01.07.22

Porträt: Tom Cruise – Der Preis der Furchtlosigkeit

Heute wird Tom Cruise oft als der letzte große Filmstar bezeichnet; die letzte Hollywood-Ikone. Und ja, er ist einer der letzten großen Stars, die schon in den Neunzigern allein mit ihrem Namen die Massen in die Kinos zogen, und das heute noch tun, die ihre Karriere aufbauten und die Spitze erklommen, und dort heute noch stehen. Und niemand steht länger – oder höher – an der Spitze als Tom Cruise, eine Legende unter den Kollegen, ein Garant für Kinoknüller, und doch auch immer wieder Zankapfel unter den Fans. Kaum ein Star polarisiert so stark wie Tom Cruise. Kaum jemand kommt ohne ein „aber“ aus, um Cruise zu beschreiben: „Ich mag ihn ja gerne, aber …“ Oder: „Ich mag ihn zwar nicht, aber …“

Und ja, es ist schwer, Tom Cruise gegenüber keine ambivalenten Gefühle zu haben.  Cruise ist überzeugter Scientologe und eckt immer wieder mit einer seltsam unnahbaren und zugleich hemmungslosen Art an.

Und doch legt Cruise eine Karriere hin, die ihresgleichen sucht – durch harte Arbeit, Begeisterung und eine Furchtlosigkeit, wie sie kein anderer Hollywood-Star mitbringt.

Quelle: DVD "Phantom Protokoll" © Paramount Home Entertainment

Marcos Blick:

Ein Porträt, zumindest wenn ich daran sitze, erfüllt eigentlich immer den Zweck, etwas über den Menschen zu erzählen, der hinter dem großen Namen steckt. Das kann, wie etwa bei Peter Sellers, durchaus zu der Erkenntnis führen, dass es gar keinen festen Menschen hinter dem Namen gibt.
Doch kaum ein Star macht es einem so schwer wie Tom Cruise, dessen hervorstechendste Eigenschaft darin besteht, komplett in einem Nebel aus Mythos, Gerüchten, Schein und Wirklichkeit zu verschwinden.

Tom Cruise gelingt das Kunststück, Dauergast in der Boulevardpresse zu sein, und sein Privatleben doch fast komplett aus der Öffentlichkeit zu halten. Nahezu alles, was man wirklich über ihn weiß ist das, was man aus seinen Filmen und seiner Arbeit über ihn erfährt. Und das bisschen, was er – vor allem in jungen Jahren – in Interviews von sich erzählt. Die biografischen Details sind daher schnell geklärt.

STETIGER WECHSEL


Thomas Cruise Mapother IV wird am 3. Juli 1962 in Syracuse, New York geboren. Er hat drei Schwestern, mit denen er engen Kontakt pflegt. Als er zwölf ist, trennt seine Mutter sich von seinem Vater, der sich daraufhin nie wieder meldet. Schon vorher ist die Familie oft umgezogen und Cruise besucht in seiner Schulzeit bis zu 15 Schulen. Cruise, seine Schwestern und Mutter leben fast mittellos und sind streng katholisch, und Cruise findet schon früh zum Glauben.
Mit 14 tritt er in ein Priesterseminar ein – nach eigener Aussage gar nicht, weil er Priester werden will, sondern weil es ihn reizt, in einem Internat zu leben, einem steten Wohnsitz.

Nach einem Jahr fliegt er, vermutlich wegen Alkohol, von der Schule. Er beginnt, sich für Sport an der Highschool zu interessieren, spielt Football und tritt dem Ringerteam bei, bis eine Verletzung auch diesen Pfad beschneidet. Andere Quellen berichten auch hier davon, dass er wegen Alkohol aus der Footballmannschaft geflogen sei.

