11.02.16

Nachgeplaudert: The Hateful Eight (USA 2015): Coole Typen, dicke Löcher

Die weltweite Vorfreude war riesig: Quentin Tarantinos neuer Film, THE HATEFUL EIGHT, wurde mit Spannung erwartet. Da über die Handlung nicht viel verraten wurde, erquickte man sich an Tarantinos Kraftakt, ein fuffzig Jahre altes Kamerasystem wiederzuerwecken.
Mittlerweile läuft der Film seit zwei Wochen, und das Rätselraten ist vorbei. Wir mussten ein wenig warten, bis wir uns dem Film widmen konnten. Zunächst mussten wir lange diskutieren. Und dann kam so was wie ein Filmriss dazwischen ...
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- Spoilerwarnung - 
Wieder mal müssen wir warnen: Wir werden, um den Film sinvoll zu kritisieren, auch ein paar Details ausplaudern. Wer also nicht wissen möchte, wie blutig genau der Film wird, und wie viele Dialoge stattfinden, oder wovon diese handeln, der geht erst ins Kino, und kommt danach nochmal her. Wir warten auch solange.

Marco:
So, mittlerweile ist es ein wenig her, dass wir Tarantinos neues Werk gesehen haben. THE HATEFUL EIGHT.

Bianca:
Irgendwie spricht kaum noch einer darüber, kann das sein?

Marco:
Es wurde ja schon viel drüber gesprochen. Wir haben ja auch lange drüber diskutiert, und ihn uns sogar zweimal angeschaut, um die normale Kinofassung mit der 70mm Roadshow vergleichen zu können. Vorneweg kann man wohl sagen, dass ich ihn ein bisschen lieber mochte also du, oder? Du sagtest, du warst ein bisschen enttäuscht. Woran liegt das?

Bianca:
Oja, was hab ich gehibbelt.
Ich glaube, dass meine "Enttäuschung" daher kam, dass Tarantino in THE HATEFUL EIGHT vieles anders macht als in seinen Werken zuvor. Also nicht wirklich neu, aber er arrangiert seine Elemente anders als zuvor.
Auch wenn viele sagen, der Film sei ein "typischer" Tarantino, sehe ich das nur bedingt so und musste mich erst mal mit dem, was anders ist, abfinden und es einordnen...
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Marco:
Und was exakt unterscheidet sich für dich dieses Mal so sehr?

Kapitel 1: Der Gesamteindruck wider die Vorfreude


Bianca:
Die Exposition ist rein verbal und erstreckt sich auf reichliche 1 1/2 Stunden. In dieser Zeit geschieht... nichts, außer, dass die Figuren sich und ihre Beziehung zueinander darstellen.
Die Dialoge sind (wie stets bei Tarantino) zunächst wirklich witzig, werden aber mehr und mehr inhaltsreich und ermüden nach einer Stunde.

Das andere Problem ist für mich der Raum. Es gibt nur einen Ortswechsel, von der Postkutsche zu Minnie's Miederwarenladen, wo der Film dann bis zum Schluss verbleibt (mit kleinen Ausflügen in den Stall und einer warum auch immer eingestreuten Rückblende).
Auch das kenne ich so nicht von Tarantino. Es engt die Handlungsmöglichkeiten extrem ein.

Außerdem, und das finde ich am sträflichsten, verschenkt Tarantino jede Menge potentieller Spannung. Viele Momente verpuffen einfach, da keiner, vor allem der Zuschauer nicht, weiß, wer wer ist und wer mit wem unter einer Decke steckt und worauf das Ganze hinausläuft ...

Marco:
Ja, da begeht er einige kapitale Fehler. Ich komme da nochmal drauf zurück.

Bianca:
Wie war dein Eindruck?

