10.03.16

Porträt: Lionel Atwill - Kein Dracula, kein Frankenstein

Wer dachte, die Horrorfilme der Dreißiger seien eher betulich gewesen, sollte sich die Genre-Beiträge mit Lionel Atwill dringend einmal anschauen. Wenn er jemanden zum Schweigen bringen wollte, griff er schon einmal zu Nadel und Faden, veredelte seine Mordopfer in heißem Wachs oder führte Experimente an Lebenden durch. Atwill war seiner Zeit voraus und seine Horrorfilme für die Zensur schon bald zu viel des Guten. Hannibal Lecter hätte ihn sicherlich gemocht. Zeit für eine Wiederentdeckung … 
Quelle: DVD "Dr. X" © Warner Brothers (Keine deutsche Heimvideo-Auswertung)
Gastblick von Ansgar Skulme:

Als am 1. Februar 1947 mit SCARED TO DEATH Bela Lugosis erster und einziger Farb-Horrorfilm in die Kinos kam, war Lionel Atwill bereits verstorben. Der Lionel Atwill, der einst ein großer Vorreiter des Genres im Tonfilm gewesen war und bereits 1932 und 1933 mit DER GEHEIMNISVOLLE DR. X und DAS GEHEIMNIS DES WACHSFIGURENKABINETTS zwei absolut richtungsweisende Horrorfilme als Hauptdarsteller abgeliefert hatte – beide im Zwei-Farben-Verfahren von Technicolor. Horror, Ton und Farbe – ein Novum für Hollywood. Der gebürtige Brite Atwill war 1915 in die Vereinigten Staaten gekommen, hatte von Anfang 1917 bis Juni 1931 am Broadway gearbeitet und dort gleich in seinem ersten Stück "The Lodger" ebenso Regie geführt wie auch eine Hauptrolle gespielt. Beiden Sparten blieb er treu. Sein letztes Broadway-Stück war "The Silent Witness", es wurde 1932 gleichzeitig zu seinem ersten Tonfilm.

Lionel Atwill eroberte den Horrorfilm zeitgleich mit Bela Lugosi und Boris Karloff, jedoch auch für große, finanzkräftige Studios, nicht nur für Universal, das damals erst am Anfang seines Ruhmes stand. Doch während Lugosis DRACULA von 1931 und Karloffs FRANKENSTEIN aus dem gleichen Jahr zu ikonischen Figuren wurden, schwieg man Atwill im Lauf der Jahrzehnte mehr oder minder tot.
1953 erschien ein Remake von DAS GEHEIMNIS DES WACHSFIGURENKABINETTS, in der Hauptrolle Vincent Price: DAS KABINETT DES PROFESSOR BONDI, ein 3D-Film. Die Atwill-Version jedoch galt bis Ende der Sechzigerjahre als verschollen. Im Privatarchiv von Jack Warner fand sich schließlich eine Kopie, doch da war Atwill längst aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Obwohl auch der von ihm verkörperte Leiter eines Wachsfigurenkabinetts, in dem durch die Bank mit Wachs überzogene Leichen ausgestellt werden, durchaus ikonisches Potenzial in sich trug, erreichte diese Rolle bei Weitem nicht die Popularität von Dracula oder Frankenstein, auch wenn der HOUSE OF WAX-Stoff grundsätzlich geläufig blieb und 2005 ein weiteres Remake erhielt. 