Quelle: DVD "Lockere Geschäfte" © Warner Home Video

So oder so: In seinem letzten Schuljahr entdeckt Cruise das Schauspiel für sich und tritt der Theatergruppe seiner Highschool bei, wo er in „Guys and Dolls“ einen ersten Auftritt absolviert. Der Funke springt über.
Nach der Highschool versucht er, in New York als Theaterschauspieler Fuß zu fassen, schafft es aber nur zum Kellnerjob, woraufhin er die Küste wechselt, nach LA zieht und sich dort bemüht, Fernsehrollen zu ergattern. Die bekommt er zwar nicht (bis heute hat Cruise keine einzige Fernsehrolle gespielt!), dafür nimmt ihn aber Paula Wagner, eine ehemalige Theaterschauspielerin, die jetzt als Agentin arbeitet, für die renommierte Agentur CAA unter Vertrag.

Und es dauert nicht lang, bis Cruise voll aufdreht.

NUR KURZ EIN AUẞENSEITER


Vier Nebenrollen in zwei Jahren – mehr braucht Cruise nicht, um seine erste Hauptrolle zu ergattern, und sich damit direkt nach ganz oben in den Hollywood-Himmel zu schießen.

Einen ersten Geschmack liefert er 1981 mit achtzehn Jahren bei einem Kurzauftritt in der etwas spröden Romanze ENDLOSE LIEBE von Franco Zefirelli (der sich auf spröde Romanzen spezialisiert hat und fast nur Stoffe von Shakespeare, Opern oder viktorianische Liebesgeschichten inszeniert), wo er direkt blankziehen darf, um in knappesten Jeansshorts seine äußerlichen Qualitäten zur Schau zu stellen.

Quelle: DVD "Endlose Liebe" © Universal Pictures Germany GmbH

Noch im selben Jahr kann er in DIE KADETTEN VON BUNKER HILL ein bisschen mehr Qualität zeigen, noch dazu an der Seite von Timothy Hutton, der gerade erst den Oscar für seine Nebenrolle in Robert Redfords EINE GANZ NORMALE FAMILIE gewonnen hat, und 1981 einer der heißesten Jungschauspieler Hollywoods ist. Schon alleine das sorgt dafür, dass DIE KADETTEN VON BUNKER HILL außerordentlich erfolgreich wird, und Cruise hat (nachdem er den Machern so gut gefällt, dass sie seine Rolle ausbauen) ausreichend Screentime, um einen Eindruck zu hinterlassen. (Der Film bringt noch eine ganze Menge späterer (vor allem Fernseh-)Stars mit, darunter Sean Penn, Giancarlo Esposito, Evan Handler und Earl Hindman, den man hier mal ohne Gartenzaun vor dem Gesicht bestaunen darf.)

Seine dritte Nebenrolle gerät eher zur Pflicht als zur Kür: Anfang der 80er, im Fahrwasser von Kulterfolgen wie ICH GLAUB, MICH TRITT EIN PFERD oder PORKY'S, sind Komödien über junge Collegestudenten, die es mit Alkohol, Partys und Mädchen möglichst wild treiben, das damalige Pendant zu heutigen Superheldenfilmen, und auch Cruise kommt nicht an einer College-Komödie vorbei: DIE AUFREIẞER VON DER HIGHSCHOOL ist kein Film, den man gesehen haben muss, wenn man kein Komplettist ist, und trotzdem festigt er Cruises Namen bei der Zuschauerschaft, die ihn groß machen wird: junge Amerikaner, die möglichst hip und cool werden wollen, und diese Sehnsucht genüßlich auf Cruise projizieren.

1983 schließlich wird das Tom-Cruise-Jahr. Denn als Cruise 1983 schließlich in DIE OUTSIDER auftritt, ist er schon ein bekannter Name.
Und auch wenn DIE OUTSIDER – seinerzeit ein echter Kulthit und der erste große Streifen, der das „Brat Pack“ ins Rampenlicht rückt – ganz andere Namen groß macht als Cruise, ist der Film dennoch bedeutsam. Zum einen darf Cruise mit Emilio Estevez spielen, einem guten Freund aus seiner Highschoolzeit, mit dem er zwar mehr richtig zusammenarbeiten wird (zwei  spätere Cameos ausgenommen), dem er aber trotzdem immer eng verbunden bleibt.

