25.02.16

Zwischenschau: Der Filmtipp-Award – Jury Duty, Entertainment PR und Scharsigs Blogparade

Als Filmblogger freuen wir uns immer, wenn wir einen Erkenntnisgewinn haben. Hinter eine Kulisse schauen können, die uns zuvor verwehrt geblieben ist.
Genau das bot uns dieses Jahr die Teilnahme als Jurymitglieder an einem Filmaward. Wir haben uns ein paar Gedanken gemacht, was für Erkenntnisse wir gewinnen konnten, und lassen den Initiatior des DerFilmtipp-Award zu Wort kommen, Filmblogger-Kollege Michael Scharsig.
©Henrieke Ludwig, Logo mit freundlicher Genehmigung von Henrieke Ludwig

Marcos Blick: 

In weniger als einer Woche endet die amerikanische Award-Season 2015/16.
Diese "Award-Season" ist für Filmfreunde in etwa das Pendant zum Champions-League Finale, zum Superbowl oder zur New Yorker Fashion-Week.

Willkommen im Zirkus


Von Anfang November bis Ende Februar werden, vor allem in den USA, aber auch weltweit, unzählige Filmpreise vergeben. So gut wie jede größere amerikanische Stadt hat ihre eigenen Kritikerpreise, und so gut wie jeder Fachbereich der Filmwirtschaft ebenso. Der "Annie-Award" für die besten Animationsfilme etwa, oder die Preise der Schauspielergewerkschaft, der Regisseursgewerkschaft, der Produzenten- und Kameragewerkschaften. Mit den Visual Effects Society Awards werden in ganzen 23 Kategorien die besten Spezialeffekte des Jahres gekürt.
Für die betreffenden Filmschaffenden kann das eine anstrengende Zeit sein.
Jede Award-Season hat ihre Dauerbrenner und Stars. Dieses Jahr waren das neben Leonardo DiCaprio vor allem Brie Larson und der zehnjährige Jacob Tremblay, der etliche Preise gewonnen hat, und jedes Mal das Publikum verzauberte. Beide waren für das herausragende Drama RAUM immer wieder ausgezeichnet worden.
© Universal Pictures Germany
Um ein Beispiel zu nennen: THE REVENANT fand sich dieses Jahr bei 55(!) Filmpreisen unter den Nominierten wieder! Manchmal sind bestimmte Schauspieler, Regisseure, Produzenten oder andere Künstler alle zwei Wochen oder sogar wöchentlich nominiert.
Leonardo DiCaprio etwa, Hauptdarsteller in THE REVENANT, war für 42 Filmpreise nominiert. Von denen er, bisher, immerhin 25 auch gewonnen hat. Das sind 25 Dankesreden in einer Award-Season. Foto- und Interviewmarathon und gegebenenfalls eine After-Show Party inklusive.
Ja, die Award-Season kann für manche Stars in echte Arbeit ausarten.

Höhepunkt und Schlusspunkt der Award-Season sind die Academy Awards, besser bekannt als die Oscars, die mittlerweile immer am letzten Sonntag im Februar verliehen werden.

Der "Der Filmtipp-Award"


Dieses Jahr bleibt der Zirkus aber zumindest in der deutschen Filmbloggerszene noch eine Woche länger in der Stadt, denn am 6. März verkündet der Filmblog Der Filmtipp die Sieger des extra aus der Taufe gehobenen Filmbloggerawards „Der Filmtipp-Award“. (Ein Spitzname steht bisher noch aus. Unser Vorschlag wäre wohl: „Tippy“) Der Filmtipp-Award wird dieses Jahr zum zweiten Mal verliehen. Wir hatten das Glück, bereits beim ersten Durchgang 2015 in der Jury zu sitzen, doch Initiator Michael Scharsig hat die Jury dieses Jahr deutlich erweitert, und bemüht sich, einen möglichst repräsentativen Durchschnitt der deutschen Filmblogger-Szene für seine Jury zu gewinnen. Nach sechs Blogs im letzten Jahr wurden es dieses Jahr über 30 deutsche Filmblogger, die an der Aktion teilgenommen haben.

Die Nominiertenliste steht seit einigen Tagen fest, ihr findet sie direkt auf dem Blog hier: 
Die Nominiertenliste zu Der Filmtipp-Award 

Wer noch mehr über den Initiator des Preises, Michael Scharsig, und seine Intentionen erfahren will, dem legen wir wärmstens das Interview ans Herz, das er mit unseren geschätzten Kollegen von den Medien-Nomaden geführt hat. Ihr findet es hier, und es ist jede Minute wert: 
Interview der Medien-Nomaden mit Michael Scharsig 

Für uns war und ist die Teilnahme auch deshalb besonders spannend, weil wir einige Aspekte wiedererkennen konnten, bei denen sich Der Filmtipp-Award nicht einmal hinter dem ganz Großen verstecken muss. Das System hinter der Preisvergabe glich dem der Oscars frappierend: Nachdem alle Blogger in den einzelnen Kategorien für ihre Favoriten gestimmt haben, wurden die besten fünf davon als Nominierte festgelegt, aus denen anschließend der „Sieger“ bestimmt wurde.