Marco:
Ich muss gestehen, dass ich schon immer meine Probleme mit Tarantino hatte.
Ich bin mir zwar bewusst, wie stark er das Kino erweitert und beeinflusst hat, bin aber gar nicht so ein Riesenfan seiner Filme per se.
RESERVOIR DOGS, der ja im Grunde auch nur in einem Raum spielt, ist mir viel zu spröde, da hatte Tarantino noch nicht seinen Flow gefunden.
PULP FICTION halte ich immer noch für seinen besten Film, weil er am rundesten ist.
JACKIE BROWN finde ich einfach langweilig, KILL BILL zu unkreativ und DEATH PROOF ist nicht wirklich schlecht, aber nichts von den dort besprochenen Themen rührt mich an.

Bianca: 
Und ich liebe RESERVOIR DOGS, PULP FICTION, JACKIE BROWN und KILL BILL. Okay, DEATH PROOF ist schrecklich, die Dialoge sind so belanglos und repetitiv, dass ich fast eingeschlafen bin ... 
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Marco:
Mein damaliger Mitbewohner ist volles Mett eingepennt. Ich konnte mich aber auch nur mit Mühe wachhalten.
Ich war dann später wirklich erstaunt, dass mir mit INGLORIOUS BASTERDS und DJANGO UNCHAINED gleich zwei Tarantinos in Folge gut gefallen haben und glaube mittlerweile, dass das daran liegt, dass es historische Stoffe sind.
Im Grunde sage ich schon seit 15 Jahren, dass Tarantino keine Actionfilme dreht, sondern Dialogfilme. Klar, ab und an kracht und scheppert es mal, aber vornehmlich sitzen zwei oder mehr Personen an einem Tisch oder einem Auto und unterhalten sich über Alltägliches.

Bianca:
Jupp, da stimme ich dir zu! DEATH PROOF allerdings hat eine großartige Actionsequenz am Ende und was ich nicht wusste ist, dass Tarantino auch der zuständige Kameramann des Films war! Beim Schlussakkord war ich dann wieder wach!


Marco:
Der ist leider so kurz, dass man kaum Zeit hat, die Augen zu öffnen, bevor endlich der Abspann kommt.
Jedenfalls: Ich halte THE HATEFUL EIGHT deshalb beinahe für seinen ehrlichsten Film: Er hat einfach auch noch die letzte Handlung rausgeworfen, und sich gänzlich auf die Dialoge konzentriert, die er ohnehin immer zum Kern seiner Filme stilisiert hat.
Man merkt aber jetzt auch, dass es eben immer auch diese Dynamik war, die Ortswechsel, die Figurenwechsel, die Actionsequenzen zwischendrin, die dafür gesorgt haben, dass seine Aneinanderreihung von Dialogen nicht trocken wirkt. In THE HATEFUL EIGHT sorgt das Fehlen dieser auflockernden Elemente dafür, dass man angestrengt wird.

Der Film ist die ganzen ersten drei Kapitel unglaublich ermüdend und ein bisschen trocken. Erst in der letzten Stunde findet er wieder zu seiner Dynamik zurück.
Ich finde den Film aber nicht untypisch für Tarantino, sondern eben einen sehr, sehr puren Tarantino. Er weicht halt leider von seiner Erfolgsformel ab, was die Schwächen seines Filmstils deutlicher offenbart.

Kapitel 2: Die Geschichtsstunde wider die Handlung


Marco:
Aber: Für mich war THE HATEFUL EIGHT inhaltlich hochinteressant. Durch die historischen und philosophischen Diskurse. Tarantino doziert ja hier ausschweifend über vieles, was ihm in Amerika nicht zu gefallen scheint, oder?
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Bianca:
Unbedingt! Tarantino ist ein sehr politischer Regisseur, spätestens seit INGLOURIOUS BASTERDS. In THE HATEFUL EIGHT kulminiert das in einem Feuerwerk an Kritik: an der Gesellschaft, den rassistischen Ressentiments, dem Sinn von Rache, der Selbstjustiz, der Todesstrafe, dem Sexismus.
Er lässt wie selten Welten aufeinanderprallen, und zwar so wunderbar wütend und zielgerichtet.
Und genau das liebe ich an seinem neuen Film!
Allerdings ergießen sich auch ganze Wortschwalle auf den Zuschauer, die mich stark ermüdet haben. Leider. 