Quelle: DVD "Die Outsider" © Studiocanal / Arthaus

Zum anderen zeigt Cruise hier bereits, was er für eine Filmrolle zu bringen bereit ist. So lässt er sich einen Zahnersatz entfernen, was zu seinem schrägen Schneidezahn führt, den er hier präsentiert, und er macht erstmals seine Stunts selbst. So auch die Saltos (vorwärts und rückwärts) von Autohecks.
Rob Lowe erinnert sich in einem Interview später, dass Coppola wollte, dass die Schauspieler Rückwärtssaltos lernen, dass Cruise aber der Einzige war, dem das gelang. „Es ist scheiße schwer zu lernen, und Tom war gnadenlos ehrgeizig. Am Ende konnte er als Einziger diese Rückwärtssaltos. Das ist total grundlos im Film. Er kommt aus dem Haus gelaufen und macht ohne jeden Grund einen Rückwärtssalto, einfach weil er es konnte.“

Schon damals fällt Cruise mit seinem unbedingten Willen auf, und seiner festen Überzeugung, ein Filmstar zu werden, denn Lowe erzählt noch mehr: „Es war das erste Mal, dass ich je im Plaza Hotel übernachtet habe. Wir checken ein und Tom findet raus, dass wir uns ein Zimmer teilen, und er rastet völlig aus. Was ich an der Geschichte so großartig finde ist, dass es manchmal Leute gibt, die schon immer so waren, wie sie sind, und dass diese Art sie dorthin gebracht hat, wo sie heute sind. Und die Vorstellung, dass ein 18-jähriger Schauspieler, der eine Winzrolle in ENDLOSE LIEBE hatte und so was wie die siebte Nebenrolle in DIE KADETTEN VON BUNKER HILL, mit dieser Attitüde herumläuft … Ich weiß noch, dass ich mir dachte: 'Wow, der Kerl meint es wirklich ernst.'“

Und Cruise meint es wirklich ernst: DIE OUTSIDER von 1983 wird die letzte Nebenrolle sein, die Cruise in den nächsten 16 Jahren spielt. (Und bis heute werden insgesamt nur noch drei Nebenrollen folgen.)

LOCKER IN DEN HIMMEL UND ZURÜCK


Denn ebenfalls 1983 gelingt Cruise mit einem bis heute an Kult kaum zu übertreffenden Auftritt der absolute Durchbruch: In LOCKERE GESCHÄFTE spielt er den Sohn reicher Eltern, der eine wilde Nacht voller Abenteuer durchlebt, und dabei einiges vorwegnimmt, was später in FERRIS MACHT BLAU deutlich jugendfreier wieder aufgenommen werden wird.
Neben der Sexszene mit Rebecca de Mornay ist es vor allem die Tanzszene zu Bob Segers Old time Rock and Roll, die das Publikum begeistert und bis heute überdauert.Warum ausgerechnet dieser Film Cruises Karriere begründet, ist Bestandteil zahlreicher Spekulationen. Wahrscheinlich ist aber, dass es etwas mit dem politischen Zeitgeist zu tun hat.

Quelle: DVD "Lockere Geschäfte" © Warner Home Video

1981 wird der erzkonservative Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt und beginnt, das Land mit aller Macht zurück in die 1950er zu führen. Viele liebgewonnene liberale Freiheiten der 70er werden zurückgerufen oder eingestampft. Damit ist es vor allem die junge Generation der Teenager und Twentysomethings, die sich nach Idolen sehnen, die Jugendlichkeit, Aufgeschlossenheit und Zukunftsgewandheit verkörpern – und all das bietet Tom Cruise als Joel in LOCKERE GESCHÄFTE: Joel ist vermögend, er ist hemmungslos, er ist selbstbewusst, er lässt sich von den Erwachsenen nichts sagen, er hat Erfolg bei einer wunderschönen Frau. Kurz: Tom Cruise verkörpert all das, wonach das junge Amerika unter Reagans Rückwärtsgewandheit sich sehnt.

Dabei ist es gerade die völlig hemmungslose Tanzszene, die Kultstatus erreicht, und vermutlich auch Cruise direkt zu seinem ersten Starruhm verhilft. (Ironischerweise wird Cruise seine Karriere nicht nur mit einer Tanzszene begründen, sondern später auch wieder neu beleben.)