Wie konntet ihr nur dieses Meisterwerk übersehen?


Spannend war dabei, dass uns im Hinterkopf immer auch eine der meistgehörten Kritiken des Oscars im Kopf herumspukte: Wie konnte die Jury nur dieses und jenes Meisterwerk übersehen? Ihr wisst schon, diesen existentiellen chilenischen viereinhalb Stunden-Thriller ohne Dialoge, der das Filmschaffen komplett neu erfindet und dafür sorgt, dass man noch drei Tage später erschüttert losheult, sobald auch nur der erste Ton von "El Cóndor Pasa" erklingt?

Tatsache ist, und das haben wir nun selbst erlebt: Je größer die Jury, desto unwahrscheinlicher scheint es uns, dass irgendwelche kleinen Perlen es überhaupt in die Nominiertenliste schaffen. Der Grund dafür ist einfach: Nominiert werden die Filme, die von den meisten Mitgliedern eine Stimme erhalten. Dafür muss man sie aber auch gesehen haben. Am Ende spült das eben vor allem die Filme nach oben, die von den meisten Stimmenbesitzern (also Wählern) überhaupt gesehen wurden.

Der Vorteil liegt demnach automatisch bei solchen Filmen, die bereits im Vorfeld besonders viel „Buzz“ erzeugt haben, also Aufmerksamkeit erregten. Wir haben beobachtet, wie etliche kleine Perlen chancenlos in den unteren Rängen herumdümpelten, einfach, weil zu wenige andere Jurymitglieder sie gesehen haben. In einigen Fällen waren wir persönlich betroffen und sehr traurig, einen unseren „Underdogs“ absaufen zu sehen, in anderen Fällen wurde klar, dass ein oder zwei andere Mitglieder, die kräftig für ihren Liebling geworben hatten, frustriert mit ansehen mussten, wie er unterging.
Neben Leonardo DiCaprio gilt vor allem Gary Oldman als einer der dringendsten Fälle von Schauspielern, deren Oscar längst überfällig ist. Wie können die Juryentscheidungen so oft vom Empfinden des Publikums abweichen? Eine Verschwörung? Oder das Ergebnis der Systematik hinter Filmpreisen?
Quelle: Blu Ray "True Romance" © STUDIOCANAL
Und dasselbe geschieht auch auf der großen, internationalen Bühne: Filme, die besonders viel Aufmerksamkeit erregt haben, und von vielen Wählern gesehen wurden, haben immer einen Vorteil. Dazu gehört gutes Marketing, aber oftmals eben auch eine gute Leistung. Denn gute Filme empfiehlt man gerne weiter, und die Reichweite steigt.

Im Vorfeld der Oscars „biedern“ sich die Produzenten deshalb so mit ihren Filmen bei den Academy Mitgliedern an, wenn sie glauben, dass ihr Film preiswürdig ist. Nur, wenn viele Wähler ihn gesehen haben, hat der Streifen überhaupt eine Chance. Also gibt es Werbekampagnen im Netz und in Fachzeitschriften, Sondervorstellungen für Jurymitglieder, DVDs im Briefkasten, und was man sonst noch so tun kann, um seinen Film sichtbar zu machen. „Campaigning“ oder "Oscar-Counseling" nennt man das in Hollywood, und wir wissen nun auch, wieso das so fundamental wichtig ist.

Übrigens: Auch in unserer Jury gab es reichlich Empfehlungen untereinander, und, das sei lobend erwähnt, etliche Kollegen haben sich erdenkliche Mühe gegeben, möglichst viele der verpassten, potentiellen Hits noch nachzuholen.
Ob ein Film in einer derartigen „Druckbetankung“ allerdings noch seine volle Wirkung entfaltet, muss wohl jedes Mitglied selbst entscheiden.

Ihr habt euch doch abgesprochen


Oftmals hört man auch, dass sich eine Jury absprechen würde, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Leonardo DiCaprio geht schon wieder leer aus bei den Oscars? Abgekartert! ARGO war so langweilig, und wird trotzdem bester Film? Alle gekauft!