Der amerikanische Bürgerkrieg ist noch immer eines der intensivsten Kapitel der amerikanischen Geschichte und nimmt bei Tarantino in THE HATEFUL EIGHT einen großen Raum ein.
In der Kutsche, aber auch in Minnies Miederwarenladen.
Auf den Erfahrungen aller Beteiligten in jenen dunklen Tagen basiert vieles von dem, was dann geschieht.
Ich glaube aber, dass die Thematik an sich nicht die Schwäche war, sondern das Drehbuch. (Darf man das beim Großmeister des Drehbuchs überhaupt sagen???)

Kapitel 3: Das Drehbuch wider die Spannung


Marco:
Klar darf man! Was hältst du denn vom Drehbuch? 


Bianca:
Es ist eines seiner schwächeren...

Also jeder ist ja im Vorfeld schon davon ausgegangen, dass Tarantino zumindest oscarnominiert wird (er selbst witzigerweise ja auch). Nu isses seit INGLOURIOUS BASTERDS die erste Nullnummer geworden.
Ich erahne ja, weshalb. Was meinst du denn dazu?

Marco:
Die Nicht-Nominierung halte ich für in Ordnung. Rein dramaturgisch gesehen war sein Drehbuch problematisch. Vor allem aber war der Film dazu noch problematischer.
Was ich spannend finde: Es wird im Drehbuch offensichtlich, dass Tarantino versucht, in Minnies Miederwarenladen vieles von dem Wiederauferstehen zu lassen, was historisch während des Bürgerkriegs geschehen ist. Leider wird das im Film selbst gar nicht immer deutlich. Ein Beispiel: Der Engländer Oswaldo teilt den Laden an einer Stelle so auf, dass sich darin die USA des Bügerkriegs wiederfinden: Die Bar ist Philadelphia, die beiden Sessel am Kamin stellen Georgia dar.

Im Drehbuch findet sich nun eine schöne Szene, in der Marquis, der schwarze Nordstaaten-Major, den Südstaaten-General von der Bar aus erschießt. Ein Angriff Philadelphias auf Georgia. Im Film endet die Szene einfach nur mit einem Schuss und einem Tod.
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Im Script hingegen stürzt der General ins Feuer und verbrennt bei lebendigem Leibe. In Anbetracht der Tatsache, dass das Kapitel im Drehbuch als „The Burning of Atlanta“ untertitelt ist, wird klar, dass Tarantino hier auf sehr kreative Art und Weise eine der Schlüsselszenen des Bügerkrieges nachspielt: Die Südstaaten werden vernichtend geschlagen, als Atlanta, Hauptstadt von Georgia, abbrennt.
Leider hat diese smarte Idee es nicht in den Film geschafft. Und auch andere Spielereien wie diese finden sich nicht im Film.

Bianca:
Ach ja, schade, dass Tarantino im Film selbst so viele seiner grandiosen Drehbuch-Ideen immer über den Haufen wirft. Mir scheint, dass sich das gerade bei TH8 eher negativ auswirkt. Hast du noch mehr Unterschiede gefunden? Du hast dich ja durch das Originaldrehbuch gegraben...

Marco:
Ein paar gibt es. Es gibt eine lange Szene, die erklärt, dass die „Bösen“ John Ruth schon beim Eintreten über den Haufen schießen wollen, und wieso das nicht klappt. Eine der größten Logiklücken im Film, dass sie ihn nicht einfach direkt abknallen, sondern sich erst verstecken und tarnen.
Deutlich wird auch eine andere Logiklücke, dass nämlich niemand erkennt, dass Daisy Domergue zur berüchtigten „Domingray“ Bande gehört. Ein simpler Aussprachefehler: Im Script steht deutlich, dass „Domergue“ als „Domingray“ ausgesprochen wird.
Witzig ist auch, dass Marquis im Script nicht durch die Hoden geschossen wird, sondern durchs Rückgrat, und gelähmt wird. Deshalb kann er nicht mehr vom Bett aufstehen.

