10.01.16

The Revenant (USA 2015) – Mensch und Natur im echten Wilden Westen

Kalt, schroff, intensiv. Nach seinem letzten, eher verkünstelten Hit BIRDMAN legt der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu nun einen beinharten Survival-Western vor. Die meisten Zuschauer sind begeistert, und auch wir haben selten ein intensiveres Erlebnis im Kinosaal gehabt.
Dabei bietet auch THE REVENANT viel Stoff für eine künstlerische Deutung - und einen Einblick in eine Welt, die hierzulande kaum bekannt ist. Grund genug für uns, beides einmal in Augenschein zu nehmen.
© Twentieth Century Fox
- Spoilerwarnung -
Die Handlung von THE REVENANT ist nicht komplex und lebt kaum von unerwarteten Wendungen, sondern fast ausschließlich von seiner Atmosphäre und den Bildern. Dennoch werden wir hier einige Details verraten. Wer sich im Kino gänzlich überraschen lassen will, schaut nach dem Kinobesuch noch einmal vorbei.

Biancas Blick:

THE REVENANT sorgte schon im Vorfeld für Schlagzeilen: Neun Monate Drehzeit bei natürlichem Licht, also 2 Stunden täglich, in den entlegensten Winkeln Kanadas, Temperaturen von bis zu -25°C, überzogene Drehpläne, unzufriedene Mitarbeiter, Tom Hardy, der aus den Arbeiten zu SUICIDE SQUAD aussteigen musste, und einer der härtesten Drehs aller Beteiligten. Dazu ein unerwarteter Umzug nach Argentinien, als in Kanada ungewöhnlich früh die Schneeschmelze beginnt. Der neue Film des frischgebackenen Oscargewinners Alejandro González Iñárritu hatte also einen fliegenden Start, und passend zur Kältewelle läuft er auch in deutschen Kinos. Und erweist sich als absoluter Segen! 

Alejandro González Iñárritu legt nach BIRDMAN ein beeindruckendes Werk vor, in dem er die Brutalität der Natur und der Natur des Menschen in atemberaubende Bilder verpackt. Dreh und Angelpunkt ist der wohl am intensivsten inszenierte Bärenangriff überhaupt. Und der Regisseur vermengt seine packende Abenteuergeschichte mit einer spirituellen Reise und metaphorischen Fragen über das Menschsein und den Sinn von Rache. Antworten liefert er keine. Wer mag, kann selbst daran arbeiten, der intensiven, rohen und letztendlich nihilistischen Geschichte mehr abzutrotzen, als sie auf den ersten Blick anbietet.

Ein einfacher Plot?


Die Handlung von THE REVENANT ist denkbar simpel gehalten.
Hugh Glass ist „Trapper“, ein Fallensteller auf der Jagd nach Biberpelzen. 1823 arbeitet er für die Rocky Mountain Fur Company unter der Führung des Pelzhändlers Andrew Henry. (Ein historischer Abriss über die Welt und Bedeutung des Biberpelzhandels findet sich am Ende dieser Filmbesprechung.) Als er von einem Grizzly angefallen und schwer verletzt wird, lässt man ihn zurück. Drei Kameraden sollen ihm beim Sterben Gesellschaft leisten: sein Sohn, der Halbindianer Hawk, und die Trapper John Fitzgerald und Jim Bridger. Als die Furcht vor sich nähernden Indianern unerträglich wird, eskaliert die Situation – Fitzgerald tötet Hawk und flieht mit Bridger. Glass lassen sie noch lebendig und halb beerdigt zurück.
Doch Glass überlebt. Er zieht sich aus seinem Grab und fortan schwerverletzt durch die Wildnis, getrieben von nur einem Gefühl: Rache für den Mord an seinem Sohn.
Es kommt zu einem gnadenlosen Wettlauf gegen die Zeit und die tödliche Kälte des einbrechenden Winters.

Die simple Kombination aus Rache-Western und Survival-Drama ist dabei keine Sekunde langweilig oder gar „einfach“. Iñárritu bietet allen, die in dem Film mehr sehen wollen als ein rohes Abenteuer, zahlreiche Möglichkeiten zur Deutung, zur Interpretation, und um Fragen zu stellen. Etwa die vordergründigste: Was ist brutaler? Die Natur oder der Mensch?
Diese Frage durchzieht den Film vom ersten Bild an und hebt ihn dank einiger weiterer Elemente auf eine zutiefst philosophische, mystische, ja, metaphorische Ebene. Obwohl der Film unter realen, schwierigen Bedingungen gedreht wurde, ist kein einziges Bild daran zufällig. 
Die Kälte, die man als Zuschauer zu spüren meint, kommt nicht allein durch den Winter, der die Figuren immer weiter einhüllt, sondern ebenso durch die Handlungen derer, die an diesem unwirklichen Ort zu überleben versuchen, Mensch wie Tier.