Tatsache ist: Wir halten es für unmöglich, derartige Absprachen gezielt zu treffen.
Für uns war es eine sehr bereichernde Erfahrung, mit 30 Kollegen gemeinsam herauszufinden, wo genau der kleinste gemeinsame Nenner liegt. Doch obwohl die Jury nur einen überschaubaren Ausschnitt aus der deutschen Filmblogger-Szene darstellt, wurde uns bereits klar, wie extrem unterschiedlich die Werte, Geschmäcker und Gewichtungen jedes einzelnen Mitglieds sind.
Vermutlich könnten wir uns mit der Hälfte der Jurymitglieder nicht mal dann auf einen Film einigen, wenn wir alle gemeinsam am Samstagnachmittag für lau ins Kino eingeladen würden. Und noch weniger könnten wir uns im Vorfeld auf einen Gewinner einigen, den wir alle gemeinsam wählen müssten. 
Nichtsdestotrotz konnten wir natürlich beobachten, dass man als Jurymitglied in gewisser Weise immer beeinflussbar ist, ob man das nun will oder nicht.
Dem ein oder anderen Schauspieler lässt man vielleicht ein wenig mehr durchgehen, einfach, weil er einem so sympathisch ist, oder weil er in einem Jahr gleich mehrere gute Rollen hatte.
Oder man lässt einem Film dramaturgische Löcher, Fehler und Schwächen durchgehen, die jeden anderen Film ruiniert oder mindestens abgewertet hätten, einfach, weil er ein besonders emotionales Erlebnis geboten hat. (Ja, ich schaue dich an, STAR WARS – DAS ERWACHEN DER MACHT!)

Es zeigt sich, das hinter jedem Award, auch diesem, immer eine dichte Basis aus Emotionalität liegt. Natürlich wäre es schön, wenn jede Jury, jedes Mitglied, jeder Wähler immer und überall komplett rational und objektiv wäre. Doch das sind sie nicht. Und so wird es immer auch geschehen, dass ein Preis nicht allein eine empirisch nachweisbare Leistung bewertet, sondern auch eine sehr subjektive Gefühlsregung, die unter der größten menge an Mitgliedern ausgelöst worden ist.
Ist ARGO wirklich der beste Film des Jahres 2012? Bis heute entzündet sich an dieser Wahl immer wieder eine hitzige, oft etwas spöttische Debatte über die Qualität und Aussagekraft der Kategorie.
Quelle: Blu Ray "Argo" © Warner Home Video
Hinzu kommt, und das vergisst man oft, wenn man mit der Entscheidung einer Jury unzufrieden ist: Viele Entscheidungen waren denkbar knapp. Hier und dort spaltete sich die Jury in zwei gewaltige Lager, und am Ende war es vielleicht eine einzige Stimme, die darüber entschied, ob ein Film überhaupt nominiert wurde oder nicht, geschweige denn, ob er den Preis erhält oder nicht.

In die Ecke gedrängt


Manchmal ist die Entscheidung als Jurymitglied tatsächlich enorm schwer. Stimmt man für den tollen Schauspieler, der einen wirklich überzeugt hat, oder doch für den Star, der schon so lange leer ausgeht, und vielleicht nie wieder eine Chance erhalten wird? Wählt man den Film, der einen mit seinem Drehbuch gepackt hat, oder doch lieber den, der mit seinen Schauspielern begeistert hat?

Oft genug wird man als Mitglied vor eine Wahl gestellt, bei der man immer das Gefühl hat, dass sie unfair ist, egal, wie man sich entscheidet. Das mag nicht jedem so gehen, manche mögen ihre Stimme voller Überzeugung abgeben. Aber für uns war es nicht immer leicht.
Auch das ist eben ein Problem bei vielen Filmpreisen – in vielen Fällen haben verschiedene Kandidaten den Preis gleichermaßen verdient, aber am Ende kann es eben meist nur einen geben. Und ja, oftmals ist man auch als Jurymitglied unzufrieden mit dem Ergebnis. Wir können jedenfalls bestätigen, dass wir die ein oder andere Jury-Entscheidung gerne anders gesehen hätten. Nicht alle. Vielleicht nicht mal viele. Aber ein paar.
Ein weitere, unerwartete Erfahrung, die für uns wirklich erhellend war.

Jede Award-Season, und jeder Oscar, bringt immer wieder auch scheinbar unverständliche Entscheidungen mit sich. Nachdem wir nun selbst einmal hinter die Kulissen blicken konnten, sind uns all diese Preise und Fehlentscheidungen vielleicht ein bisschen verständlicher geworden. Und wenn schon nicht das, dann stehen wir ihnen zumindest ein wenig versöhnlicher gegenüber.