Alles das hätte einige der größeren Logiklöcher des Films gestopft.
Aber die sind ja nicht das einzige Problem des Films.
Tarantino versucht hier scheinbar, ein an Agathe Christie erinnerendes Rätselspiel zu inszenieren, scheitert aber daran, dass er die Zuschauer ausklammert. Denn das spannende an den Christie-Krimis ist ja, dass immer alle Hinweise und Informationen offen ausliegen, und der Zuschauer sie nur nicht sieht oder erkennt. Hier aber fehlen die Hinweise einfach, anhand derer die Zuschauer "mitraten" könnten.

Bianca:
Stimmt! Ich glaube, deshalb empfand ich die Dialoge auch etwas anstrengend und am Ende leider irreführend, ich habe immer auf Hinweise gewartet, die es mir erlauben, hinter die Geschichte zu steigen. Ein bisschen mitzuraten. Und das war, ob der Wortgewalt, natürlich nicht leicht.
Manchmal wurden ja Hinweise gestreut, die dann aber verpufften oder die wir als Zuschauer erst zu spät zu sehen bekamen, also direkt mit der Aufklärung sozusagen.

Marco:
Auch da ist das Drehbuch selbst etwas besser. Etwa, wenn Bob, als die Kutsche eintrifft, überrascht ist über die Menge der Passagiere und verzweifelt versucht, den „Henker“ alleine in den Stall zu locken, was ihm nicht gelingt. Im Film wird das gar nicht behandelt.
Ein „Mitraten“ der Zuschauer wird dadurch, wie schon gesagt, unmöglich. Man erfährt als Zuschauer die Hinweise immer erst dann, wenn die Figuren sie erfahren, ist also nie schlauer als die Figuren. Am deutlichsten wird das bei dem „Schild über der Bar“. Da legt der Film immer wieder mal kleine Fallen und Hinweise, und entscheidend wird am Ende eine Information, die nie im Film auftaucht. Nein, als Whodunnit-Krimi funktioniert der Film kein bisschen.
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Auch als Thriller funktioniert der Film nicht, weil Tarantino dem Zuschauer ständig Informationen vorenthält.
Man gucke sich nur mal ein paar andere Höhepunkte Tarantinos an: Die legendäre Kellerszene in INGLORIOUS BASTERDS etwa, wird ja nur dadurch so spannend, dass der Zuschauer weiß, dass die Amerikaner und Engländer sich als Deutsche ausgeben, und sich fragt, ob die SS-Männer das herausfinden. Man stelle sich mal vor, wie öde die Szene gewesen wäre, ohne dieses Wissen. Für derartigen Thrill muss der Zuschauer immer über zusätzliche Informationen verfügen. Genau das fehlt aber in THE HATEFUL EIGHT ständig. Wie spannend wäre die Kellerszene denn gewesen, wenn niemand gewusst hätte, wer all die Figuren sind, und dass sie sich zu verstecken versuchen?

Auch in DJANGO UNCHAINED gibt es diese hervorragende Sequenz, eigentlich der ganze dritte Akt: Schulz und Django wollen Calvin Candie reinlegen, um Djangos Frau zu befreien. Das ist schon unglaublich spannend. Dann aber sieht man, wie Calvin erfährt, was seine Besucher vorhaben. Das anschließende Gespräch ist dadurch so spannend, dass man mehr weiß als die Figuren.
Genau das tut Tarantino in THE HATEFUL EIGHT aber nicht. Der Zuschauer erfährt erst am Schluss, quasi während der Auflösung der Situation, was überhaupt die Situation war. Dadurch baut sich auch den ganzen Film über keine Spannung auf. Jeder ist verdächtig, und am Ende ist die Auflösung, wer nun böse ist und wer nicht völlig beliebig und lässt einen kalt.

