18.03.15

Still Alice (USA/FR 2014)

Guten Morgen. Es ist eine Ehre, heute vor Ihnen zu sprechen. Die Dichterin Elizabeth Bishop schrieb einst: "Die Kunst des Verlierens ist nicht schwer zu beherrschen, denn es scheint, dass soviele Dinge dazu bestimmt sind verloren zu gehen, dass ihr Verlust wahrlich keine Katastrophe ist." Ich bin keine Dichterin, ich bin nur ein Mensch, der an früh einsetzendem Alzheimer erkrankt ist, und als dieser Mensch lerne ich die Kunst des Verlierens jeden Tag. Ich verliere meine Orientierung, ich verliere Gegenstände, ich verliere Schlaf. Aber vor allem verliere ich meine Erinnerungen ...
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Biancas Blick:

Wie nähert man sich einem Thema, dass noch immer als Tabu gilt? Einer Krankheit, die, wie der Film STILL ALICE deutlich macht, mehr Angst unter den Menschen verbreitet als Krebs?

STILL ALICE erzählt von Alice Howland, einer erfolgreichen Linguistik-Professorin, die sich besonders mit dem Spracherwerb von Kindern beschäftigt. Kurz nach ihrem 50. Geburtstag erfährt sie, dass sie an einer familiären Form der Alzheimer erkrankt ist, einer Form, die sie mit großer Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weitergegeben hat.
Der Film beschäftigt sich mit den vielfältigen Dimensionen der Angst, Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, mit denen ihr Ehemann, ihre drei erwachsenen Kinder, ihre Arbeitskollegen und Studenten, sowie Alice selbst dieser Krankheit begegnen.

Berührend, bewegend, teilhabend

Kurz nachdem sich Til Schweiger mit HONIG IM KOPF massentauglich und familienfreundlich, und überaus erfolgreich, dem Thema genähert hat, kommt das deutlich tiefschürfendere Werk des Regie-Duos Richard Glatzer und Wash Westmoreland in die Kinos. In ihrem französisch-amerikanischen Drama STILL ALICE begegnen sie dem Thema Alzheimer auf eine sehr vielschichtige Art und Weise. Hier gilt vor allem, dass die Krankheit in ihrer ganzen dramatischen, hoffnungslosen Art gezeigt wird, statt als Unterhaltungsfilm fürs Wochenende. Humor findet sich, wenn überhaupt, nur sehr fein gestreut und zwar ausschließlich, wenn Alice selbst sich über ihren Abstieg lustig macht, statt in von außen beobachtbaren Szenen. In STILL ALICE lacht man immer mit der Erkrankten, niemals über sie – ein wichtiger Unterschied zu Schweigers Herangehensweise.

STILL ALICE nimmt all seine Figuren ernst, jederzeit, macht sie greif- und nachvollziehbar und erzählt den Krankheitsverlauf stets aus ihrer Perspektive.
Der Film basiert auf der Romanvorlage von Lisa Genova. Genova selbst hat keine Erfahrungen mit dieser Erkrankung, sondern recherchiert in Rehabilitationseinrichtungen, Heimen und Krankenhäusern. Sie schließt ihr Studium in Neurowissenschaften und Biopsychologie am Bates College und in Harvard mit summa cum laude ab und lehrt Neuroanatomie in Harvard.
Die medizinischen Grundlagen für das Verfassen dieses doch vielschichtigen Romans sind gelegt.

Ihre Debüt-Novelle STILL ALICE landet 2009 auf den Bestsellerlisten Amerikas, sie wird über 2 Millionen Mal verkauft, in 31 Sprachen übersetzt und gerät somit schnell ins Visier für eine Verfilmung des sensiblen Stoffes.
Regisseur Richard Glatzer und Wash Westmoreland lernen sich 2001 beim Dreh des Films FLUFFER kennen und lieben. Seitdem kreieren sie gemeinsam Drehbücher, Drehbuchadaptionen und inszenieren Filme wie ECHO PARK.
2011 erhält Richard Glatzer selbst eine dramatische Diagnose: Er erkrankt an einer aggressiven Form von ALS. Ihm rinnt die Zeit davon ... Trotz der schnell fortschreitenden Erkrankung arbeitet Glatzer mit aller Konzentration an seinen letzten beiden Filmen, THE LAST OF ROBIN HOOD und STILL ALICE. Zum Schluss kann er selbst sich nur noch mittels Gestik und eingeschränkter Mimik mitteilen, die Fähigkeit zu Sprechen besitzt er kaum noch. Dennoch besteht er darauf, so lange es möglich ist, an den Filmen teilzuhaben und diese zu entwickeln und fertigzustellen. Und er schafft es!

Den Abschluss von STILL ALICE erlebt Glatzer noch, die Premiere nicht mehr: Kurz vorher erliegt er seiner schweren Erkrankung und stirbt mit nur 63 Jahren.
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Dieses Hintergrundwissen macht den Film STILL ALICE noch berührender, besonders in seinen sprachlosen Momenten, der Konfrontation mit der Erkrankung und dem Umgang  damit.
Erfrischend ist, dass der Film nichts und niemanden verurteilt, in keinem Moment. Es kommt zu keiner Zeit zu irgendeiner Anklage. Er folgt, beinahe neutral, ähnlich einer Dokumentation, seiner Protagonistin, ihrer Hilflosigkeit und ihrem Hunger nach Normalität im Angesicht ihrer Erkrankung.