Der echte Glass


Es wird nicht erstaunen, dass sich Iñárritus Film große Freiheiten nimmt, wenn er Glass' realen Leidensweg darstellt. Hugh Glass' Kampf gegen den Bären, seine Rückkehr ins Fort Kiowa und seine Suche nach Bridger und Fitzgerald sind tief in der amerikanischen Folklore verankert und schon zu Lebzeiten von Glass eine immer wieder gern erzählte und aufgebauschte Sage, deren reale Ursprünge heute kaum noch auszumachen sind.

So hatte Hugh Glass niemals einen Sohn. Und ob er je verheiratet war und seine Frau bei militärischen Übergriffen umgebracht wurde, ist nicht gesichert. Sie begleitet Glass als Geist auf seiner Reise durch die Wildnis und verlässt ihn erst am Ende des Weges. Sie lässt ihn mit seiner Tat und seiner Entscheidung zurück, und mit der Frage: Wozu das alles? 
© Twentieth Century Fox
Spannend dabei ist eine frühere Version von Drehbuchautor Mark L. Smith, der den Film anfangs nicht als Rachedrama verstand. Stattdessen war es Glass' Gewehr, das ihn antrieb. Auf diesem befand sich ein letzter Tropfen Blut seines als Kind gestorbenen Sohnes, und Fitzgerald stahl es ihm bei seiner Flucht. (Auch dem echten Glass wurde sein Gewehr gestohlen.)
Iñárritu kam darauf, den Sohn einzubauen, um den rassistischen Aspekt der Ära und die Art und Weise, wie Trapper und Indianer an der Frontier miteinander verschmolzen waren, stärker herauszuarbeiten. Beiden war außerdem klar, dass Rache ein „hohles“ Motiv für eine derartige Reise ist, und dass Glass' Reise eine spirituelle werden muss, an deren Ende bloß die alte, Konfuzius zugeschriebene Weisheit stehen kann: „Wer sich auf die Reise macht, Rache zu finden, der schaufle zwei Gräber.“

Auch verschärft Iñárritu den Film, indem er den im Sommer stattgefundenen Angriff in den frühen Winter legt. Und er verwebt einige, im Winter zuvor aufgezeichnete Zwischenfälle mit den Indianern der Ree in die Handlung des Films.
All das dient dazu, Glass' Weg dramatischer zu gestalten. Die Rache dient ihm als Motivation, all die Qualen auf sich zu laden und niemals aufzugeben. Und der Winter macht die Hindernisse, die er überwinden muss, nur um so schwieriger. 
Unklar ist der Zeitrahmen, den Glass im Film unterwegs ist. Der echte Glass robbt sich, je nach Version der Legende, zwischen sechs Wochen und drei Monaten mit gebrochenem Bein durch die Wildnis und legt am Ende 300 Kilometer bis zum sicheren Fort zurück!
Er verzeiht wohl seinen beiden Trapperkollegen, und Andrew Henry, der Anführer seiner Gruppe, kehrt im Jahr darauf, sicher zu seiner Familie zurück.

Der Geist und die Menschwerdung


Als „Revenant“ bezeichnet man nicht nur irgendeinen „Rückkehrer“, sondern speziell einen Geist, der aus einer anderen Welt zurückkehrt. Zumeist sind sie böse, wollen sich für ein Unrecht rächen. Der Mythos reicht bis ins 13. Jahrhundert und durchzieht viele Glaubensrichtungen im Mittelalter.
Erst nach ihrer Rache ist ihnen der Übergang in die jenseitige Welt gestattet.
Auch Hugh Glass kann nicht sterben, bevor er seine Aufgabe erfüllt hat. Die Grundhandlung verfolgt damit einen populären, weltweit bekannten Folkloremythos.
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Hugh Glass' „Auferstehung“ bietet auch eine weitere Frage an: Die nach dem Wesen des Menschen. Was ist noch „menschlich“ in dieser unwirklichen Welt? In einer übermächtigen Natur?
Hugh Glass erhebt sich aus seinem Grab wie nach einer Wiedergeburt und kann, wie nach jeder Geburt, weder sprechen noch laufen. Er kriecht über den gefrorenen Boden, röchelt, brabbelt und neologisiert. Ähnlich einem heranwachsendem Menschen muss auch Glass das Laufen und Sprechen im Zuge seiner langsamen Gensesung erst wieder lernen, bevor er schließlich als aufrecht gewachsener Mensch Rache nehmen kann.
Wer mag, kann hier die Frage ansetzen: Wozu all diese Evolution? Das Aufwachsen? Forscher gehen noch heute davon aus, dass die Sprache und der aufrechte Gang es dem Menschen ermöglichte, sich in der uns bekannten Form weiterzuentwickeln. Zivilisationen und Gesellschaften zu bilden. Doch gehört zu Zivilisation nicht auch, sich gegen Rache zu entscheiden? Empathie zu zeigen? Zu abstrahieren? 
Wird Glass zu einem zivilisierten Menschen, oder bleibt er der auf Rache beschränkte „Revenant“ aus der Wildnis? Was bedeutet „Rache“? Und für wen? Macht sie ein Unrecht ungeschehen? 
Der Film stellt viele Fragen, ohne Antworten aufzuzwingen. Die überlässt er dem Zuschauer.