LOCKERE GESCHÄFTE wird der achterfolgreichste Film des Jahres und macht Cruise zum Star einer ganzen Generation.
Ab sofort findet sich der Einundzwanzigjährige auf Postern in zahllosen Teenagerzimmern wieder, ziert Titelblätter und tritt in Talkshows auf.

Und er zeigt, wie überlegt er (und seine Agentin Paula Wagner) vorgehen, denn auch wenn sie gewillt sind, Cruises Status als Teenyidol auszukosten, wollen sie ihn nicht in eine Rollenschublade stecken. So spielt Cruise zwar – noch immer 1983 – in DER RICHTIGE DREH noch einen Highschool-Footballer (und obwohl man Cruise immer wieder mit seiner Sportlichkeit in Verbindung bringt, bleibt es bis heute seine einzige große Rolle als Sportler), doch schon 1985 wechselt er komplett das Genre und spielt unter der Regie von Ridley Scott in LEGENDE die Hauptrolle in einem Fantasyfilm! (Auch das bis heute ein Unikum.)

Quelle: DVD "Legende" © 20th Century Fox

1986 schließlich erobert er nicht nur die amerikanischen Herzen, sondern wird weltweit zum Superstar, und zwar in der Rolle, die ihn wie keine andere definieren soll: Der draufgängerische Ausnahme-Pilot Pete „Maverick“ Mitchell in TOP GUN schießt Cruise mit dem Nachbrenner an die Spitze Hollywoods.
Auch wenn TOP GUN nüchtern betrachtet kein guter Film ist, ist er einer der wichtigsten in Cruises Karriere – nicht nur, weil er der erfolgreichste Film 1986 wird (insgesamt drei Mal wird Cruise bis heute den erfolgreichsten Film des Jahres anführen, und allein zwischen 1986 und 2005 acht Filme in die Top Fünf bringen) und Cruise, gerade mal fünf Jahre nach seinen ersten Leinwandauftritten, zum Star macht, sondern weil er den Schauspieler Cruise definiert.

Im Grunde hat Cruise, als 1985 die Vorbereitungen zu TOP GUN beginnen, noch keinen übertrieben hohen Status: eine Handvoll Achtungserfolge und den Status als Teenyidol, mehr kann Cruise nicht aufweisen. Und doch bringt er das von Rob Lowe schon vor Jahren beobachtete Selbstverständnis mit, ein Superstar zu werden.
Aus diesem Selbstbewusstsein heraus verlangt Cruise ein Mitspracherecht am Skript von TOP GUN – und erhält es auch. Cruise verschreibt sich mit Leib und Seele der Rolle des Kampfpiloten, so wie er es immer schon getan hat, doch erst unter den extremen Bedingungen, unter denen TOP GUN gedreht wird, wird diese Gewohnheit auch beim Publikum bekannt – und fortan Cruises Markenzeichen.

Quelle: DVD "Top Gun" © Paramount Pictures (Universal Pictures)
Niemand, so erfährt es jetzt die Welt, arbeitet härter und entschlossener an seinen Filmen als Tom Cruise! Niemand gibt mehr für seine Rollen und das Ergebnis! Abseits aller Method-Acting-Debatten gilt Cruise als der Schauspieler, der ganz und gar in seine Filme eintaucht und sich jede Eigenschaft seiner Figuren zu eigen macht.

Auch Val Kilmer erinnert sich: „Wir anderen hatten immer Spaß, sind was trinken gegangen, haben uns eine gute Zeit gemacht. Tom ist nie mitgekommen, er war wie ein Laser auf das eine Ziel fokussiert, das ihn antrieb: Der größte Actionstar der Welt zu werden.“
Mit TOP GUN ist Cruise am Ziel. Er ist ein weltweiter Star, noch dazu einer, dem man kreativen Einfluss erlaubt.
Schon für TOP GUN bekam Cruise zwei Millionen Dollar Gage, fast dreizehn Prozent des gesamten Budgets von 15 Millionen.
Der enorme Erfolg des Streifens erhöht seinen Marktwert beträchtlich, und so bietet ihm Paramount bereits 5 Millionen für eine Fortsetzung.
Doch Cruise lehnt ab.
Jetzt, wo er sein Ziel erreicht hat, ein Star zu werden, scheint er sich direkt das nächste zu setzen: Er will ein richtig guter Schauspieler werden.