Interview: Michael Scharsig über Werte, Wünsche und Probleme seines Filmpreises:


Duoscope: 
Hallo Michael. Vielen Dank, dass du dir die Zeit für uns nimmst. Und auch vielen Dank, für die Möglichkeit am Der Filmtipp-Award teilzunehmen.
Lass uns gleich zur Sache kommen: Wie enorm ist der Arbeitsaufwand für so einen Award, und wie fühlt es sich an, so etwas noch neben der (Vollzeit-)Arbeit zu managen? 

Michael Scharsig: 
Der Arbeitsaufwand ist schon nicht ohne. Aber darauf habe ich mich eingestellt. Am wichtigsten ist für mich, dass es nach wie vor Spaß macht. Ich organisiere auch Fifa-Turniere auf der Arbeit oder Kinoabende, da kriege ich einen Award mit über 30 tollen Bloggern aus Deutschland doch locker hin. (Lacht) Man braucht allerdings wirklich die Motivation dazu. Das ist keine Sache für Zwischendurch. Und die Arbeit, für die ich bezahlt werde, darf unter diesem Hobby auch nicht leiden. Deswegen sind mir die lockeren Regeln und Abläufe des Awards auch sehr wichtig.
Filmblogger und Award-Initiator Michael Scharsig steht voll und ganz hinter seinen Filmen.
© Michael Scharsig, Foto mit freundlicher Genehmigung
D: 
Das stimmt, das war wirklich alles angenehm locker.
Für uns brachte die Mitwirkung dieses Jahr eine Menge interessanter Einsichten über Awards im Allgemeinen. Wie sieht das bei dir aus, hat sich für dich als Initiator eines eigenen Awards die Sichtweise verändert? Hast du Erkenntnisse gewonnen, die deine Meinung zu anderen Awards verändert haben? 

MS: 
Erkenntnis würde ich es nicht nennen, aber man muss halt damit leben, dass die eigene Meinung nicht zwangsläufig die Meinung der Jury-Mehrheit ist. Immerhin steht ja doch „Der Filmtipp“ drauf. Meine Sichtweise hat sich aber nicht geändert. Filmpreise sind Entertainment PR für Filme und ihre Mitwirkenden, aber mich unterhält das. So ist es auch beim Eurovision Songcontest. Ich habe keine spezielle Meinung zu verschiedenen Preisen. Jeder hat andere Hintergründe, Umstände usw. Für mich ist nur interessant, welche Filme dann am Ende den größten gemeinsamen Nenner darstellen. 

D: 
Wir haben ja jetzt eher einen Eindruck davon gewinnen können, wieso manche Filme hintenüberfallen.
Wie war das für dich? Gibt es Filme, die für deinen Geschmack dieses Jahr beim DerFilmtipp-Award zu wenig berücksichtigt wurden? Und woran, denkst du, könnte das liegen? 

MS: 
SICARIO. Das liegt vor allem an euch. (Lacht) [Kurze Anmerkung: Wir hielten SICARIO für einen der enttäuschendsten und schlechtesten Filme des Jahres – und standen damit in der Jury ziemlich allein da. Wir haben daher ordentlich Kontra-SICARIO-Lobbyarbeit betrieben. Übrigens erfolglos.] 
Nein, Spaß beiseite. Ich bin tatsächlich total zufrieden. Dass DATING QUEEN es nicht mal in die Top Fünf der lustigsten Filme schafft, hätte ich nicht erwartet. Ebenso die wenigen Nominierungen für STILL ALICE und CAROL. Ein bisschen „enttäuscht“ bin ich vom Abschneiden von STRAIGHT OUTTA COMPTON oder FRANK. War aber auch schwierig.
Eine Sache darf man bei unserer Jury nicht vergessen: Keiner hier bekommt Geld dafür, alles läuft entspannt und freiwillig und in der Freizeit ab, was bedeutet, dass auch niemand alle Filme gesehen haben muss. Ich denke, dass einige Filme untergingen, weil sie seltener angeschaut wurden. ANT-MAN hätte hingegen nur eine Nominierung mehr gebraucht und hätte in der Kategorie „Bester Film“ zur Auswahl gestanden. 

D: 
Genau den Eindruck hatten wir ja auch. Nur gesehene Filme sind preisgekrönte Filme. Für dich als Initiator, siehst du darüber hinaus irgendwelche Mängel oder Unfairnisse in der Art und Weise, wie Filmpreise kreiert werden? 

