Leben des Kindes betroffen ist, sondern auch das der Eltern, ist es schwierig, einen allgemeingültigen Handlungskonsens zu finden. Um nicht zu sagen unmöglich.

Auch 24 WOCHEN sah sich, schon vor Veröffentlichung, heftiger Kritik ausgesetzt, vor allem der, dass der Film die Abtreibung behinderter Babys und insbesondere von Down-Kindern propagieren, ja sogar apologieren würde. Noch heute kommen viele Zuschauer aus dem Kino und äußern ihren Missmut, Geld für eine „Pro-Abtreibung“-Kampagne ausgegeben zu haben.
Dabei geht es 24 WOCHEN weder um ein Pro, noch um ein Contra zur Abtreibung. Dem Film geht es um die Tatsache, dass man im Leben vor eine Wahl gestellt werden kann, in der es keine richtige Entscheidung gibt. In der jede Entscheidung, die man fällt, nur eine falsche sein kann, mit der man aber dennoch den Rest seines Lebens leben muss – und was das für die Entscheidungsfindung bedeutet.

Schwerer wird’s nicht mehr


24 WOCHEN gelingt das Kunststück, sich weder die Frage, noch die Lösung einfach zu machen. Immer wieder werden alle Argumente in packenden Dialogen gegenübergestellt, werden Vor- und Nachteile detailliert aufgeführt.
Der Besuch im Chor der Down-Kinder etwa wird positiv, aber gleichzeitig voller Misstrauen gezeigt. Denn auch wenn Markus und Astrid ihre Scheu schnell überwinden, bleibt ihre Tochter verängstigt und verschreckt, auch wenn die Jugendlichen hilfsbereit und empathisch dargestellt werden.
© Zero One Film
Auch das Kindermädchen, das aufgrund der Neuigkeiten kündigt, weil es sich vor behinderten Kindern ekelt, bringt einen unerwarteten Nackenschlag mit. Astrids Mutter feuert die Diskussion zusätzlich an, als sie bemerkt, „solche Kinder müssen ja heute nicht mehr unbedingt geboren werden“. Bedeutend ist das, weil sie bereits ihren pflegebedürftigen Mann umsorgt hat, also weiß, welche Opfer und welche Selbstaufgabe so etwas mit sich bringt – und dass sie selbst nicht dazu in der Lage wäre.
Als zwei Ärzte die Diagnose des Herzfehlers übermitteln, vertreten sie zwei konträre Meinungen: Der eine erklärt hoffnungsvoll, welche Möglichkeiten dem Kind offen stünden, der andere verweist realitätsbezogen auf die Unsicherheit des OP-Erfolgs und die anstehenden Leiden der Eltern.
Am Ende all dieser Gespräche sitzt man als Zuschauer ebenso ratlos und frustriert da wie die Eltern.

Neben dem diagnostizierten Herzfehler, der fraglich macht, ob das Kind jemals Lebensfreude empfinden wird, verschärft vor allem Astrids Ruhm das Problem; als öffentliche Person – und ihr Publikum weiß um ihre Schwangerschaft ebenso wie um die Probleme des Kindes – kann sie ihre Entscheidung nicht im Privaten treffen, wie viele andere betroffene Mütter, sondern muss diese am Ende auch vor der Öffentlichkeit rechtfertigen.
Eine weitere Ebene gewinnt der Konflikt, als Astrid und Markus beginnen, unterschiedliche Ansichten darüber zu entwickeln, welche Lösung sie anstreben sollen.

Auch deshalb, weil es der Film seinen Figuren so schwer wie möglich macht und die Eltern in spe alles tun, um eine Rechtfertigung für das Leben des Kindes zu finden, ist der Vorwurf, der Film würde eine Spätabtreibung verharmlosen oder sogar bewerben, nicht haltbar. Immer wieder durchbricht der Film die vierte Wand – zweimal direkt, wenn Astrid in entscheidenden Momenten die Zuschauer ansieht, als wolle sie sie herausfordern, und immer wieder indirekt – und lässt den Zuschauer so an dem Dilemma teilhaben, fordert ihn auf, sich innerlich mit den im Film aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen: „Wie würdet ihr entscheiden?“ „Wie seht ihr das?“

Eine der stärksten Szenen in dieser Hinsicht ist das Tischgespräch, das entsteht, als Markus und Astrid all ihre Freunde einladen, um die Kunde zu überbringen: „Wir wollten euch erzählen“, hebt Astrid zu ihrer Rede an, „dass unser Kind ein Junge wird. Und er hat Down-Syndrom.“
Unweigerlich ertappt man sich als Zuschauer in der Situation, dass man sich wundert, wie man selbst reagieren würde, wenn man so von der Erkrankung des ungeborenen Kindes erfahren würde. (Eine entlarvende Szene auch für alle Down-Eltern, die offensichtlich vergessen haben, dass auch sie selbst kaum erfreut gewesen sein werden, im ersten Augenblick als sie die Diagnose erfuhren, nun aber von anderen Eltern verlangen, sich zu freuen oder nicht entsetzt sein, wenn sie ihrerseits mit dieser Diagnose konfrontiert werden.)
© Zero One Film
Es sind immer wieder solch ruhige, pointierte Dialoge, die die Gedanken des Publikums aufgreifen. und nur selten werden sie so endgültig beantwortet wie etwa die Frage von Markus: „Wie können wir denn diese Entscheidung treffen?“, worauf Astrid erwidert: „Wir müssen sie treffen, weil das Kind selbst es nicht entscheiden kann.“