Dazu passt, dass alle Personen im Film Suchende sind. Die Ree-Indianer suchen eine entführte Häuptlingstochter. Fitzgerald sucht Frieden und Überleben. Der Pawnee, der Glass‘ Weg kreuzt, sucht Mitglieder seines Stammes. Andrew Henry sucht Glass und Glass sucht Fitzgerald.
All diese Suchen kommen zu einem Ende, mag es auch noch so schmerzvoll sein. Alle Suchenden üben ihre Rache oder werden von ihr verschlungen.

Gott und die Natur


Die Natur kontrastiert und unterstreicht das Geschehen auf der Leinwand in gleichem Maße.
Immer wieder zeigt der Film eine Natur, die in ihrer Schönheit kaum zu überbieten ist. Und gleichzeitig macht sie es den Menschen schwer, in ihr zu überleben. Sie erscheint weiß, kalt und leblos. Alles in ihr kämpft ums Überleben, nur auf sich bedacht, weder wertend noch moralisierend. Nichts und niemand scheint in diesem Überlebenskampf sicher zu sein, der Tod kann hinter jeder Biegung völlig unvermutet, völlig willkürlich über einen kommen. Die Welt in THE REVENANT kennt und zeigt nur wenig Mitgefühl, Empathie oder Menschlichkeit.

Und die wenigen Elemente, die doch etwas davon aufbringen, sind dem Tod geweiht. Wer hilft, stirbt, und wer stirbt, hilft. Diese, mit beinahe göttlicher Willkür gleichzusetzende Gnadenlosigkeit durchzieht den Film von Anfang bis Ende und macht ihn schwer verdaulich. Macht ihn kalt und intensiv.
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„Rache liegt in Gottes Hand“ ist ein Thema des Films. Mit dieser Frage spielt der Film – ist es an Glass, seine Rache zu üben, nachdem er sich durch Gottes Welt gequält hat? Traumsequenzen zeigen Berge von Bisonschädeln (das Ergebnis einer Maßnahme der Europäer – sie schlachteten Bisons ab, um den Indianern ihre Nahrungsquelle zu nehmen und sie zum Umsiedeln zu zwingen), eine der erinnerungswürdigsten Traumszenen spielt in einer Kirchenruine, die Gottes gekreuzigten Sohn zeigt – im Vordergrund sehen wir Glass, der den Geist seines toten Sohnes umarmt.

Immer wieder peitschen Schneestürme durch das Geschehen und reißen Glass aus einer vermeintlichen Sicherheit. Zwingen die Handlung in eine neue Richtung. Sturm als innerer Monolog? Als innere Qual? Als Zeichen des inneren Aufruhrs? Als Gottes Versuch, Glass aufzuhalten?
Wie deutet man die Lawine? Die übrigens eine echte ist, wenn auch künstlich ausgelöst. Ist sie eine Warnung, umzukehren? Kulminiert hier der innere Hass? Steht Glass kurz vor dem ersehnten inneren Frieden? Oder wird durch sie der Endkampf losgetreten, der in seiner Brutalität der Natur in nichts nachsteht?
Nur wenige Filme, die den Kampf Mensch gegen Natur thematisieren, und von denen Iñárritu sich inspirieren ließ, instrumentalisieren die Natur so stark als metaphysisches Mittel wie THE REVENANT.
Bis zum bitteren Ende.