Gegen alle Klischees - Atwill der Allrounder


Klar ist: Atwill wollte kein Horrorstar sein oder zumindest nicht um des kommerziellen Erfolgs Willen darauf festgelegt werden. Zwar hatte er das Genre 1932/33 mit zutiefst diabolischen Auftritten geradezu erschüttert, wurde als großer Star gefeiert und angekündigt, er entfernte sich aber schnell von diesem Kurs und nahm sich von 1935 bis 1939 sogar eine konsequente Auszeit vom Horror. Erst mit FRANKENSTEINS SOHN, einem der populärsten Universal-Horrorfilme, markierte er 1939 sein Comeback im Genre – zunächst aber in einer recht sympathischen Rolle. Erst ab 1941 kehrte er vermehrt in den Part des Horrorschurken zurück und wurde zu einem prägnanten Gesicht im Rollenprofil des "verrückten Wissenschaftlers". Alles in allem also eine bemerkenswert lange Pause, wenn man bedenkt, dass Atwill zuvor binnen sehr kurzer Zeit eindrucksvoll bewiesen hatte, dass er die komplette Klaviatur des Mystery- und Horrorfilms praktisch im Schlaf beherrschte.
Er funktionierte auf beiden Seiten des Gesetzes, vermochte Rollen sowohl undurchschaubar als auch per se teuflisch oder aber wiederum unzweifelhaft integer zu spielen. Damit war er weit entfernt von Bela Lugosis entlarvendem Overacting – Lugosi merkte man meist ausgesprochen schnell an, ob seiner Figur zu trauen war oder nicht, Atwill hingegen vermochte diese Pointe bis zum Ende eines Films zu verschleppen.
In SON OF FRANKENSTEIN spielen gefühlt die größten Universal-Stars ihrer Zeit mit, und nahezu alle Genre-Kollegen und "Rivalen" Atwills.
Quelle: DVD "The Monster Legacy DVD Collection" © Universal Pictures Germany GmbH
Phänomenal ist sein Auftritt 1933 in THE SPHINX, in dem er einen Taubstummen spielt, der eines Mordes beschuldigt wird, am Tatort gesehen wurde, dort aber gesprochen haben soll: ein Verwirrspiel bis zum Ende. Atwill dominiert diesen Film, auch ohne Worte. MURDERS IN THE ZOO aus dem gleichen Jahr geht einen anderen Weg: Hier ist von Anfang an klar, dass Atwill einen skrupellosen Sadisten verkörpert, und die Spannung des Films zehrt komplett von seiner Unerbittlichkeit und seinem menschenverachtenden Einfallsreichtum, den er sich beim Quälen seiner Opfer zunutze macht. Atwill sieht in dem Film, dem bloßen Erscheinungsbild nach zu urteilen, auf den ersten Blick völlig normal aus, doch aus seinen Worten und Taten spricht ein Wahnsinn, der nur in einem Hollywood vor Einführung des Hays Codes im Jahre 1934 denkbar war. Der von ihm verkörperte Zoo-Direktor will nicht, dass irgendein anderer Mann seiner Frau zu nahe kommt und dafür geht er über Leichen, stellt sich schließlich sogar gegen seine Frau. In diesem Zoo ist Fütterungszeit! 

Atwill entdecken - wo fange ich an?


Wer DAS GEHEIMNIS DES WACHSFIGURENKABINETTS, THE SPHINX und MURDERS IN THE ZOO gesehen hat, bekommt einen treffenden Querschnitt von Lionel Atwills Vermögen als Horrordarsteller vor Augen. DER GEHEIMNISVOLLE DR. X sowie THE SILENT WITNESS, THE VAMPIRE BAT und SECRET OF THE BLUE ROOM sind aber allesamt ebenfalls höchst unterhaltsame Beiträge im Bereich Mystery & Horror, mit einem stets gut aufgelegten Atwill. Diese insgesamt sieben Filme gehörten zu den ersten neun Tonfilmen, die Atwill drehte. Zuvor hatte er bereits einige Stummfilme hinter sich gebracht, die überwiegend allerdings recht kleinen Formats waren, auch wenn er ab 1928 bereits eine Bindung mit Fox Film eingegangen war, die drei stumme Kurzfilme mit ihm produzierten und mit THE SILENT WITNESS wenig später auch seinen ersten Tonfilm. Ab 1934, praktisch mit Einführung des Hays Codes, erweiterte Atwill sein Genre-Portfolio im Film zusehends. Ob in einem von der Zensur fortan stark reglementierten Hollywood für Atwill als Horrordarsteller mitsamt seiner obsessiv-sadistischen Rollen kein Platz mehr war, kann man nur mutmaßen.