EINE FRAGE DER LEHRE


Tom Cruise war nie auf einer Schauspielschule, sondern hat sich auch hier alles selbst erarbeitet oder, was wahrscheinlicher ist, viel aus sich selbst herausgeholt. Doch jetzt will der Posterboy, der All-American-Dream, nicht länger nur erfolgreich sein, sondern auch respektiert.
Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Dieses Ziel zu erreichen wird deutlich schwieriger werden als der reine Erfolg. Und nicht wenige Kritiker würden sagen, dass es ihm bis heute nicht gelungen ist.

Doch Cruise zeigt keine Furcht. Statt sich für ein Vermögen erneut als Top-Star eines Films an den Steuerknüppel zu setzen, geht Cruise einen anderen Weg, und tritt einen Schritt zurück. Er unterschreibt für Martin Scorseses DIE FARBE DES GELDES, einer Fortsetzung von HAIE DER GROẞSTADT, und tauscht seine Hauptrolle im Rampenlicht für eine zweite Hauptrolle im Schatten einer Legende: Paul Newman.

Quelle: DVD "Die Farbe des Geldes" © Walt Disney

Auch wenn der Film (hervorragend fotografiert von Michael Ballhaus) heute eher als Newman-Film gewertet wird, und Cruise seltener damit in Verbindung gebracht wird, hat er eine enorme Wirkung auf Cruises Karriere. Schon während der Dreharbeiten nimmt der Altstar den jungen Schauspieler unter seine Fittiche – eine Freundschaft, die auch nach den Dreharbeiten Bestand hat, zumindest ist Cruise öfter bei Newman zu Besuch. Und Cruise lernt von seinem Kollegen nicht nur etwas über das Handwerk, sondern auch ein soziales Gewissen. Newman ist nicht nur für sein soziales Engagement bekannt, sondern auch politisch klar liberal eingestellt. Er macht Cruise klar, welche Wirkung ein eher konservativ und nationalistisch ausgerichteter Film wie TOP GUN hat – eine Lektion, die Cruise noch lange beschäftigen wird.

Obwohl Cruise, viel von Newman lernt, scheint er noch immer nicht genug zu haben. Nachdem er mit COCKTAIL seinen vielleicht schlechtesten Film überhaupt hinlegt (selbst Cruise bezeichnet den Film als: „Nicht mein Kronjuwel“), und einen kurzen, nicht im Abspann aufgeführten Cameo-Auftritt in YOUNG GUNS absolviert (er hat seinen Freund Estevez am Set besucht, und da er noch nie in einem Western mitgespielt hat, nutzt er die Gelegenheit, sich im finalen Feuergefecht erschießen zu lassen), lässt er sich direkt vom nächsten Charakterstar protegieren.

Denn obwohl Cruise offiziell der Star und die Hauptrolle in RAIN MAN ist, erregt der Film vor allem wegen Dustin Hoffmans Darstellung eines Autisten Aufmerksamkeit. Unabhängig von der Frage, ob die Darstellung einer Autismusspektrumsstörung nach heutigen Maßstäben angemessen ist oder nicht: Cruise arbeitet hier eng mit einem der bekanntesten und erfolgreichsten Method Actor seiner Zeit zusammen, der seine vermutlich schwerste Rolle überhaupt meistert. Und Cruise guckt sich vom Meister eine Menge ab.

Quelle: DVD "Rain Man" © MGM

(Tatsächlich ist Hoffman, der ursprünglich Charlie Babbitt spielen soll, und erst Interesse an Raymond zeigt, als er den Savant Leslie Lemke sieht, alles andere als begeistert von sich, und versucht wenige Wochen nach Drehbeginn verzweifelt, auszusteigen. Er schlägt Regisseur Barry Levinson sogar vor, ihm als Ersatz Richard Dreyfuss zu besorgen, weil er überzeugt ist, die schlechteste Leistung seiner Karriere abzuliefern.)