Schmerzhafte Nähe


Wie auch schon in BIRDMAN dreht Iñárritu einige Szenen in auffällig langen Plansequenzen ohne sichtbaren Schnitt.
Jede Kampf- und Konfliktszene der Geschichte wird als ein langer Take inszeniert und reißt den Zuschauer dadurch unmittelbar ins Geschehen. Er fühlt sich wie ein anwesender Zeuge der Gewalt, der Furcht und des Kampfes, darf nicht erkennen, dass es „nur ein Film“ ist.
Das ist stark. Das ist unmittelbar. Und das ist ebenfalls schwer verdaulich.

Immer wieder wirft Iñárritu den Zuschauer auch dadurch in diese raue Welt, dass er die vierte Wand durchbricht. Drei Mal beschlägt die Kamera, das „Auge des Zuschauers“, durch den Atem der Filmfiguren. Schnee tropft auf die Linse. Immer wieder fühlt man sich, als stünde man direkt neben den Figuren.
Am unerträglichsten ist das in der Szene des Grizzly-Angriffs, einer Sequenz, die schon jetzt Hollywoodgeschichte schreibt und in die Popkultur eingehen wird. Über sechs Minuten wird man Zeuge einer entfesselten Macht, wird von trügerischen Rückzügen und Ruhephasen in Sicherheit gewiegt, spürt den Bärenpelz auf der Leinwand, den Atem des Tieres auf der Haut. Man wünscht sich einen Schnitt, eine Entfernung, irgendetwas, das die Grausamkeit der Szene erträglicher macht – aber die Kamera setzt dem Zuschauer so unerbittlich zu wie der Bär dem Trapper Glass.
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Am Ende des Films durchbricht der Film die vierte Wand ein letztes Mal, wendet sich direkt an die Zuschauer, als wolle er sie fragen: Und? War das der Sinn der Rache?
Der Zuschauer muss das, was er gerade gesehen hat nun selbst verdauen und mit Sinn füllen – so das denn überhaupt möglich ist. 

Fazit


THE REVENANT ist ein Kinoerlebnis, das physisch kaum spürbarer hätte inszeniert werden können.
Wenig Dialog, kaum Musik, viel unmittelbare Nähe und an Originalschauplätzen chronologisch gedreht legt das Drama die Messlatte für kommende Filme 2016 sehr hoch.
Leonardo DiCaprio spielt seine nahezu stumme Rolle intensiv und macht das Mitleiden einfach. Angesichts seines körperlichen Einsatzes in freier Natur muss man sich fragen: Was soll dieser Mann noch tun, um seinen verdienten Oscar in Empfang nehmen zu können?

Trotz der sehr offensichtlichen metaphorischen Elemente, die nicht zwingend für den Verlauf der Geschichte notwendig sind und deutlich herausragen, trotz leichter Längen im letzten Drittel und trotz der dramaturgischen Freiheiten, die sich Iñárritu herausnimmt, ist der Film sehenswert und in seiner Umsetzung das Intensivste, was das Kino in den letzten Jahren hervorgebracht hat! 


Marcos Blick: 

THE REVENANT ist nicht nur ein hervorragender Neo-Western (Wenn man denn fünfundzwanzig Jahre nach dem Neo-Western nicht schon von Neo-Neo-Western sprechen muss), sondern einer der ursprünglichsten Western überhaupt.

„Frontierland“ nennt Walt Disney einen Teil seines Vergnügungsparks Disneyland, in dem er sich der Welt der Trapper widmet, der Indianer und der Forts. Einer Welt, die die Fernsehlegende Davy Crockett kreiert, dessen Biberpelz-Mütze noch heute das Symbol amerikanischer Pfadfinder ist. Die "Frontier" ist amerikanische Folklore allererster Güte.
Hierzulande jedoch weiß man nur wenig darüber, was „Trapper“, also Fallensteller, waren, und wie sie lebten.
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Die „Frontier“ war eine Welt an der Grenze – wirtschaftlich, menschlich, geographisch und spirituell. Eben der Ort, an dem der amerikanische Westen wirklich „wild“ war. Unerforscht, ungezähmt, roh und gefährlich.
Aber es war auch die Welt, an der ein ganzer europäischer Industriezweig hing. Biberpelz war beinahe vier Jahrhunderte lang einer der wichtigsten Rohstoffe Europas. Und die Trapper waren es, die ihn unter Einsatz ihres Lebens in die alte Welt brachten. 