Es gibt eine Szene, direkt zu Beginn des vierten Kapitels, die wirklich spannend ist, weil man als Zuschauer wieder mehr weiß als die Figuren. Das fünfte Kapitel hingegen könnte spannend sein – wüsste man nicht bereits exakt, wie es ausgeht.
THE HATEFUL EIGHT funktioniert am Ende weder als Thriller noch als Krimi, sondern degradiert den Zuschauer zum unwissenden und passiven Betrachter. Das hat Tarantino schon wesentlich besser hinbekommen.

Bianca:
Meine Rede! Die Eingangssequenz in INGLORIOUS BASTERDS oder das Kartenspiel im Keller, oder das Abendessen bei Candie. Boah! Zuschauer und Kolporteure wissen mehr als die, die gelinkt werden sollen und es hat mich Nägel gekostet! So funktioniert Spannung für mich!

Marco:
Dabei hätte sich THE HATEFUL EIGHT perfekt dafür angeboten. Vieles von dem, was der Film an historischen Verweisen aufzubauen versucht, verpufft ebenfalls, weil es zu dezent ist, oder weil Tarantino etwas nicht konsequent aus seinem Script übernommen hat. (Wobei man ihm zugute halten muss, dass der Film deutlich näher am Script bleibt als etwa noch DJANGO UNCHAINED!)
Was ich aber am bedauerlichsten finde ist, dass das Script für Tarantinos Verhältnisse massive logische Löcher hat. Man beachte: Das erste, was John Ruth tut, nachdem er in Minnies Miederwarenladen kommt, ist, dem Raum den Rücken zuzudrehen und entspannt einige Minuten lang zwei Bretter an die Tür zu nageln , während hinter ihm(!) jemand sitzt, der den ganzen restlichen Film über nur auf eine günstige Gelegenheit wartet, ihn in einem gefahrlosen Augenblick abzuknallen. Günstiger wäre es nie mehr geworden. Im Grunde hätte der Film hier zu Ende sein müssen.

Erstaunlich ist auch, dass der Kutscher, O.B., als sie an Minnies Miederwarenladen ankommen, erklärt, sie hätten dort gar nicht haltmachen sollen. Schuld sei nur der Blizzard. Ja – wenn sie dort gar nicht hätten Halt machen sollen, wieso werden sie dann dort erwartet? Als die Falle dort aufgebaut wurde, war noch kein Blizzard zu sehen.

Das sind zwar die beiden größten, aber bei weitem nicht die einzigen Löcher in der Handlung.
Alles in allem spürt man deutlich, dass es Tarantino hier eher um die Bürgerkriegs-Metaphern und die dozierten Inhalte ging als um den unterhaltsamen Aspekt. Und so wirkt der ganze Film wirklich trocken und ist weit von den bisherigen Werken Tarantinos entfernt. Das, was er in THE HATEFUL EIGHT macht, macht er gewohnt gut, es sind die Dinge, die THE HATEFUL EIGHT fehlen, und die für gewöhnlich in Tarantinos Filmen vorhanden sind, die den Streifen schlechter machen als er sein müsste.
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Bianca:
Oja! Je länger der Film sackt, und für mich musste er sacken, und ich musste mich im Nachhinein mit ihm beschäftigen und recherchieren, desto mehr Potential gewinnt er im Gesamtkonstrukt. Umso ärgerlicher werden dann natürlich die Löcher und Längen, weil sie im Drehbuch weniger gravierend waren, der Film in dieser Form aber wirklich unlogisch und spröde wird.