Anregung zur Diskussion


Der Film bleibt konstant bis zum Ende bei der Mutter Astrid und begleitet sie beim Treffen einer Wahl, die nur sie allein treffen kann. Das ist quälend, das ist intim, das tut weh.
Man hofft, bangt und kapituliert mit ihr gleichermaßen, was den Film zu einem unmittelbaren Erlebnis macht.


Was empfindet eine Mutter, nachdem sie sich zunächst für das Kind entschieden hat und von der 6-jährigen Tochter hört, dass sie sich vor dem Kind ekeln wird? Dass sie den Bruder ablehnen wird und womöglich gar hasst?
Wenn das Kindermädchen, das als wichtige Stütze der berufstätigen Mutter in die Entscheidung einbezogen wird, plötzlich von unlebenswertem Leben spricht?
Was geht in einer werdenden Mutter vor, die sich für ihr Kind entscheidet und plötzlich merkt, dabei alleingelassen zu werden?
Wenn selbst die eigene Mutter die Frage stellt, ob man sich so ein Kind antun müsse ... und mit dieser beinahe beiläufigen Erwähnung einen Stein ins Rollen bringt, der erst am Ende des Films zum Stehen kommt.

Nein, Spätabtreibung wird hier nicht propagiert, im Gegenteil. Sie wird diskutiert. Aus allen Blickwinkeln beleuchtet. Mit allen möglichen Ansichten konfrontiert – einige davon hässlich, andere hoffnungsvoll, ein paar wenige vielleicht naiv. Sie wird verteufelt und verharmlost, erwogen und abgelehnt. Immer aber wird klargestellt, dass es hier um nichts Geringeres geht als die Wahl zweier Eltern, ob sie ihre Kind umbringen sollen oder nicht.
Der Film macht mehr als deutlich, wie schwer die Entscheidung fällt und wie schmerzhaft sie ist.
© Zero One Film
Und er macht klar, dass es eine Entscheidung ist, die im Endeffekt, bei aller Aufregung, die das Thema aufwirft, nur derjenige fällen kann, der sie fällen muss. Und dass die Entscheidung des einen nicht die Entscheidung des anderen sein muss. Womit alle Einwürfe wie: „man kann nicht“, „man darf nicht“, „man muss aber“ hinfällig werden.


Der Film spart die juristische Seite einer Spätabtreibung vollkommen aus und vereinfacht die medizinische (so wird etwa keine zweite Meinung eingeholt, oder anderweitig in den Raum gestellt, dass die Diagnose fehlerhaft sein könnte). Und die moralische Seite wird hier nicht etwa aus der Sicht der Gesellschaft behandelt, sondern aus einem ganz persönlichen Blickwinkel. Auch wenn zunächst noch das soziale Umfeld der Eltern eingebunden wird, verengt sich der Blick des Films mehr und mehr auf die unmittelbar Betroffenen: die Mutter und auch den Vater. Denn am Ende bleibt die Entscheidung einzig an ihnen hängen – und, das wird bald deutlich, selbst in diesem Duo bleibt eine Meinung schlussendlich außen vor.
24 WOCHEN ist ein Werk, das sich rein mit der menschlichen Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung beschäftigt. Diese Entscheidung am Ende moralisch zu bewerten, kann er nicht leisten. Und will es auch nicht. 

Fazit


24 WOCHEN ist ein wuchtiges Stück Kino, das mit ganz leisen Tönen daherkommt. Für uns, neben RAUM, einer der emotionalsten Filme, die wir dieses Jahr gesehen haben. Und ein wichtiger Film, auch und gerade für die Debatte darum, worum es bei einer Abtreibung, insbesondere einer Spätabtreibung, überhaupt geht. Ein Film, der einen berührt. Egal ob Mann oder Frau. Natürlich lastet er schwerer auf Frauen, die am Ende doch mit der Entscheidung alleine bleiben. Trotzdem gelingt es Bjarne Mädel an den entscheidenden Stellen, auch die Position des Vaters anrührend und mit ruhigem Spiel nachfühlbar zu machen.
Der Film spricht Down-Kindern ebenso wenig die Lebensfreude ab, wie er den Eltern, die sich für eine Abtreibung entscheiden, nachwirft, dass die Entscheidung eine leichte sei. Überhaupt geht es nur vordergründig um die Frage, ob Abtreibung Ja oder Nein. Vor allem geht es darum, wie persönlich und individuell diese Entscheidung ist, und dass es hier vielleicht einfach keinen Kategorischen Imperativ gibt, den man zur Handlungsgrundlage heranziehen könnte.

Umso bedauerlicher, dass 24 WOCHEN in deutschen Kinos, wie so viele solcher Filme, kaum zu sehen war.
© Zero One Film

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