Jenseits der Kleiderordnung 


Die Bedeutung, die Biberfell in Europa hatte, ist heutzutage kaum noch nachzuvollziehen. Am ehesten ist sie mit der Bedeutung von Walöl im 19. Jahrhundert zu vergleichen, als der Walfang eine der umsatzstärksten Industrien der Welt war und zwei Kontinente mit Licht versorgte. (Walöl diente als Brennstoff für Straßen- und Hauslaternen in Europa und Amerika.)
Bei der Sucht nach Bibern geht es hingegen vor allem um – Hüte.

Bereits im Mittelalter hat es sich herausgebildet, dass Städte und Gemeinden Kleiderordnungen erlassen. Diese geben vor, welcher Stand welche Kleidungsmaterialien tragen und verwenden darf. Natürlich bleiben die teuren und edlen Pelze dem Adel vorbehalten, während die einfachsten Arbeiter und Bauern nur simple Materialien nutzen dürfen.

Ausgenommen von dieser Ordnung: Biberpelz.
Das Fell des Bibers eignet sich für Filzstoffe besonders gut, die sind leicht kämm- und formbar, und spätestens im 16. Jahrhundert werden Hüte aus Biberpelz in ganz Europa populär. Da sie von jedem Stand und beiden Geschlechtern getragen werden dürfen, verbreiten sie sich rasend schnell.
Am bekanntesten ist aus heutiger Sicht der Kastorhut, ein hoher, zylinderförmiger Hut aus Biberfilz, der bei Mann und Frau in ganz Europa äußerst populär ist.

Ewige Jagdgründe


Die Beliebtheit von Biberpelzen führt innerhalb weniger Jahrzehnte dazu, dass die europäischen Biberbestände nahezu ausgerottet werden, beschleunigt durch die Trockenlegung von Feuchtgebieten. Eine Weile erhält man ausreichend Nachschub aus Russland, doch um ca. 1600 versiegt auch diese Quelle. Europas Köpfe drohen biberfrei zu werden. Doch es gibt noch eine Hoffnung für den modebewussten Westeuropäer: die neue Welt.

Dort beginnt der erste Pelzhandel bereits um 1520. Die Indianer sind es, die Biberpelze an die noch spärlich besiedelte Ostküste bringen, und sie dort gegen europäische Waren eintauschen, vor allem Metallgegenstände, Werkzeug und Waffen.
Dieser Handelskontakt bringt den Ureinwohnern von Anfang an Macht, aber auch Kummer und Sorgen. Die Europäer schleppen Krankheiten ein, denen die isoliert lebenden Indianer schutzlos ausgeliefert sind. Pockenepidemien raffen ganze Völker dahin. Außerdem kommt es unter den einzelnen Stämmen und Gruppierungen immer wieder zu Auseinandersetzungen, bis hin zu kriegerischen Zwischenfällen, da jeder die beste Handelsposition mit den Europäern sucht. In kürzester Zeit sind die Ureinwohner auf den Pelzhandel angewiesen. Die Europäer hingegen brauchen die Ortskenntnissen und bereits etablierten Handelswege der Indianer.

Mit dem Niedergang der europäischen Biberjagd verlagern sich auch die europäischen Konflikte in die britischen Kolonien: Die Franzosen siedeln sich im heutigen Novia Scotia (Kanadas Ostzipfel) an, die Briten leben weiter südlich. Immer wieder kommt es zwischen den Nationen zu Reibereien und Angriffen, ein Konflikt, der sich auf die jeweiligen Indianerstämme überträgt, die mit der einen oder anderen Nation Handel treiben. Später steigen auch die Niederländer in diesen Handel ein, versorgen die Irokesen mit Waffen und schicken sie los, ihre Jagdgebiete zu erweitern.
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Ab 1640 ziehen die drei europäischen Mächte sich mehr und mehr aus dem Konflikt heraus, und tragen ihre Streitereien in unzähligen Stellvertreterkriegen durch die Indianer aus. Die als „Biberkriege“ bekannten Konflikte dauern 60 Jahre an. 

Sie gelten als eine der blutigsten Epochen der nordamerikanischen Geschichte und verändern das über Jahrtausende gewahrte Gleichgewicht zwischen den Stämmen. Ganze Völker werden vernichtet, und besonders die Irokesen breiten sich mit Gewalt immer weiter in die Territorien der anderen Stämme aus.

Als sich die Niederländer aus Amerika zurückziehen, kehrt ein brüchiger Frieden ein, doch der Konflikt schwelt weiter. Zwischen England und Frankreich herrscht alles andere als Frieden, und beide Nationen dringen immer weiter in den Westen vor. Wo immer sie auftauchen, entflammen weitere Kriege zwischen den Indianern.