STILL ALICE umgeht den Fehler, zu detailliert den Verfall zu schildern, dem die an Alzheimer erkrankte Alice entgegengeht. Vieles wird angedeutet, das wenigste aber explizit gezeigt oder erläutert. Man erlebt einfach mit: die äußerliche Verwahrlosung, der leere Blick, der Verlust der Sprache und des Sprachverständnisses, die Unfähigkeit, sich zurechtzufinden in einer stetig weiter davonschwindenden Welt.
Demgegenüber stehen die Blicke der Familie, die nur nach und nach versteht, was diese Krankheit für ihre Matriarchin bedeutet und welche Folgen sie hat.

Julianne Moore gelingt mit ihrer Darstellung der Alice ein Meisterwerk der Schauspielkunst. Ihre Wandlung vom lebenslustigen, selbstbewussten, intellektuellen Menschen zur nahezu leeren Hülle ist meisterhaft. Nur mit Blicken lässt sie uns an ihrem Innenleben teilhaben. Meist bleibt sie ruhig, nur selten wird sie laut oder verzweifelt, während sie uns die Veränderungen, die diese Krankheit mit sich bringt zeigt, und, vor allem, nachempfinden lässt. Julianne Moore, die so unprätentiös ist wie nur wenige ihrer Kolleginnen (zuletzt etwa in MAPS TO THE STARS) spielt auch die für Alice erniedrigenden Szenen voller Würde, so dass sie emotional umso mehr treffen.

Der Film erreicht seine verletzlichsten Momente in stillen Szenen, ohne große Effekthascherei, durch seine Alltäglichkeit. Selbst wenn zwei, drei gezielt auf Emotionalität angelegte Szenen darunter sind (etwa Alices Rede auf dem Alzheimer-Kongress), wirken diese. Noch schmerzlicher sind dennoch die stillen Szenen des Verfalls, die unerwartet in die Handlung eingeflochten werden.

Julianne Moore wird für ihre Darstellung zu Recht mit Preisen überschüttet und nimmt jeden großen Schauspielerpreis der Saison mit. Zuletzt erhält sie, längst überfällig, den Oscar.

Von einer, die auszog, um Schauspielerin zu werden...

STILL ALICE bietet noch eine lobenswerte Eigenheit: Eine faszinierende, smarte, herausfordernde Rolle für eine Frau über Vierzig! Dass diese meist an dieselben Stars gehen, ist einerseits ärgerlich, auf der anderen Seite beweist es eben auch, dass Julianne Moore schlicht eine der Besten ihrer Zunft ist.
Vermutlich ist das mit purer Leidenschaft zu erklären. Denn Julianne Moore will immer nur eins: Schauspielerin werden!

Nach ihrem Abschluss an der Boston University geht sie 1983 nach New York und macht sich einen Namen in diversen Off-Broadway-Stücken.
Wie bei vielen Kollegen beginnt sie ihre große Karriere beim Fernsehen, wo sie in Serien und anderen Produktionen auftritt. Für ihre Rolle als Frannie in der Seifenoper AS THE WORLD TURNS, in der sie einige Male auftaucht, wird sie mit dem Emmy ausgezeichnet.
Ihre Filmkarriere verläuft eher schleppend. Sie erhält höchstens kleine Rollen, wie in DIE HAND AN DER WIEGE, EXTREM – MIT ALLEN MITTELN, AUF DER FLUCHT, BODY OF EVIDENCE, THE BIG LEBOWSKI oder BENNY UND JOON.
Erst Paul Thomas Anderson erkennt Moores Potenzial und besetzt sie in BOOGIE NIGHTS (Oscarnominierung Nr. 1!) und MAGNOLIA. Für beide Rollen wird Moore zurecht mit Preisen überschüttet.
Trotz schlechterer Filmrollen in NEUN MONATE, PSYCHO oder auch JURASSIC PARK – VERGESSENE WELT, holt sie stets das Maximum aus ihren Figuren und schafft immer wieder brillante Auftritte wie in DAS ENDE EINER AFFÄRE (Oscarnominierung Nr. 2), DEM HIMMEL SO FERN, THE HOURS (sie wird 2003 für beide Filme für einen Oscar nominiert, also Nr. 3 und 4, sowohl als Beste Haupt- wie auch Nebendarstellerin!).
Mit MAPS TO THE STARS zeigt sie 2014, wie herrlich unprätentiös sie spielen kann und entgeht nur knapp einer weiteren Oscarnominierung, die sie im gleichen Jahr jedoch für STILL ALICE erhält.
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Julianne Moore spielt bis heute jedes Genre: Action (NON-STOP), Horror (CARRIE), Drama, Mainstream sowie hochwertige Independent-Produktionen – und sie ist immer gut, versucht stets, alles aus ihren Rollen herauszuholen.
Nur aus einem einzigen Film lässt sie ihre Szenen herausstreichen: Denn auch Julianne Moore ist, aus welchem Grund auch immer, Teil des Ensembles des desaströsen MOVIE 43! (Kate Winslet, Hugh Jackman und etlichen anderen Stars bleibt dieses Glück leider versagt...).