Was bei der ganzen Sache so erstaunlich ist: So furchtlos wie Cruise sich neben Größen wie Newman und Hoffman wagt, so erfolgreich ist er auch, denn es gelingt ihm, sich neben beiden zu behaupten. (Eine Kunst, die andere junge Stars nicht so gut hinbekommen, etwa Keanu Reeves, der in IM AUFTRAG DES TEUFELS neben Al Pacino recht alt aussieht.)

Und spätestens mit RAIN MAN findet er auch erste Anerkennung unter den Kollegen. So sagt etwa Altmeister Michael Caine später, dass Cruises Leistung in RAIN MAN zu einer seiner Lieblingsperfomances aller Zeiten gehört. „Tom hat das wundervoll gemacht. Dustin hatte die Rolle, die alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat“, doch Tom's Rolle erforderte viel Disziplin und die Verantwortung, den Zuschauer zu erklären, wie Raymond die Welt sieht, während er gleichzeitig zeigt, wie schmerzhaft es ist, die Grenzen des eigenen Bruders zu akzeptieren und eine familiäre Bindung zu ihm aufzubauen.

Am Ende wird RAIN MAN, an den beim Dreh niemand so recht glaubt, nicht einmal Cruise und Hoffman, nach einem etwas enttäuschenden Start mit nur 6 Millionen Dollar dank Mundpropaganda ein echter Kassenschlager (ähnlich wie DIRTY DANCING ein Jahr zuvor), zum zweiterfolgreichsten Film des Jahres und Gewinner von vier Oscars. Damit ist Tom Cruise bis heute der einzige Schauspieler, der (1988) im selben Jahr sowohl in einem oscarprämierten als auch einem mit der goldenen Himbeere ausgezeichneten Film mitspielt, denn während RAIN MAN den Oscar für den besten Film des Jahres erhält, verleiht man COCKTAIL die Himbeere für den schlechtesten Film des Jahres.

KLEINER MANN GANZ GROẞ


Man muss bedenken, dass Cruise selbst ebenfalls mit einem Handicap zu kämpfen hat, vor allem in den ersten Jahren seiner Karriere, als er noch gezielt daran arbeitet, zum Star zu werden: Ein Meter siebzig sind im Grunde gar nicht so wenig. Gut, es sind knapp zehn Zentimeter weniger als die Durchschnittsgröße der männlichen Bevölkerung. Aber es ist eben auch nicht winzig.
Und doch kommt man nicht um Tom Cruise herum, ohne über seine Größe zu sprechen, denn Cruise will nun mal Hollywood-Star werden. Und für einen Hollywood-Star sind 1,70 Meter tatsächlich eher klein geraten.

Quelle: DVD "Geboren am 4. Juli" © Universal Pictures Germany GmbH

Schon in der goldenen Ära Hollywoods wurden die männlichen Stars fast schon traditionell nach ihrer Größe ausgesucht. Immerhin mussten sie etwas verkörpern. Und auf der Leinwand mussten sie Präsenz haben. Wucht. Sie mussten buchstäblich „überlebensgroß“ sein – auf jeden Fall größer als die Schurken, die sie besiegten, und natürlich größer als die Frauen, die sie eroberten. Kurz gesagt: Stars waren echte Größen.
Selbst die, die es nicht waren, die schon zu ihren größten Zeiten eher dafür bekannt waren, etwas „klein geraten“ zu sein, wie zum Beispiel Humphrey Bogart oder James Dean, waren mit 1,73 Metern noch immer größer als Tom Cruise.

Rein nach Hollywood-Logik fehlte Cruise also immer schon ein gutes Stück zum echten Filmstar. Zum Film-“Helden“. Cruise, der nie einen Hehl daraus machte, wo er hinwollte – nämlich in die Titelrolle – musste also immer mit Co-Stars arbeiten, die größer waren als er – nicht zuletzt die Frauen, die er erobern durfte. Und wie soll man den Star des Films im Bild behalten, ohne dass man vom Co-Star nur noch die Brust sieht?