Ashleys Hundert und die Ree


Zwischen 1700 und 1820 ändert sich das Bild des Pelzhandels auf dem Kontinent radikal. Der Siebenjährige Krieg sorgt dafür, dass die Franzosen sich fast komplett von dem Kontinent zurückziehen müssen. Die wenigen Gebiete westlich des Mississippi verkauft der französische König günstig an die Engländer. 1783 endet der Unabhängigkeitskrieg, Amerika ist nun eine eigenständige und unangefochtene Nation.

1822 schließlich beendet die amerikanische Regierung das Monopol der staatlichen Pelzhandelsstellen am westlichen Rand der noch jungen USA, dicht hinter dem Mississippi.
Damit erlebt der Pelzhandel seine letzte große Veränderung.

Bisher durften nur Indianer in dieser Region Pelze sammeln und liefern. Nur wenige Europäer, vor allem Franzosen, leben bei den Indianern und jagen persönlich, Die Rolle der Weißen beschränkt sich hauptsächlich auf die staatliche Verwaltung der Handelsposten an den Flussmündungen.
Mit der „Privatisierung“ des Pelzhandels jedoch fällt der Startschuss für einen frühen Goldrausch. Denn plötzlich wollen alle einen Teil vom Biberkuchen abhaben.

Direkt nach dem Fall des staatlichen Monopols gründen der Lokalpolitiker William Henry Ashley und der erfahrene Pelzjäger und Army-Offizier Andrew Henry die Rocky Mountain Fur Company. Ashley schaltet am 13. Februar 1822 eine inzwischen legendäre Zeitungsannonce, in der er 100 Männer sucht, die mit ihm und Henry für ein bis drei Jahre an die Quelle des Missouri-Rivers reisen und dort Biberpelze jagen wollen. Die als „Ashleys Hundert“ berühmt gewordene Truppe besteht vor allem aus unerfahrenen Männern, die keine Arbeit finden und kein Geld haben, und sich vom Leben in der Wildnis eine Zukunft versprechen. Unter diesen hundert Männern finden sich neben dem wohl legendärsten aller Trapper, Jedediah Smith, auch die Trapper Jim Bridger, John Fitzgerald und Hugh Glass.
Über den echten John Fitzgerald ist wenig bekannt. Vermutlich findet Hugh Glass ihn erst im Sommer 1824 in Texas, wo Fitzgerald mittlerweile Soldat ist. Ob Glass daran denkt, sich an ihm zu rächen (und eventuell dafür zu hängen), ist nur noch schwer zu ermitteln, verbreiteter ist, dass er sich sein gestohlenes Gewehr wiedergeben lässt, Fitzgerald verzeiht, und wieder abreist. 
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Schon die erste Reise ins Zielgebiet endet im Desaster. Einer der Gründe dafür ist, dass die Rocky Mountain Fur Company auf dem Territorium der Arikaree jagen. Dieser Stamm, der abgekürzt nur als Ree bezeichnet wird, ist einer der sesshaften Indianerstämme in den nördlichen Rocky Mountains. Sie leben in Lehmhütten und betreiben Ackerbau und Viehzucht, geraten aber immer wieder mit den von Süden kommen Sioux-Indianern aneinander. 

Etliche Pocken-Epidemien reduzierten die Zahl der Ree von einst 30.000 Angehörigen auf nur noch 6.000, was sie dazu zwang, ins heutige North Dakota zu ziehen, und sich dort mit anderen geschwächten Stämmen zu verbinden. Und die Beziehungen zu den Europäern wurden immer problembeladener: Ein Ree-Häuptling stirbt während eines Staatsbesuchs in Washington. Im Herbst 1822 töten Pelzhändler zwei Ree, darunter einen Häuptlingssohn. Ashleys Männer handeln bei ihrer Anreise im Winter 1822 noch mit den Ree und erwerben von ihnen neue Pferde, doch die Ree sind generell nicht erfreut über die unerwartete Konkurrenz.
Der Pelzhandel war bisher das Einzige, was den Indianern Nordamerikas Macht verlieh. Doch jetzt, wo die Weißen anfangen, selbst in großem Stil Biber zu jagen, drohen die Indianer alles zu verlieren.