Augenscheinlich ist zumindest, dass die meisten, wenn nicht alle, Horrorfilme von Atwill aus den beiden vorausgegangenen Jahren, ab 1934 wahrscheinlich nicht mehr in dieser Form an der Zensur vorbei gekommen wären. Gut möglich, dass Atwill selbst keine Lust auf nichts Halbes und nichts Ganzes hatte und sich deswegen vom Horror entfernte. MGM jedoch wollte nicht auf ihn verzichten, wenn man im Hause Metro-Goldwyn-Mayer nun schon einmal einen Horrorfilm drehte, und verpflichtete Atwill 1935 für DAS ZEICHEN DES VAMPIRS, allerdings keineswegs als Bestie in Menschengestalt, sondern als Ermittler, als stocksteifen, zugeknöpften Beamten von amüsanter Kauzigkeit. Atwill jagte hier zunächst Vampire, er selbst allerdings spielte im Horrorfilm zu keinem Zeitpunkt ein übernatürliches Wesen, keine Kreaturen, keine Vampire, keine Monster.

Er führte eine Art von Realismus in den Horrortonfilm ein, die schockierender war als bloße Fantastereien. Lionel Atwill war, wenn er im Horrorfilm böse war, entweder der Irre von nebenan, ein verrückter Wissenschaftler und/oder ein gieriger Raffzahn – überwiegend Rollen, für die er seine private Kleidung gewissermaßen auch gleich hätte anbehalten können, nachdem er am Set eingetroffen war. Dass seine Figuren in ihrem Irrsinn am Ende mehrfach wirkten, als sei er der geistige Vater von Hannibal Lecter, entwickelte sich allein durch seine schauspielerische Präsenz. Atwill spielte in der Regel keine Merchandise-tauglichen Figuren, die man auch als Spielzeug oder Puppen hätte verkaufen können, von dem einarmigen Inspektor in FRANKENSTEINS SOHN vielleicht einmal abgesehen.
Die Bestie und das Tier. Atwills Spezialität lag darin, Unmenschen ganz ohne Maske spielen zu können. Das ist eindringlich anzuschauen, ließ sich ab 1934 jedoch nur schwer vermarkten. In MURDERS IN THE ZOO spielt er einen besonders perfiden Schurken.
Quelle: DVD "Murders in the Zoo" © Universal Pictures (Keine deutsche Heimvideo-Auswertung)
Dracula, Frankenstein, der Wolfsmensch: sagenumwobene, reißerische, plakative Gestalten. Man erinnert sich an sie – mehr als an Atwill. Die "The Monster Legacy DVD Collection" von Universal enthielt drei Statuen … von Dracula, Frankenstein und dem Wolfsmenschen. Atwill fehlte ebenso wie der Unsichtbare, und wäre Atwill als Statue enthalten gewesen, so hätte diese aussehen müssen wie er selbst, privat – denn genau hinter dieser Fassade verbarg sich der Horror, der bei anderen Figuren offen zur Schau steht. Man sagt ihm folgendes Zitat aus einem Interview nach:
 

"Eine Seite meines Gesichts ist gütig und sanft, unfähig zu irgendetwas anderem als Liebe für meine Mitmenschen. Die andere Seite, das andere Profil, ist grausam, ein Jäger und böse, unfähig zu irgendetwas anderem als Begierden und dunklen Leidenschaften. Alles hängt davon ab, welche Seite meines Gesichts euch zugewandt ist - oder der Kamera. Alles hängt davon ab, welche Seite dem Mond zugewandt ist, wenn die Gezeiten niedrig sind."

Abseits der PR-Phänomene


Der Hype um Lugosi und Karloff liegt allerdings nicht nur an deren populären Figuren, denn Lon Chaney Jr. etwa, Darsteller des kaum minder populären Wolfsmenschen in den Universal-Filmen, ist heute weitaus weniger bekannt, obwohl er sicherlich kein schlechterer Schauspieler als Lugosi war. In dem Ungarn Lugosi und dem angeblichen Ostblock-Phänomen Karloff, dessen Mysterium zunächst zusätzlich verstärkt wurde, da er anfangs seiner Horrorkarriere nicht sprach und somit nicht als Brite erkennbar war, hatte man allerdings zwei publikumswirksame Exoten gefunden, die man immer und immer wieder unter großem Tamtam durch die Manege führen konnte. Gegen diese Form der Legenden- und Mysterienbildung, welche praktisch als Rahmenprogramm zu den Horrorfilmen Lugosis und Karloffs erfolgte, war für Chaney Jr., Atwill oder auch Claude Rains (seines Zeichens 1933 DER UNSICHTBARE) kein Ankommen. Lugosi und Karloff sollten die Top-Stars im Genre werden und wurden nach allen Regeln der Kunst dazu geformt.