MS: 
Dieses Jahr ist etwas Besonderes [in der Award-Season], denn vielen Awards wurde früher angelastet, z.B. Actionern oder Science Fiction Filmen über ihre Effekte und den Sound hinaus keine große Beachtung zu schenken. Ein Award aus Bloggersicht kann da entgegenwirken. Nun ist es aber so, dass auch die großen Filmpreise dieses Jahr nicht um Filme wie MAD MAX: FURY ROAD, DER MARSIANER oder STAR WARS – DAS ERWACHEN DER MACHT herumkommen. Das ist schon witzig.
Dann spielt die Herkunft des Publikums eine Rolle. Mir war klar, dass uns AMERICAN SNIPER zum Beispiel nicht groß bewegen würde.
Ganz ehrlich? Systeme oder die Maschinerie interessieren mich nicht großartig. Jeder Preis hat andere Vorlieben, Beweggründe, Umstände, Sponsoren, usw. Schaut euch nie Awards an, um eure eigene Meinung beeinflussen zu lassen. Sie sind Werbung, aber eben gut verpackte. Jedenfalls die, die nicht von unabhängigen Kritikern gestaltet wurden. 

D: 
Falls es unabhängige Kritiker überhaupt gibt.
Okay, aber andersherum gefragt: Siehst du irgendwelche Stärken in Preisverleihungen? 

MS: 
Für mich ist das eindeutig die Unterhaltung. Deshalb mag ich zum Beispiel die Globes und mit Abstrichen die Oscars so sehr. Ich persönlich registriere außerdem, dass ich durch Nominierungen noch zusätzlich motiviert werde einen Film zu gucken, den ich sonst vielleicht vorerst ignoriert hätte. Generell können Filmpreise Filmen einen Kassenboost bescheren, da bin ich mir sicher. Nur halt nicht, wenn mehrere Monate zwischen Oscars und Veröffentlichung des Films liegen. Nehmen wir zum Beispiel SPOTLIGHT. Würde der nicht mitten in der Oscar-Zeit anlaufen, würde ihm kassentechnisch wahrscheinlich weniger Beachtung geschenkt werden.
Profitieren kleine Filme wie SPOTLIGHT vom Award-Wirbel, den sie verursachen? Und würden sie weniger Zuschauer finden, wenn sie erst Monate nach den Oscars in die Kinos kämen?
© Paramount Pictures
D: 
Vielleicht, weil auch da das Thema wieder ein sehr amerikanisches ist? HIer in Hamburg läuft der mit knapper Not in dreieinhalb Kinos.
Kommen wir ein bisschen zur Schattenseite von Filmpreisen, weil wir uns ja auch damit auseinandersetzen. Immer wieder hört man, ein Filmpreis wie der Oscar sei am Ende bedeutungslos, weil er nichts aussage. Nun, da du selbst einen vergleichbaren Preis gestaltest, wie wertest du diese Aussage? 

MS: 
Vergleichbar würde ich nicht sagen. Der Filmtipp-Award ist ein Staubkorn im Vergleich. Noch! (Lacht) 

D: 
Wir dachten da auch eher an das Wahlsystem. 

MS: 
Das mag sein. Aber warum sagt der Oscar nichts aus? Ein Preis ist immer ein Statement. Wenn ein Politiker etwa sagt: „Unsere Solidarität gehört den Opfern der Lawinenkatastrophe in Nepal“, dann ist das erst mal viel bedeutungsloser. Wenige Minuten später ist die Sache vom Tisch.
Wenn aber eine Jury einen Film prämiert, dann ist das eine Belohnung für besondere Leistungen. Vielleicht nicht immer neutral und objektiv, aber mein Gott, keiner leidet darunter. Der Vergleich zur Politik hinkt natürlich etwas. Ich würde eine Filmpreisverleihung eher mit einer TV Show oder einer Messe vergleichen. Man zeichnet etwas aus, man will etwas verkaufen und dazu gibt es Unterhaltung. Manchmal habe ich das Gefühl, einige Kritiker nehmen die Oscars oder Grammys so ernst wie eine politische Grundsatzentscheidung oder die Weltklimakonferenz. Sollte man nicht tun. 

D: 
Filmpreise und politische Klimakonferenzen in einem Satz. Das wirft doch die Frage auf, und die stellen wir dir gerne, ob man als Jurymitglied eines solchen Preises über Macht verfügt? Wie stark ist der Einfluss als Mitglied, als Jury, oder als Preisverleiher auf den Filmmarkt? 

MS: 
Deine Macht erstreckt sich auf ein Häkchen pro Kategorie. So, oder so ähnlich.
Bei den großen Filmpreisen besteht die Jury entweder aus Menschen, die selbst in der Filmwelt unterwegs, und somit längst einflussreich sind, oder sie besteht aus Zuschauern.
Die noch größere Macht hat am Ende aber das zahlende Publikum. Nicht direkt auf die Preisvergabe, aber einen Shitstorm möchte man mit seinem Preis ja auch nicht auslösen. Also bekommt FAST AND FURIOUS 7 keinen Oscar. Naja. Und wenn ich George Clooney heiße und der Academy beiwohne, dann habe ich so viele Kontakte und Einfluss, dass die „Macht“ durchs Jury-Dasein nur noch formell ist. Lobbyisten will ich da nicht ausschließen.