Im Winter 1822/23 kommt es zu einem weiteren Zwischenfall: Die Frauen der Ree stellten sich den Europäern immer wieder sexuell zur Verfügung, doch diesmal nicht. Dennoch schleichen sich zwei von Ashleys Männern in ein Ree-Dorf und vergewaltigen eine der Frauen. Einer der Trapper stirbt, der andere schafft es zurück ins Lager. Am Morgen überfallen die Ree die Trapper und töten 14 der Männer, die auf ihren Booten fliehen.
Von nun an stellen die Ree eine ernsthafte Gefahr für Ashleys Männer dar. Sie müssen Umwege über Land nehmen und erreichen die Quelle des Missouri erst im Sommer 1823.
Andrew Henry, dargestellt von Domhnall Gleeson, ist einer der beiden Expeditionsgründer, unter deren Kommando Hugh Glass und die anderen Trapper stehen. Später gründet er die "Rendezvous'", wodurch die Trapper ganzjährig in den Bergen leben können. Henry kehrt der Pelzjagd aber bald den Rücken und nach Hause zurück, um im Bergbau zu arbeiten. 
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Hier kommt es zur Katastrophe. Im Juni 1823 überfallen die Ree Ashleys bereits deutlich reduzierte Truppe am Ufer des Missouri. Erneut kommt es zu einer stürmischen Flucht der Trapper, von denen 15 Männer sterben.  

Diesmal hat der Angriff schwerwiegende Konsequenzen. Amerika schickt gut 1000 Soldaten, drei Viertel davon Indianer der Sioux, um die Ree anzugreifen. Es wird die erste Schlacht zwischen Ureinwohnern und amerikanischen Soldaten in der Geschichte werden, und der Beginn landesweiter Kriege zwischen „Indianern“ und „der Kavallerie“, die unser Bild des Wilden Westens heute prägen.
Wohl während dieser Flucht kommt es im Juli 1823 zu dem folgenschweren Angriff des Bären auf Hugh Glass, den THE REVENANT, verknüpft mit anderen Konfliktherden zwischen Trappern und Ree, filmisch zusammenfügt.

Die Mountain Men


Ashley und Andrew prägen den Wilden Westen mit einer ungewöhnlichen Idee. Bisher arbeiteten die Trapper nur saisonal in der Wildnis, verluden ihre Pelze auf Schiffe, und fuhren dann zurück in die Heimat in St. Louis oder anderswo am Mississippi. Ashley aber gestaltet ein anderes Konzept. Ab 1825 veranstaltet seine Rocky Mountain Fur Company jedes Jahr ein „Rendezvous“ (man sieht, dass das Konzept der Trapper französische Wurzeln hat), bei dem sich alle Trapper an einem vorher festgelegten Ort treffen. Hier finden ausschweifende Gelage statt, während die Trapper ihre das Jahr über gesammelten Felle übergeben, und im Gegenzug Ausrüstung und Verpflegung für ein weiteres Jahr erhalten.

Dadurch können die Männer das ganze Jahr über in den Bergen bleiben. Die Trapper, die nun ganzjährig in den harschen Rocky Mountains leben, nennt man bald nur noch The Mountain Men – ein Begriff, der durchaus mit Ehrfurcht genutzt wird, verkörpern Mountain Men doch den puren, unverfälschten Pioniergeist. Männer, die in der Wildnis leben, von und mit der Natur, jeden Tag in der Gefahr, von Bären oder Indianern angegriffen zu werden, zu ertrinken, zu erfrieren oder anderweitig der wilden, ungezähmten Natur zum Opfer zu fallen.

Dennoch ist das Leben als Trapper eher ein Über-Leben. Ein Trapper verdient etwa 300 bis 400 Dollar im Jahr. Meist wird das Geld schon am Zahltag, spätestens aber auf dem alljährlichen Rendezvous wieder ausgegeben, Reichtum und Sicherheit können sich die Männer damit nur selten aufbauen. Hinzu kommt, dass nur selten gebildete Leute in die Berge ziehen, oft sind die Mountain Men hoffnungslose Seelen, die aus Verzweiflung hier leben, nicht selten auch Verbrecher und Mörder, die versuchen, einer Strafverfolgung zu entkommen.

Iñárritus Legenden


Die Mountain Men sind schon zu Lebzeiten der Stoff, aus dem die Legenden sind. Und einige davon finden sich in Iñárritus Film wieder.

Hugh Glass arbeitet noch bis 1833 als Trapper und Scout, bevor er bei einem Angriff der Ree getötet wird.

Andrew Henry, der in Iñárritus Film von Domhnall Gleeson gespielt wird, zieht sich 1824 aus dem Pelzhandel zurück, fährt wieder nach Hause, und arbeitet fortan in einem Bergwerk, um Blei zu fördern. Er stirbt 1832.