Nun gut, dies hatte seine Vor- und Nachteile: Lugosi wurde das Dracula-Image zeit seines Lebens und darüber hinaus nicht mehr los, er kostete es aber in seinen auf DRACULA folgenden Performances auch stets zur Genüge aus. Teilweise wohl gezwungenermaßen, da er schon 1932 so akute Geldprobleme hatte, dass er in ISLAND OF LOST SOULS für eine äußerst geringe Gage mitwirkte, nur um wenigstens über die Runden zu kommen. Auch Karloff, der durchaus – das kann man sagen – ein wandlungsfähigerer Schauspieler als Lugosi war, hatte es schwer, sich nach FRANKENSTEIN und DIE MUMIE vom Image des wortlosen, unmenschlichen Todbringers zu lösen. Während beide bis tief in die Vierzigerjahre hinein somit fast ausschließlich in Horror- und Mystery-Filmen zu sehen waren, blieb Atwill das Schicksal erspart, auf ein reißerisches Image festgenagelt zu werden. Gleichzeitig ist genau das aber sicher auch ein Grund dafür, dass er heute fast vergessen ist.

Ein anderer Grund dürfte sein, dass Atwill ausgerechnet für Universal einfach keine besonders vordergründige Horrorrolle spielte. Von den acht Horror- und Mystery-Filmen, die Atwill von 1932 bis 1935 drehte, war mit SECRET OF THE BLUE ROOM nur ein einziger eine Universal-Produktion; MURDERS IN THE ZOO gehört heute zwar zum Rechtestock von Universal, wurde aber von Paramount produziert. Erst beginnend mit FRANKENSTEINS SOHN wurde Lionel Atwill als Gesicht des Universal-Horrorfilms wirklich etabliert, allerdings trat er in seiner gesamten Karriere trotzdem nur in zwei Universal-Horrorfilmen mit "top billing", also als erstgenannter Darsteller auf: in SECRET OF THE BLUE ROOM und 1941 in MAN MADE MONSTER. (Für die ganz Genauen sei ergänzt: Der Trailer zu THE MAD DOCTOR OF MARKET STREET von 1942 und der Eintrag zum Film in der Internet Movie Database führen ihn zwar an erster Stelle auf, im Vorspann des Films allerdings steht sein Name hinter Una Merkel.)
In den Dreißigern und Vierzigern sind die Verfilmungen der Sherlock-Holmes-Romane mit Basil Rathbone als Holmes und Nigel Bruce als Watson echte Straßenfeger. Vierzehn Mal tritt das Duo gemeinsam auf, in nur sieben Jahren! Erstmals 1939 in DER HUND VON BASKERVILLE, in welchem auch Lionel Atwill als Dr. Mortimer mitspielt.
Quelle: DVD "Die Sherlock Holmes Collection Teil 1" © Koch Media GmbH
Im Rückschluss bedeutet all das sinngemäß: Wenn man eine "Lionel Atwill Box" herausbringen wollte, hätte man erst einmal einen recht umfangreichen Marathon zur Klärung diverser Rechte vor sich, vor allem wenn man Atwills größte Erfolge im Genre unter einen Hut bringen möchte. Eine Lugosi- oder Karloff-Box ist hingegen schnell gemacht, vor allem im Hause Universal. Man dankte ihnen diesen Erfolg zeit ihres Lebens aber nur bedingt – auch Karloff durfte seinen ersten Farbfilm erst über zehn Jahre nach Lionel Atwill drehen: THE CLIMAX von 1944, im Gegensatz zu Lugosi aber immerhin noch für Universal, das im Jahr zuvor auch bereits Claude Rains mit seinem ersten Horrorfilm in Farbe, DAS PHANTOM DER OPER, geadelt hatte, ganze zehn Jahre nach DER UNSICHTBARE.