Wo ich gerade von FAST AND FURIOUS sprach: Es gibt diese Filme, die ihren Erfolg über Marketing und Budget ergattern. Wenn du als Oscar-Jury bei solchen Filmen also „Nein“ sagst, hat das nur geringen Einfluss auf, sagen wir, den finanziellen Erfolg eines Blockbusters.
Ganz anders eben als z.B. bei SPOTLIGHT.
Auch wenn MAD MAX: FURY ROAD dieses Jahr eine Ausnahme darstellt: "Testosterongetriebene" Actionfilme wie FAST & FURIOUS 7 werden nur selten mit Filmpreisen überhäuft. Vielleicht auch deshalb, weil die Jurys insgeheim der Ansicht sind, dass die Blockbusterboliden mit Werbebudgets im Millionenbereich die extra-Vermarktung einer Jury nicht mehr brauchen?
Quelle: Blu Ray "Fast & Furious 7" © Universal Pictures Germany GmbH
D: 
Das stimmt. Wir haben ja auch einmal dargelegt, dass der Oscar und andere Awards oftmals ein enormes Werbemittel für Arthouse- und Independent-Produktionen ohne großes Werbebudget oder berühmtes Franchise im Hintergrund darstellen. Wie du schon sagst: Entertainment PR.
Was eine weitere Frage aufwirft: Hältst du es für sinnvoller, fertige Filme mit einem prestigeträchtigen Preis zu versehen, oder Wettbewerbe für Filmideen ins Leben zu rufen, die zwar weniger Prestige mit sich bringen, aber dafür finanzielle Unterstützung? 

MS: 
Die zweite Idee klingt deutlich romantischer und so, keine Frage. Aber es ist eine Mammutaufgabe, dafür Sponsoren, Marketing und Co. zusammenzukriegen. Vielleicht sollte das einfach nicht miteinander verglichen werden. Warum nicht daraus eine eigene Show machen? Wir haben ja auch DSDS und diesen ganzen Kram. Da gibt es bestimmt ein, zwei kluge Köpfe im Land, die dafür ein tolles Konzept auf die Beine stellen könnten.
Fertige Filme auf prestigeträchtigen Verleihungen füttern aber das Herz des Filmfanatikers. Ich kann mir das selbst nicht erklären. Wenn ich persönlich mit ansehe, wie Tausende von Menschen der Queen oder dem Papst zujubeln, könnte ich brechen. Aber Hollywoods Superstars? Alle auf einem Haufen? Das unterhält mich und macht mich neugierig. Da bin ich ehrlich. Sonst übrigens auch. 

D: 
Also zusammengefasst: Große Blockbuster sind womöglich gar nicht auf Filmpreise angewiesen, um ihr Publikum zu finden, kleinere Filme hingegen schon. Und am Ende bedingt sich ein prestigeträchtiger Preis selbst. Große Stars bringen das Prestige, und damit die Zuschauer, und damit die Werbung und den Umsatz für kleinere Filme? Da wären wir ja wieder beim Einfluss, den Filmpreise und die Jury haben können. Wie du schon sagtest, SPOTLIGHT wäre dir vielleicht durchgerutscht, und auch wir haben THE BIG SHORT vor allem wegen seiner vielen Nominierungen überhaupt erst geguckt und ein echtes Jahreshighlight entdeckt. 

MS: 
Genau. Übrigens: Die Jury des Der Filmtipp-Awards, oder andere rein privat aufgestellte Prämierungen, haben meiner Meinung nach nur sehr geringen Einfluss auf den Markt, solange sie nicht regelmäßig stattfinden und auf sich aufmerksam machen. Unser Der Filmtipp-Award bedient das Feld der deutschen Filmblogosphäre. Da sind wir evtl. so etwas wie die Vorreiter. Im Prinzip hat doch jede Filmkritik irgendeinen Einfluss, warum also nicht auch wir?
Erweitert ein deutscher Filmblogger-Award den Markt?
DAfür spricht, dass beim Der Filmtipp-Award eine deutsche Arthouseproduktion wie VICTORIA gleichberechtigt neben Award-Riesen wie MAD MAX: FURY ROAD, BIRDMAN und WHIPLASH, aber auch neben Blockbustern wie ANT-MAN und STAR WARS - DAS ERWACHEN DER MACHT zu finden ist.