Mit STILL ALICE krönt sie nach fünf Nominierungen ihre Karriere mit dem Oscar!

Sie selbst sagt über ihre Schauspielerei:
„Die Leute meinen immer zu mir: ‚Du bist so wagemutig.‘ Aber in der Schauspielerei fürchte ich mich vor nichts. Ich finde es einfach faszinierend, mich mit den Spielarten des menschlichen Verhaltens auseinanderzusetzen. Wir haben immer so eingefahrene Vorstellungen von Normalität. Aber es gibt Verhaltensweisen, die du dir in deinen verrücktesten Träumen nicht ausmalst, und die möchte ich erforschen. Deshalb finde ich auch psychologische Dramen viel interessanter als eine Geschichte über eine Expedition zum Nordpol. Es reicht schon, wenn jemand die Straße überquert.

Alzheimer im Film

Die Alzheimer-Krankheit wurde schon oft Teil oder auch Schwerpunkt eines Films. Manchmal dient sie auch nur als Hintergrundmotivation für wissenschaftliches Arbeiten, etwa im Actionstreifen DEEP BLUE SEA.
Doch welche Alzheimer-Filme haben die Menschen bis heute am meisten bewegt und warum?

Okay, Nicholas Sparks ist nicht Jedermanns Sache. Dennoch ist WIE EIN EINZIGER TAG einer der erfolgreichsten Filme 2004 und macht den Zerfall durch die Erkrankung eben deshalb so fassbar, weil er sich sehr viel Zeit nimmt, die Liebe der beiden Protagonisten zu schildern. Genau das macht die Trauer um das Vergessen derselben so schmerzvoll.

IRIS mit einer herausragenden Judi Dench, sowie einer wie immer famos aufspielenden Kate Winslet zeigt den geistigen Zerfall einer Schriftstellerin. Hier wird der Absturz so drastisch, weil es nicht nur um das Vergessen einer Liebe, sondern auch – wie bei STILL ALICE – um den geistigen Verfall hochgebildeter Wissenschaftler oder Sprachjongleure geht.

Die wunderbare Julie Christie spielt in AN IHRER SEITE eine an Alzheimer erkrankte Frau, die durch ihre Selbsteinweisung ins Heim erstmalig dreißig Tage lang von ihrer großen Liebe, ihrem Ehemann, getrennt ist. Es ist nicht nur eine Zeit der Selbstfindung, sondern auch des Selbstvergessens. Es ist eine ganz andere Herangehensweise an eine Beziehung, die durch diese Erkrankung zerrissen und neu gestrickt wird.
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In SMALL WORLD geht es nicht nur um den geistigen Zerfall des Protagonisten, sondern zugleich um die Aufdeckung eines Familiengeheimnisses. Gerard Depardieu spielt hier eine seiner letzten guten Rollen und macht den Zerfall des Erkrankten und die Verständnislosigkeit der Mitmenschen schmerzvoll greifbar. (Auch wenn der Film durch seine Umorientierung nicht die dramatische Wucht des Romans erreicht.)

Mit MR. HOLMES steht dieses Jahr ein weiterer, auf der diesjährigen Berlinale hochgejubelter Film über Alzheimer auf dem Programm, der ebenfalls eine spannende Perspektive bietet: er behandelt den berühmten Meisterdetektiv Sherlock Holmes, der sich längst auf seinen Altersruhesitz zurückgezogen hat und seinen Lebensabend in Ruhe verleben will. Ganz langsam merkt er, dass er vergesslich wird, mehr und mehr. Bald kann er sich nicht mal mehr an seine spektakulärsten Fälle erinnern. Ian McKellen soll eine hervorragende Leistung abliefern, ebenso wie die gesamte Filmkonzeption!

Was bleibt?

Wir sind uns der Ironie bewusst, wenn wir sagen: STILL ALICE ist ein Film, der im Gedächtnis bleibt. Der noch nach dem Kinobesuch lange nachwirkt. Der das Gefühl der Hilflosigkeit, der Verzweiflung, des Freien Falls, perfekt auf den Zuschauer überträgt. Es ist ein kleiner Film, ein stiller Film, kein flammendes Drama wie die meisten Alzheimerfilme, kein Film, der auf die Knie geht und die Faust gegen den Himmel schüttelt um das Schicksal zu verfluchen.


Stattdessen erzählt er von den Menschen, die erkranken, davon, wer sie waren, davon, wer sie werden, und von dem, wer wir bleiben, wenn uns die Erinnerung verlässt. Auf seine Art fragt er uns alle: Sind wir noch, wer wir sind, wenn nur noch unsere Lieben sich an uns erinnern? 

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