Ein Opfer der Medien und Gremien


Auch wenn Lionel Atwill zu Beginn seines Filmruhms bereits knapp 50 Jahre alt war, lag es sicher nicht am Alter, dass er mit der Zeit in den Schatten von Lugosi und Karloff verbannt wurde. Er war jünger als Lugosi und nicht einmal drei Jahre älter als Karloff. Man kann sogar behaupten, dass er ab Mitte/Ende der Dreißigerjahre tendenziell bessere Rollen angeboten bekam als Lugosi, der schon vor Atwill in immer kleinere Produktionen und belanglose Rollen abrutschte, die sein Image auswalzten. Trotzdem hielt sich Atwills Ruhm, im Gegensatz zu Lugosis, nur vergleichsweise kurz über seinen Tod hinaus.

Möglicherweise wäre die Historie anders verlaufen, hätte ein Skandal aus den frühen Vierzigern Lionel Atwill nicht einen Dolchstoß versetzt. Manch einer vergleicht sein Schicksal mit Fällen wie Roscoe "Fatty" Arbuckle: Kurz nach Abschluss der Dreharbeiten zu dem von Universal produzierten Sherlock-Holmes-Film DIE GEHEIMWAFFE, in dem er 1942 Holmes‘ Erzfeind Professor Moriarty verkörperte – als erster Universal-Moriarty in der Reihe mit Basil Rathbone als Holmes – wurde er wegen eines Meineids vor Gericht im Oktober 1942 zu einer fünfjährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Es ging um freizügige Partys, die er bei sich daheim veranstaltet hatte. Atwill deckte seine Party-Gäste vor Gericht, gab aber später zu, zunächst gelogen zu haben. Dafür verurteilte man ihn. Er ging jedoch gegen das Urteil vor und wurde nur sieben Monate später gerichtlich entlastet.
Seine Akte war nun wieder sauber, jedoch hatte sein Ruf im Zuge des Prozesses Schaden genommen. Es war die Rede von einer Minderjährigen auf einer seiner Partys und ganz allgemein gehörten derlei Partys nicht an die Öffentlichkeit – auch wenn es in Hollywood jeder wusste, der es wissen wollte, wo solche Partys stattfanden und wer sie veranstaltete.

Viele von Atwills ehemaligen Freunden und Befürwortern wollten daher nichts mehr mit ihm zu tun haben – wer sich mit Atwill sehen ließ, musste fortan Angst vor schlechter PR haben. Manchen war das ein Grund, ihn zu meiden. Somit fand er kaum noch Arbeit. Atwill versuchte sogar, an den Broadway zurückzukehren, doch auch dort stieß er nur auf verschlossene Türen. Universal beschäftigte ihn in kleinen Rollen weiter, ersetzte ihn für DIE FRAU IN GRÜN aber durch Henry Daniell als Professor Moriarty. Vermehrt sah man Lionel Atwill nun im Dienst von kleinen Studios.
Atwills Schurken fackelten nicht lange! Bevor das Hays Office begann, Filme zu kontrollieren, nähte er einem unliebsamen Zeitgenossen schon mal den Mund zu! Das Bild stammt aus keinem Eli-Roth-Film, sondern von 1933!
Quelle: DVD "Murders in the Zoo" © Universal Pictures (Keine deutsche Heimvideo-Auswertung)
Erst hatte das Hays Office 1934 Atwills wagemutigen Horrorfilmen, die ihrer Zeit weit voraus waren, einen Strich durch die Rechnung gemacht, da diese durch den Hays Code in der Form nicht mehr weiter produziert werden konnten, und nun auch ihm selbst – die Arme der Zensurbehörden reichten weit und man meinte, Atwill dem Publikum nicht mehr zumuten zu wollen. Ironie des Schicksals: Gewissermaßen im filmischen Exil, für die Serial-Könige von Republic Pictures, hinterließ Atwill doch noch ein weiteres, kleines Denkmal. 1944 ist er der Gegenspieler von keinem Geringeren als CAPTAIN AMERICA, in dessen fünfzehnteiligem, allererstem Leinwandauftritt, drei Jahre, nachdem die ersten Comics um diesen Superhelden erschienen waren. Damit ist Lionel Atwill aus heutiger Sicht, ob es Hays nun so gewollt hätte oder nicht, nach seiner Verurteilung immerhin noch Teil des zukunftsträchtigen, topaktuellen Marvel-Universums geworden. Das Serial schaffte es im Fahrwasser der neuesten Marvel-Produktionen Ende 2011 sogar in Deutschland auf DVD.