Und ich fühle mich halt als Zuschauer wenig an die Hand genommen – zum bloßen Beobachter degradiert, was ich bei einem Thriller/Krimi frevelhaft finde, denn da will man ja mitraten, und vielleicht belohnt werden!
Was mir dazu noch einfällt, ist das Schachspiel, das immer wieder eingeflochten wird. Schach ist ja auch ein Spiel, das oft mit Kriegshandlungen, bzw. Armeeaufstellungen im Gleichnis herhalten muss. Das hat mir gefallen, auch wie es erwähnt und eingesetzt wurde!

Was dem Film auch irgendwie fehlt, ist ein klarer Antagonist. Wie in KILL BILL, INGLOURIOUS BASTERDS und DJANGO UNCHAINED. Hitchcock, zurecht der Meister der Spannung, hat das so schön beschrieben: Ein Krimi ist nur so gut, wie sein Bösewicht. Hier gab es eindeutig irgendwie zu viele.
Aber jetzt was Erfreuliches!!!
Was sagst du zu den Darstellern? Es sind ja fast alles alte Tarantino-Hasen!

Kapitel 4: Die Schauspieler wider einander


Marco:
Die Schauspieler finde ich über alle Kritik erhaben.
Leider kommen Michael Madsen und vor allem Bruce Dern viel zu kurz, aber dafür freue ich mich, dass Tarantino Jennifer Jason Leigh aus der Versenkung und mal wieder ins Rampenlicht holt.
Ich persönlich freue mich allerdings besonders für Goggins! Ich bin seit THE SHIELD ein Riesenfan des Texaners und freue mich, dass er dank Tarantino in DJANGO UNCHAINED und vor allem jetzt in THE HATEFUL EIGHT einem größeren Kinopublikum bekannt wird.
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Über Leigh müssen wir ja eigentlich nicht sprechen, sie adelt schon seit über 30 Jahren jeden Film, in dem sie auftritt. Ich bin früher nur ihretwegen ins Kino gerannt. HUDSUCKER, BACKDRAFT, ExISTENz und zig andere Filme habe ich nur ihretwegen gesehen. Viele jüngere Filmfans haben sie dank Tarantino jetzt erst entdeckt. Das finde ich super.
Und Leigh darf endlich wieder mal in einer großartigen Rolle ran! Die Ikone des 80er/90er Jahre Indie-Films! Tarantino hat für solche Reanimationen immer ein tolles Händchen. Er war auch angetan von ihrem Vorsprechen zu der Rolle und wollte sie unbedingt! Als 45-jährige Hauptprotagonistin steht sie zudem für eine Filmgruppe, die nur selten gute Rollen erhascht! Und sie spielt so super. Oft ist sie ja nur Staffage im Bild, aber es hat Spaß gebracht, beim zweiten Kinobesuch mehr auf sie zu achten, als auf das, was eigentlich auf der Leinwand passiert.
Alle haben mächtig Spaß vor der Kamera, das spürt man.

Bianca:
Ich unterschreibe deine Meinung zum Cast! Einfach saucool und über jeden Zweifel erhaben! Und die Protagonistenpalette ist politisch korrekt zusammengewürfelt: ein Schwarzer, ein Latino, ein alter Mann, ein Rassist, fröhliche Menschenfreunde (die ja nie sehr alt werden bei Tarantino), kriminelle Menschenhasser, Egomanen, eine Frau um die 50 – also alles dabei ... Und alle haben einen sehr schlechten Zahnstatus!

Wenn das mal alles keine zusätzliche politische Aussage ist!
Toll, dass es Jennifer Jason Leigh geworden ist! Eine großartige Frauenrolle für eine wunderbare Schauspielerin. Die Rolle wollten übrigens auch Jennifer Lawrence, Robin Wright und Hilary Swank!
Tarantino erzählt, dass er beim Vorsprechen von Leighs Körperlichkeit angetan gewesen sei. Danach habe er, als großer Fan von ihr, ein privates "Jennifer Jason Leigh-Festival" abgehalten, ihre bekanntesten Filme nochmal gesehen - und sie besetzt!