Das führte dazu, dass die Filmemacher immer ein bisschen schummeln mussten: Toms Co-Stars mussten in seltsamen Winkeln stehen, oder weiter hinten, durch Gräben laufen oder um Cruise herum, der erhöht stand. Die Liebesszene mit Kelly McGillis in TOP GUN absolviert Cruise in hohen Schuhen, weil seine Partnerin einen guten Kopf größer ist (was auf einem Promofoto des Films zu seltsamen Verrenkungen führt, damit sie etwas kleiner wirkt, während sie sich an ihn schmiegt).

Quelle: DVD "Top Gun" © Paramount Pictures (Universal Pictures)

Es führt auch dazu, dass Cruise, wenn er neben anderen Schauspielern zu sehen ist, meist nur in einer halbtotalen erscheint, ohne Beine also.
RAIN MAN fällt schon deshalb in Cruises Œuvre auf, weil es einer der wenigen Filme ist, in denen man Cruise und seinen Partner immer  wieder mal in einer Totalen sieht, denn Dustin Hoffman ist tatsächlich nochmal drei Zentimeter kleiner als Cruise.

ABER JETZT BEWEIS ICH'S


Vielleicht arbeitet Cruise auch deshalb so hart wie kaum ein anderer für seine Filme und seinen Erfolg. Er hat für TOP GUN Motorradfahren und Fliegen gelernt, für DIE FARBE DES GELDES Trickbillard, für COCKTAIL die akrobatische Form des „Flair Bartending“. Und dank der Erfahrungen mit Newman und Hoffman arbeitet er jetzt nicht weniger hart daran, sein Schauspiel zu verbessern, und er tut, was er immer tut: Er sucht die Herausforderung … und dabei eine Gelegenheit, seinen eher rechtskonservativen Erfolg von TOP GUN auszugleichen.

Gegen jeden Widerstand ergattert er die Rolle des bekannten Antikriegs-Aktivisten Ron Kovic und dreht mit Oliver Stone GEBOREN AM 4. JULI.
Oliver Stone will unbedingt mit Cruise drehen (nachdem er ihn nicht in WALL STREET besetzt hat), doch das Studio sträubt sich, weil sie Cruise eine so schwere Rolle nicht zutrauen.

Quelle: DVD "Geboren am 4. Juli" © Universal Pictures Germany GmbH

Auch hier wieder gibt Cruise alles – er bleibt auch in den Drehpausen im Rollstuhl, und versucht, zusammen mit Oliver Stone, sogar ein Mittel zu finden, das seine Beine temporär lähmen kann, doch die Risiken dafür sind zu hoch.
Auch Ron Kovic ist anfangs zögerlich, lässt sich jedoch schließlich überzeugen.

Und Cruise zeigt, wozu er dank seiner harten Arbeit imstande ist. Er überzeugt Kritiker, Publikum, Studio, Ron Kovic (der Cruise für dessen Leistung seinen eigenen Bronze Star schenkt) und sogar die Kollegen in Hollywood, denn für seine eindringliche Darstellung erhält Cruise tatsächlich eine Oscarnominierung. Der Preis geht zwar an Daniel Day-Lewis, aber Cruise hat auch dieses Ziel erreicht: Er ist nicht länger nur ein Filmstar, sondern hat auch bewiesen, dass spielen kann.

Was folgt, ist eine seltsam schwerelose Zeit, in der Cruise einfach „da“ ist, ohne dass er eine echte Herausforderung erhält. Tatsächlich zeigen sich beim Publikum sogar erste Ermüdungserscheinungen, denn als er 1990 mit TAGE DES DONNERS auf die Leinwand zurückkehrt, murrt Roger Ebert, dass er es leid sei, dass Cruise in seinen Filmen immer dieselbe Formel bediene: Ein junger, talentierter, aber noch ungeschliffener Diamant, kommt in einen etablierten Betrieb, wird von einem älteren Mentor angeleitet und von einer größeren, reiferen, klügeren Frau dazu gebracht, sein Leben zu überdenken und sich am Riemen zu reißen, um so geläutert zu werden. Tatsächlich passt das perfekt zu Cruises größten Hits der letzten Jahre, TOP GUN, DIE FARBE DES GELDES, COCKTAIL und jetzt eben auch TAGE DES DONNERS.