Die größte Legende aber wird der junge Jim Bridger, im Film gespielt von Will Poulter. Er ist 19, als er Hugh Glass zurücklässt. Glass verzeiht ihm, und Bridger lebt ganze 17 Jahre als Mountain Men in den Rockys, kauft 1830 sogar die Rocky Mountain Fur Company, die ihn einst einstellte, bis der Pelzhandel 1840 zum Erliegen kommt. Niemand kennt die Berge besser als er. Bridger gilt, trotz seines Analphabetismus', als gescheiter Kopf, als beliebter Geschichtenerzähler (als er merkt, dass man ihm seine wahren Geschichten nicht glaubt, beginnt er, sie auszuschmücken, damit sie wenigstens unterhaltsam sind) und als Sprachtalent, das drei Sprachen und diverse Indianerdialekte beherrscht.
Jim Bridger, hier gespielt von Will Poulter, ist eine der größten Legenden der amerikanischen Frontier-Zeit. Während des Grizzlyangriffs auf Hugh Glass ist er neunzehn und noch völlig unerfahren. In den kommenden 50 Jahren wird er den Wilden Westen prägen wie kaum ein anderer.
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Erst 1840 kehrt er zu seiner Schwester nach Hause zurück, wo er jedoch vor der Hütte auf dem Boden schläft. Schließlich geht er wieder in den Westen. Er arbeitet als Scout für Siedler und die Army, baut Forts und Handelsposten an den großen Trail-Strecken nach Westen, er sucht immer wieder nach neuen, einfacheren Routen durch die zerklüfteten Berge und begleitet die Eisenbahngesellschaften, die einen Weg suchen, ihre Schienenstränge weiter nach Westen zu ziehen.
Als einer der ersten Weißen überhaupt erkundet er die Schönheiten des Yellowstone-Parks (die ihm für einige legendäre Geschichten dienen). Er erforscht Trails zu den reichen Goldgründen in Montana und unterstützt die Army in ihren Schlachten gegen die Indianer, obwohl er selbst drei Mal eine Indianerin heiratet und lange unter ihnen lebt.

Mit über sechzig kehrt er nach Missouri zurück und wird Farmer. Er stirbt im Juli 1881, im Alter von 77 Jahren, als einer der legendärsten Helden des Westens, dessen Name noch heute in unzähligen Orten, Denkmälern und Landstrichen zu finden ist.

Der Niedergang im Westen


1840 neigt sich das Zeitalter der Pelzjagd endgültig dem Ende zu. Die Mountain Men sind immer weiter nach Westen gezogen, auf der Suche nach neuen Jagdgründen. Sie haben Landstriche, die einst so reich an Bibern waren, dass sie nur mit dem Knüppel am Ufer entlanggehen brauchten, leergejagt. Doch der Westen ist nicht endlos, und bald erreichen sie die kalten Wälder der Pazifikküste. Amerikas Biberbestände sind nahezu vollständig vernichtet.
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Doch was noch dramatischer ist: in Europa ändert sich die Mode. Mitte des 19. Jahrhunderts verliert der Hut aus Biberfilz mehr und mehr an Bedeutung. Der neue Trendstoff heißt Seide. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird der einst so beliebte Kastorhut aus Biberfell ein wenig schrumpfen, und als seidenüberzogener „Zylinder“ zum neuen Statussymbol Europas werden.

Als Amerikas Pioniere, die „Frontiermen“, den Pazifik erreichen, ist der Biberpelz nahezu wertlos. Zweihundertfünfzig Jahre lang wurden zahllose Kriege um den teuren Stoff geführt, eine ganze Tierart beinahe ausgerottet, und die amerikanischen Ureinwohner ebenfalls. Die einstigen Trapper und Mountain Men müssen sich nach neuen Geschäftsfeldern umsehen. Und sie werden fündig. Denn jetzt, wo ihre Erfahrung in den Bergen ihnen nicht mehr bei der Pelzjagd helfen kann, nehmen andere Menschen sie in Anspruch.

Seit 1840 beginnen mehr und mehr Siedler, sich auf den Weg in den noch unberührten Westen zu machen, wo sie sich Land, Wohlstand und eine Zukunft erhoffen. In dem Land, das die Trapper erschlossen und erforscht haben. Das die Indianer nicht hatten halten können. Und das sich die Weißen nun mehr und mehr einverleiben. Jetzt erst beginnt die Ära, die wir als Wilden Westen bezeichnen. Doch dabei vergessen wir, dass dieser Westen längst, wenn schon nicht gezähmt, dann zumindest gebändigt worden war – von den Trappern und Mountain Men, die hier ihr Leben verbrachten.

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