Quelle: DVD "Victoria" © Universum Film Vertrieb
D: 
Bevor wir weitergehen, müssen wir noch kurz eine Lanze für FAST AND FURIOUS brechen: Als Actionfilme über schnelle, bunte Autos sind die Weltklasse. Außerdem ist es faszinierend, wie Vin Diesel dort eine multikulturelle, verhältnismäßig genderfreie Komponente ins Mainstreamkino gehievt hat, das ja sonst immer noch sehr weiß und westlich geprägt ist. Das bewundern wir.
Aber gut, kommen wir wieder zu deinen Erfahrungen als Initiator eines Filmpreises zurück. Du hast dieses Jahr einen enormen Sprung in Sachen Umfang und Größe des Der Filmtipp-Awards im Vergleich zum Vorjahr gemacht. Welche Erkenntnisse hast du daraus gewonnen? Gibt es etwas, dass du strukturell gerne verändern würdest? 

MS: 
Viele Dinge, die ich gerne verändern wollte, habe ich dieses Jahr umgesetzt. Meine Stimme zählt nun nicht mehr als jede andere. Das war letztes Jahr noch anders. Die Kategorien haben sich noch mehr danach orientiert, dass auch Außenseiter-Genres und DVD-Veröffentlichungen Beachtung geschenkt werden soll und natürlich ist der Community-Gedanke durch die größere Anzahl an Jury-Bloggern noch stärker geprägt worden.
Ich wünsche mir, dass die Filmblogosphäre dadurch ein bisschen mehr zusammenwächst, in Sachen Auszeichnung eine Stimme bekommt und dass sich jedes Jahr irgendetwas am DerFilmtipp-Award ändert. „Stillstand ist der Tod.“ Herbert Grönemeyer.

D: 
Apropos DVD-Veröffentlichungen: Deren Präsenz schien uns am Ende eher gering. Unter den Nominierten findet sich am Ende kaum ein DVD Film, vielleicht mit TURBO KID als halber Ausnahme, und selbst in den Vorschlagslisten haben sie eher eine Randrolle gespielt. Es gab ja auch auf DVD echte Genreperlen: BACKCOUNTRY, THE MULE, MAGGIE, BLUE RUIN oder COLD IN JULY waren alles tolle Filme, die halt nie im Kino liefen und im Award unter die Räder gerieten. Woran könnte das liegen und wie kann man das bei einer Preisverleihung, die beides berücksichtigt, besser ausgleichen? 

MS:
Mir war bereits vorher klar, dass Direct-To-DVD-Filme es schwer haben werden. Diesbezüglich plane ich im kommenden Jahr eine kleine Veränderung. Das möchte ich aber erst mit der Jury abstimmen. Wie du schon richtig sagst, ist TURBO KID so etwas wie der DVD-Gewinner des Jahres. Ebenfalls nominiert sind übrigens der großartige THE GUEST (Best Thriller) und MAGGIE (Hauptdarstellerin Abigail Breslin).
Filme wie z.B. BACKCOUNTRY oder THE MULE sind klasse, haben aber einfach nicht die Aufmerksamkeit erlangt und somit auch kein großes Publikum erreicht. Das ist normal. DVD-Filme sind nur eine Ergänzung, allein sie zu berücksichtigen soll ihnen schon Anerkennung liefern. Wenn z. B. THE GUEST in die Nominiertenliste "Best Action/Thriller" kommt ist das auch ein Zeichen, dass das Genre im Kino letztes Jahr offenbar nicht mal fünf oder sechs Hochkaräter liefern konnte.
Für uns war THE MULE, hierzulande nur auf Video erschienen, einer der frischesten, cleversten und interessantesten Thriller seit einigen Jahren. Wie etliche andere spannende DVD-Veröffentlichungen, etwa TURBO KID oder BACKCOUNTRY, fallen solche Filme aber kaum ins Gewicht, schon gar nicht bei Awards, die auch Kinofilme berücksichtigen.
Quelle: Blu Ray "The Mule" © Ascot Elite Home Entertainment
D: 
Im Thrillerbereich war 2015 wirklich ein sehr maues Jahr, das Genre hat es aktuell ein bisschen schwer, scheint es uns. Da landen Streifen auf Video, die früher noch als Sommerblockbuster gestartet wären.

Nun gut, wir kommen zum Ende, und berufen uns noch einmal auf dich als von uns ernannten Award-Experten. Also: Hollywood ruft an, und bittet dich, das System zur Wahl des Oscars zu reformieren. Welche Änderungen würdest du vornehmen? Mit welchem Ziel? 