The House of Atwill


Lionel Atwill, der am 1. März 1885 im Londoner Stadtteil Croydon geboren worden war und ebendort knapp 20 Jahre später sein Bühnendebüt am Garrick Theatre gegeben hatte, später auch in Australien auf der Bühne arbeitete, ehe er in den USA nach Erfolgen am Broadway schließlich Filmstar wurde, hatte in seinem Leben öfter einmal Pech gehabt. Zwei seiner Häuser wurden Ende 1936 von einem Sturm in den Ozean gespült, bereits im Jahr zuvor war ein weiteres abgebrannt. 1937 wurde sein neues Heim zweimal ausgeraubt.
Die größte Tragödie: Sein erster Sohn war Flugoffizier und fiel 1941 im Zweiten Weltkrieg. Im Alter von 60 Jahren wurde Atwill 1945 allerdings noch einmal Vater eines Sohnes – ein spätes Glück, mit dem er, wenn man so will, für diverse Jahre der Entbehrung und des Leids entschädigt wurde. Doch Atwill starb sechs Monate nach der Geburt am 22. April 1946 in Pacific Palisades, Los Angeles an den Folgen einer Lungenentzündung, die von Bronchialkrebs bedingt worden war.
Einen Tag nach seinem Tod startete die Kinoauswertung seiner finalen Arbeit: LOST CITY OF THE JUNGLE, ein dreizehnteiliges Serial, das vorletzte in der Geschichte von Universal. Atwill musste die Dreharbeiten am 4. Februar 1946 abbrechen, da sich sein Gesundheitszustand akut verschlechterte. Er kehrte nie wieder vor die Kamera zurück.

So war es schließlich doch ausgerechnet Universal, das dem arg gebeutelten Lionel Atwill filmisch das letzte Geleit gab.
Es war die einzige Produktion, die der große Horror-Mime, welcher einstmals Architektur studiert hatte, nicht mehr fertigstellen konnte. Er wurde in den verbleibenden Szenen von einem Double vertreten. Posthum konnte man Atwill ab Oktober 1946 außerdem in GENIUS AT WORK an der Seite des von RKO beschäftigten Komiker-Duos Wally Brown und Alan Carney sehen. Lohnend ist dieser einstündige Film vor allem deswegen, weil Atwill darin noch einmal gemeinsam mit Bela Lugosi zu erleben ist.
Dass diese schon im August 1945 fertiggestellte Parodie letztlich den Schlusspunkt zu Atwills Filmkarriere setzte, passt ins Bild: Schließlich war Atwill nicht nur der erste Horrorstar Hollywoods, der grundsätzlich keine übernatürlichen Wesen verkörperte, und der erste Star des Genres, der Horrortonfilme in Farbe gedreht hatte, sondern auch der erste der Dreißigerjahre-Horrorstars Hollywoods, welcher sich in eine Parodie mit dem Duo Bud Abbott & Lou Costello gewagt hatte. ABBOTT UND COSTELLO UNTER KANNIBALEN erscheint 1942.
Ein zweites Mal spielt Atwill in einem der Holmes-Filme von Rathbone und Bruce mit, diesmal als Superschurke Moriarty. Da neigt sich seine Karriere bereits dem Ende zu.
Quelle: DVD "Die Sherlock Holmes Collection Teil 1" © Koch Media GmbH
Abbott & Costello retteten Universal in den Vierzigerjahren vor dem finanziellen Ruin; Brown & Carney waren RKOs Versuch, es dem Erfolg von Abbott & Costello gleich zu tun. Boris Karloff, Bela Lugosi und Lon Chaney Jr. wiederum taten es Lionel Atwill Ende der Vierzigerjahre schließlich gleich, ließen sich und ihre Horror-Images bei Universal hausintern ebenfalls veralbern – an der Seite von Abbott & Costello. Atwills letzter von ihm vollendeter Spielfilm war der Universal-Horrorfilm HOUSE OF DRACULA, der im September und Oktober 1945 gedreht wurde und bereits Anfang Dezember in die Kinos kam. Wie schon in DAS ZEICHEN DES VAMPIRS, FRANKENSTEINS SOHN und HOUSE OF FRANKENSTEIN spielte Atwill erneut einen Inspektor. Dieser Film war gleichzeitig der letzte klassische Universal-Horrorfilm, in dem Dracula, Frankenstein und/oder der Wolfsmensch auftauchten. Eine Ära endete – mit Atwill und für Universal.