Leider haben Dern und Madsen sehr wenig zu tun und wirken diesmal deplaziert oder völlig unterfordert.

Kapitel 5: Der Score wider die Moderne


Bianca:
Mit Morricone als Komponist hat Tarantino sich darüber hinaus die wohl größte Ikone der Filmmusik ins Boot geholt, die es zur Zeit gibt. Und einen Lebenstraum erfüllt. Dabei hatten sie sich nach DJANGO UNCHAINED angeblich zerstritten, weil Morricone nur einen Song statt des gesamten Scores beisteuern durfte. Das wollte Il Maestro nicht auf sich sitzen lassen und wetterte!
Schön, dass es nun doch nochmal zu einer Zusammenarbeit gekommen ist.
Und, was meinst du, hat es sich gelohnt?

Marco:
Der Soundtrack lässt mich ein wenig ratlos zurück. Ich mag Morricones Musik in dem Film sehr, vor allem die Titelmusik erinnert mich erfreulich an das Theme aus DIE UNBESTECHLICHEN, das eines meiner Lieblingsstücke von Morricone ist.

Leider ist der Einsatz im Film oftmals etwas holperig. Da merkt man schon, dass ein Leone oder ein De Palma das deutlich besser integriert haben.
Nach ein paar Durchläufen des Soundtracks muss ich auch sagen, dass Morricone am Ende gefühlt nur zweieinhalb Melodien geschrieben hat, die er dauernd variiert. Es klingt alles sehr repetetiv. Und dass sich nur zwei zeitgenössosche Tracks darauf finden, finde ich auch schade, gerade da konnte Tarantino immer glänzen.
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Bianca:
Oja, das ist mir auch aufgefallen! Er hatte immer wunderbare Scores, tolle Dialoge und echt coole zeitgenössische Klassiker auf dem Soundtrack. Hm, ich sag ja, diesmal ist alles etwas anders als sonst, und das macht es mir schwer. Selbst beim Soundtrack ...
Morricone hatte am Ende für mich leider nur eine erinnerungswürdige Melodie und ich bin riesiger Morricone-Fan!
Der Soundtrack insgesamt ist für mich einer der schwächsten Tarantino Soundtracks überhaupt und wird wohl der erste werden, den ich mir nicht zulege ...

Marco:
Alles in allem sage ich, der Soundtrack ist grundsätzlich gut, aber nicht sauber eingesetzt und auch nicht wirklich abwechslungsreich.
Für mich irgendwie symptomatisch für den ganzen Film: Die Einzelelemente sind alle gut, aber die Art und Weise wie sie zusammengesetzt sind, wirkt holperig, oft minderwertig und an vielen Stellen ist man von Tarantino schlicht Besseres gewohnt. Die Summe von THE HATEFUL EIGHT ist dadurch am Ende schlechter als seine Einzelelemente.

Kapitel 6: 70-Millimeter wider Digital


Marco:
Zum Abschluss noch zur großen Preisfrage: Roadshow oder nicht! Wir haben uns die Mühe gemacht, und den Film einmal in "Standardversion" und einmal in, wie Tarantino es selbst im Script schreibt, "glorreichem 70mm" gesehen. Welche Variante gefiel dir besser, welche Unterschiede hast du bemerkt?

Bianca:
Hmm … Es gibt eine winzige Szene in der 70mm Fassung, die in der Standardversion fehlte. Ab und zu ist das Bild ein wenig breiter, so dass man noch Personen im Hintergrund stehen sah. Ansonsten fürchte ich, ist mir kein so großer Unterschied aufgefallen. Und dir?