MS: 
Dafür müsste ich mir das System noch mal genau anschauen. Mein Ziel wäre es aber definitiv, eine ausgewogene Jury zu haben. Männlein, Weiblein, schwarz-weiß-bunt, Fachexperten jeder Kategorie (in den USA nicht unwichtig), politisch gleichermaßen sortiert, usw. Ich würde so gut es eben geht verhindern, dass das Wort „Lobby“ mit meinem Award in Verbindung gebracht würde.
Was ich unbedingt ändern würde: Den Stock im Hintern der Academy gegen eine Chili Schote eintauschen. Sei frecher, offener, hab mehr Spaß, liebe Academy, und bring den Leuten Entertainment, Herrgott! Und lass die Leute so lange „Danke“ sagen, wie sie möchten. Was ich begrüßen würde, wenn es – nicht bei der Nominierung, aber bei den finalen Entscheidungen – so etwas wie eine Zuschauerstimme gäbe. 

D: 
Das würde eine spannende Komponente einbringen, du hast recht. Ein weiterer häufiger Kritikpunkt bei Awards sind die Kategorisierungen. DER MARSIANER musste viel Kritik einstecken, weil er bei den Golden Globes als Komödie geführt wurde. Und ob eine Figur nun Haupt- oder Nebenrolle ist, ist auch immer wieder Diskussionsstoff. Auch bei uns gab es ja einige Debatten, welche Filme oder Stars in welche Kategorie gehören. Hat sich deine Einstellung zu solchen Problemfällen durch diese Erfahrung verändert? 

MS: 
Nein, ich mochte die Diskussionen schon vorher. Und es war schon immer mein Ziel, ein offenes Ohr zu haben. Es werden nie alle zufrieden sein, das muss man akzeptieren. Umgekehrt würde ich bei Kritik niemals beleidigt sein. Ich habe ja Gründe dafür, wenn ich argumentiere, warum Alicia Vikander zum Beispiel keine Hauptrolle in EX_MACHINA gespielt hat. Irgendwo muss man den Joker, „Initiator“ zu sein, auch mal ausspielen. Was ich mir aber vorgenommen habe: Beim nächsten Award noch strikter festzulegen, welche Rolle in welche Kategorie fällt. Und das der Jury dann auch noch genauer und verständlicher zu erklären. 

D: 
Abschließend noch zu einer Kategorie, die dir sehr am Herzen zu liegen scheint. Du nennst sie „In Memoriam“, und dabei prämierst du die schlimmsten Filme oder Filmerfahrungen des Jahres. Du hast alle Kollegen zu einer Blogparade dazu eingeladen. Wieso ist dir das so wichtig? Für einen Filmpreis ist so eine „Negativkategorie“ ja eher untypisch. 
Michael Scharsig findet, auch Kinokatastrophen können für viel Unterhaltung sorgen und räumt ihnen einen Extraplatz ein.
© Michael Scharsig, Foto mit freundlicher Genehmigung
MS:
Bei all der Lobhudeldei muss auch mal Dampf abgelassen werden. (Lacht) Die schönsten Diskussionen kommen dann zustande, wenn Typ A sagt, dass er 50 SHADES OF GREY grottenschlecht fand und Typ B entgegnet, dass das ja so gar nicht stimme. Im Sinne einer Community gehört das in meinen Augen dazu. Ein weiterer Grund: Meine Seite heißt „Der Filmtipp“. Das heißt für mich, dass ich auch mal von Filmen abraten muss. „In Memoriam“ ist sozusagen das „Gucken auf eigene Gefahr“ des Der Filmtipp-Awards. 

D: 
Ja, die Diskussionen zu der Kategorie waren spannend und hitzig. Go SICARIO!
Vielen Dank, Michael, für deine Zeit und deine Antworten. Wir freuen uns auf die Siegerehrung der Filmtipp-Awards am 6. März. 

Wer nun unsere schlimmsten Erlebnisse des Filmjahres 2015 erfahren möchte, den verweisen wir auf unseren Jahresrückblick, in dem wir auch die Enttäuschungen 2015 aufgezählt haben. Spoiler: SICARIO war auch dabei.

Die anderen Teilnehmer der Blogparade zu „In Memoriam“ haben ihre sehr erquicklichen Horrorgeschichten bisher hier veröffentlicht:

Brandbeschleuniger bitterer Enttäuschungen“ des Blogs SchönerDenken

Blogparade zum Filmtipp Award“ von Der Filmkompass

Die schlechtesten Filme 2015“ von Meinungsimperialismus

"Da bluten mir die Augen" auf found-footage.de


Wer noch einmal auf die Nominiertenliste für den Der Filmtipp-Award hingewiesen werden möchte, sei ebenfalls noch einmal verwiesen auf:
Der Filmtipp Award - Alle Nominierungen

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