Atwills Vermächtnis


Hollywood verlor mit Lionel Atwills Tod einen genialen Schauspieler, dem man unter dem Strich viel zu wenig Wertschätzung entgegen gebracht hatte, weshalb seinem Andenken auch in den folgenden Jahrzehnten nur überschaubarer Aufwand gewidmet wurde. In den meisten seiner Filme spielte er Nebenrollen, wenn auch in etlichen denkwürdigen Produktionen wie DER TEUFEL IST EINE FRAU, DER MANN FÜR MORD, SPIONE KÜSST MAN NICHT, UNTER PIRATENFLAGGE, THE ROAD BACK – dessen rekonstruierte Fassung auf der diesjährigen Berlinale ihre Weltpremiere hatte –, THE GREAT GARRICK, DER GROßE WALZER, THE THREE MUSKETEERS, DER HUND VON BASKERVILLE, THE SUN NEVER SETS, JOHNNY APOLLO, DER DRAUFGÄNGER und CAIRO.
Ferner wirkte er in den Filmreihen CHARLIE CHAN, MR. MOTO und DR. KILDARE mit. Ohne Atwill wäre das Hollywood der Dreißiger und Vierziger ärmer gewesen. Mag ihn die Filmwissenschaft auch fast vergessen haben, gibt es heute immerhin noch einen offiziellen Lionel Atwill Fanclub, der online erreichbar ist.
Quelle: DVD "Mystery of the Wax Museum" © Warner Bros. (Keine deutsche Heimvideo-Auswertung)
In den USA wurden viele seiner Horrorfilme bereits auf DVD veröffentlicht, meist allerdings in allgemein gehaltenen Horror-Sammelboxen. In Deutschland sieht es ungleich schlechter aus: DAS GEHEIMNIS DES WACHSFIGURENKABINETTS ist als Bonus auf der DVD zu DAS KABINETT DES PROFESSOR BONDI enthalten, seine beiden Gastauftritte bei SHERLOCK HOLMES finden sich ebenso in den entsprechenden Sammelboxen wie sein Einsatz bei MR. MOTO. Selbst was sein Wirken im Universal-Horror anbelangt, kann man allerdings nur seine Auftritte neben Frankenstein, Dracula und dem Wolfsmenschen in den entsprechenden Boxen finden. Die übrigen Universal-Horrorfilme, darunter beide mit Atwill als "top billing", warten immer noch auf Releases.

Von den Genre-Beiträgen anderer Studios ganz zu schweigen – hierzulande ist bislang kein einziger davon eigenständig veröffentlicht worden. Ein Problem dabei ist zweifelsohne, dass von zahlreichen Horrorfilmen Atwills nicht einmal eine deutsche Fassung existiert. Lionel Atwill ist und bleibt vorerst der unsichtbare Dritte, im Schatten von Bela Lugosi und Boris Karloff, mit denen gemeinsam er in den frühen Dreißigerjahren schauspielerisch die Weichen für all das stellte, was im Horrortonfilm der folgenden gut achtzig Jahre bis heute folgte.
 ______________________________________________________________
Wir von Duoscope danken Ansgar Skulme für diesen Gastbeitrag und die Erinnerung an einen vergessenen Künstler.
Falls euch der Beitrag auch so gut gefallen hat und ihr gerne mehr lesen wollt: Ansgar Skulme ist stellvertrender Chefredakteur beim von uns wärmstens empfohlenen 35 Millimeter - Das Retro Filmmagazin, wo er mit regelmäßigen Beiträgen vertreten ist. Daneben schreibt er als Rezensent für die Kollegen vom Blog Die Nacht der lebenden Texte, wo ihr ebenfalls immer wieder Beiträge von ihm findet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Ihr seid unserer Meinung? Ihr seht was anders? Wir freuen uns über eure Ansichten, über Lob und Kritik! Aber bitte seid nett zu uns. Und zueinander!