Marco:
Das Erlebnis war natürlich toll. Die Overtüre, eine echte Pause, und all das. Für mich am spannendsten war, dass meine Augen es gar nicht mehr gewohnt waren, einen echten Film zu sehen. Ich habe keine Ahnung, wann ich zuletzt einen Film gesehen habe, der nicht digital projiziert wurde. Hier lief ja wieder ein richtiger Filme durch den Projektor. Bei unserem ersten Sichtungsversuch führte das nach dem zweiten Kapitel auch leider zu einem technischen Fehler. Der Projektor ging kaputt, sodass wir eine Woche später nochmal ran mussten.
Auf jeden Fall: Mir haben die ersten dreißig Minute von dem Flackern, das ja zwangsläufig entsteht, wenn da echte Bilder durch den Projektor gezogen werden, wirklich die Augen gebrannt.
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Ansonsten muss ich gestehen, ist der Mehrwert … gering. Das Bild war spürbar breiter, was aber in einem Kammerspiel einfach nicht wirklich ins Gewicht fällt.
Das Roadshow-Feeling war super, aber in diesem Film war der reine 70mm Mehrwert leider nicht allzu groß.

Bianca:
Spannend war aber noch, dass wir ihn das zweite Mal ja auf Englisch gesehen haben. Walton Goggins ist so viel witziger.

Marco:
Absolut. Damien Bichier auch. Bob war zum Schießen. Ich fand Goggins seltsam synchronisiert. Man hört, dass der Sprecher versucht, seine Art zu imitieren, aber es wirkte immer so gekünstelt. Grundsätzlich fand ich den Film aber gut synchronisiert, was die Sprüche und Inhalte betraf. Da kann ich nicht nörgeln.
Ich habe mir beim zweiten Mal auch die Mühe gemacht, mal auf die Hintergründe zu achten. Spannend, was da alles abläuft. Die nicht im Fokus stehenden Figuren spielen einfach weiter. Grade Leigh ist einen zweiten Besuch wert. Sie bleibt die ganze zeit in ihrer Rolle, und wenn man achtet merkt man, dass sie genau weiß, wer ihre Leute sind, und versucht ihnen zu helfen, ja nimmt manchmal sogar Kontakt zu ihnen auf. Da passiert irre viel, sie spielt die ganze Zeit aktiv ihre Rolle, ohne dass man es wirklich mitbekommt. Und vor der Innenseite der Tür baut sich ein kleiner Schneehaufen in Minnies Miederwarenladen auf, weil der Schnee durch die Ritzen fällt. Und, und, und. War alles sehr spannend.
Also, wie lautet dein Fazit?

Bianca:
Ein sehenswerter Film! Dennoch hat er mich enttäuscht und über weite Strecken gelangweilt. Hm, toll war das "Zusammengehörigkeitsgefühl" im Publikum, besonders bei der Roadshow. Endlich war der Kinosaal wieder prall gefüllt und selbst in der OmU-Vorstellung in der Matinee war es voll. Es hatte irgendwie etwas Familiäres, etwas Magisches. Damit meine ich aber das Drumherum, weniger den Film. Und das ist es, was ich in ein paar Jahren noch mit diesem Film verbinden werde. Weniger das, was auf der Leinwand abging, als die Stimmung im Saal. Für mich ein versöhnliches Resumee.

Marco:
Witzig, klingt für mich wie das, was ich aus STAR WARS - DAS ERWACHEN DER MACHT mitgenommen habe: Stimmung im Saal: Yay! Das Zeug auf der Leinwand: Meh.
Also, für mich ist THE HATEFUL EIGHT schwierig. Es ist einer von Tarantinos schwächsten Filmen, und er wird wohl nie so kultig werden wie seine anderen Streifen. Ich erahne, was er damit bezweckt hat, aber irgendwie kommt es nicht rüber. Ich hoffe, dass er mit seinem nächsten Film, zwei will er ja vermutlich noch drehen, wieder etwas abliefert, das mich begeistert. Und ich hoffe, dass noch ein paar Filme auf 70mm erscheinen. Vielleicht sollte ich Christopher Nolan mal ein Memo schicken ...

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