Vielleicht auch deshalb wird TAGE DES DONNERS der letzte Film dieser Art. Mit IN EINEM FERNEN LAND liefert Cruise noch einen weiteren Unterhaltungsfilm ab, bevor er 1992 in EINE FRAGE DER EHRE, einem Ensemblewerk nach dem Theaterstück von Aaron Sorkin, nochmal versucht, eher sein schauspielerisches Talent in den Vordergrund zu rücken.
Wie immer gibt Cruise das Arbeitstier. Regisseur Rob Reiner erinnert sich jedenfalls, dass Cruise nach den Proben, wenn die anderen gegangen sind, oft noch lange am Set bleibt, um an seiner Rolle zu feilen.

Quelle: Blu Ray "Eine Frage der Ehre" © Sony PIctures Home Entertainment

Und auch hier wieder zeigt sich Cruise vollkommen furchtlos und wagt sich in ein direktes Schauspielduell mit einer Legende und: Jack Nicholson gilt zu jener Zeit als einer der besten Schauspieler der Welt (und erzählt immer wieder humorvoll davon, wie ehrfürchtig man ihm am Set begegnet sei), geehrt mit neun Oscarnominierungen, von denen er den Preis zweimal mitnehmen durfte. Und wieder gelingt es Cruise, mit der Legende mitzuhalten. Jack Nichsolson wird der größte Star, gegen den sich Cruise jemals behaupten muss, und er meistert diese Herausforderung mit Bravour. Der Lohn: Das Gerichtsduell der beiden so unterschiedlichen Hollywoodgrößen wird ein sagenhafter Erfolg und geht in die Kinogeschichte ein.

NIEMAND KONNTE MIR WIDERSTEHEN, NICHT EINMAL DU


In DIE FIRMA kehrt Cruise 1993 nochmal in einen Unterhaltungsthriller zurück, bevor er alles auf eine Karte setzt.
In den letzten zwölf Jahren hat Cruise fast alles erreicht: Er ist einer der erfolgreichsten und gewinnträchtigsten Stars Hollywoods, er hat eine Oscarnominierung, er spielt an der Seite von Legenden, hat künstlerischen Einfluss auf die Filme und dreht mit den berühmtesten Regisseuren ihrer Zeit: Sidney Pollack, Rob Reiner, Ron Howard, Oliver Stone, Barry Levinson, Martin Scorsese, Tony Scott, Ridley Scott, Francis Ford Coppola – die Liste liest sich wie das Who is Who der Regiestars (und die richtigen Regielegenden wie Brian de Palma, Michael Mann, Steven Spielberg und Stanley Kubrick kommen erst noch …), und doch hat der ehrgeizige Cruise noch nicht genug – denn noch immer fehlt ihm die Anerkennung, noch immer wird er nicht als Schauspieler wahrgenommen. Also geht er das größte Wagnis seiner Karriere ein, und übernimmt die Rolle, die ihn – buchstäblich – unsterblich machen kann … oder ihn die Karriere kosten.

Als die Öffentlichkeit erfährt, dass Tom Cruise, der Posterboy, berühmt für sein strahlendes Grinsen, seine jugendliche, freche Aura, seine unkontrollierte, energetische Ader, in der Verfilmung von INTERVIEW MIT EINEM VAMPIR an der Seite von Brad Pitt den Vampir Lestat aus Anne Rices überaus erfolgreicher (man denke an Harry Pottersche Ausmaße hier!) Buchreihe „Chronik der Vampire“ spielen soll, geht ein Aufschrei durch die Fangemeinde – nicht zuletzt, weil die streitbare Autorin Rice selbst sich in Fernsehinterviews wenig begeistert zeigt.