17.11.14

Nightcrawler (USA 2014) – Der echte Amerikanische Traum

Die Amerikaner sind ein stolzes Volk.
Diesen Stolz gründen sie vor allem auf drei Pfeiler: Sie verehren ihre eigene Interpretation des Begriffs „Freiheit“. Sie leben nach dem Motto: „Wer nur hart genug arbeitet, kann alles erreichen“. Und sie sehen sich als geborene Unterhalter, die das alles mit entspannter Leichtigkeit angehen. Diese Melange bejubeln sie gerne unter dem Begriff „Der Amerikanische Traum“.
Der Film NIGHTCRAWLER hält genau diesem Amerikanischen Traum den Spiegel vor. Und heraus starrt die unangenehme Fratze von Lou Bloom.
© 2014 Concorde Filmverleih GmbH
Marcos Blick:

NIGHTCRAWLER ist einer der gefeiertsten Filme des Jahres 2014. Hauptdarsteller Jake Gyllenhaal erarbeitet sich mit seinem vierten intensiven Drama in Folge höchste Oscarchancen. Die Filmkritiken überschlagen sich – und allesamt feiern sie den Film als gelungene, bitterböse Mediensatire über einen skrupellosen Fotojournalisten.
Dabei ist NIGHTCRAWLER soviel mehr. Der Film erzählt weit weniger von seiner eiskalten Figur Lou Bloom, sondern viel eher von den Zuschauern. Es ist ein Film, der über den Umweg einer unsympathischen Hauptfigur genau das anprangert, was solchen Figuren erst in die Hände spielt: Die Nation, die das Verhalten der Figur bejubelt und das sensationsgeile Publikum, das seinen Erfolg erst ermöglicht.

Die Action kennt kein Sommerloch


Hier in Deutschland sind amerikanische Nachrichten ein zweischneidiges Schwert.
Auf der einen Seite prägen sie unsere Nachrichten entscheidend mit. Mit dem Aufkommen des Privatfernsehens in den Achtzigern beginnen heimische Fernsehsender, das amerikanische Erfolgsrezept dreist zu kopieren. Ein Rezept, das gerne unter dem Begriff „Action News“ zusammengefasst wird.
Statt, wie in den Siebzigern und früher, einen biederen älteren Herrn mit beigem Trenchcoat etwas über die Hintergründe des Verbrechens in die Kamera brummeln zu lassen, will man die Zuschauer hautnah ins Geschehen schleudern, will sie zu direkten Augenzeugen machen. Man sucht nach spektakulären Bildern, die schnell geschnitten werden und mit einem Kommentar versehen, der Begriffe wie „Wahnsinn“, „Tote“, „Chaos“ und „Verbrechen“ in den Raum wirft.

Kommunikationswissenschaftler nennen das „Emotionalisierung“: Nachrichten sollen Gefühle auslösen. Idealerweise Angst und Furcht, denn die gehen mit Adrenalinschüben einher und können tatsächlich körperliche Sucht auslösen. Eine Sucht, die von Nachrichten befriedigt wird.

Mach deinen Erfolg doch alleine


Auf der anderen Seite schockieren uns amerikanische Nachrichten vor allem dann, wenn über das nahezu zynische Sozialwesen der Amerikaner berichtet wird.
Anders als in Deutschland, das seit den Siebzigern von einem großzügigen Sozialwesen profitiert, herrscht in Amerika der Geist der Selbstverantwortlichkeit!
Amerika wurde gegründet von Einwanderern, die in ihrer Heimat alles verloren hatten und mit nichts als der Kleidung am Leib in eine Wildnis kamen, in der sie jeden Tag ums Überleben kämpften.
Aus dieser Historie entwickelt sich die Überzeugung, dass jeder Mensch selbst für sich sorgen kann. Etliche Generationen vor ihm haben es schließlich mit nichts als ihrem stählernen Willen zu etwas gebracht.
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Diese Überzeugung verhindert stärkere Sozialgesetze in den USA. Schlicht, weil kein Amerikaner viel davon hält, wenn sich jemand auf den Mühen anderer ausruht, oder aus Faulheit erfolglos bleibt und die Schuld dafür anderen gibt!
Und diese Überzeugung ist der Kern des amerikanischen Wesens. Des Glaubens, jeder Tellerwäscher könne es mit Hartnäckigkeit und Einsatz zum Millionär bringen.
Die mathematische Unmöglichkeit dieser Überzeugung, dass es eben nicht jeder an die Spitze schaffen kann, weil dort schlicht nicht genug Platz für alle herrscht, wird kollektiv ausgeklammert.

Nun kommt NIGHTCRAWLER daher und zeigt bildgewaltig die Wirklichkeit des Amerikanischen Traums!
Diese Wirklichkeit ist: Es kann nicht jeder an die Spitze kommen, der hart genug arbeitet. Es kann nur jeder an die Spitze kommen, der skrupellos genug ist, auf den Rücken und Leichen der anderen nach oben zu steigen.
NIGHTCRAWLER erzählt die unangenehme Wahrheit, wie die Menschen, die unsere Welt bestimmen, dorthin gekommen sind, wo sie diese Macht besitzen. Er zeigt, dass die Idealisten auf der Strecke bleiben und die Spitze von eiskalten Karrieristen bevölkert ist. Und sie es sein muss.
Er zeigt, dass der Amerikanische Traum nur dann möglich ist, wenn man bereit ist, für den eigenen Erfolg die schwächeren Mitmenschen zu opfern.
Das unterstreicht der Film mit dem einzigen abstrakten Element: Lou Bloom schläft nicht! Nachts arbeitet er, tagsüber informiert er sich im Internet. Seine Wohnung verfügt scheinbar nicht einmal ein Bett. Diese völlige Fokussierung auf den Erfolg liefert ihm den Vorteil, der ihn an die Spitze bringt.

Der Star hinter der Kamera


Der Film erzählt eindrucksvoll vom Kleinganoven Lou Bloom, der mit keinem anderen Talent als einer schnellen Auffassungsgabe und gnadenloser Skrupellosigkeit den Job des Nightcrawlers für sich entdeckt. Nightcrawler bezeichnet, ähnlich wie Paparazzi, eine Gruppe von Journalisten, die versuchen, möglichst als Erste an einem Unfall- oder Verbrechensort anzukommen, um die spektakulärsten Bilder in die Kamera zu kriegen, die sie an die Nachrichtensendungen verkaufen. Je reißerischer die Aufnahmen, desto besser die Bezahlung.
Schnell erkennt Lou, dass er mit konventionellen Mitteln niemals aus dem Mittelmaß herausragen wird. Also nutzt er das, was er für Freiheit und Willensstärke hält, um sich aus der Masse zu lösen und sich den Amerikanischen Traum zu erfüllen.
Das Erschreckende daran ist, dass Lou Bloom seine Waffen, und sein Wissen, aus offen zugänglichen Quellen schöpft. Bei aller Fiktionalität sagt NIGHTCRAWLER deutlich: Jeder Mensch besitzt die Möglichkeiten, zu einem Lou Bloom zu werden!

Die bewundernswert unbequeme Hauptfigur wird von Jake Gyllenhaal (der auch produziert hat) einmal mehr mit einer fast beängstigenden Präsenz gefüllt. Gyllenhaal beweist erneut, dass seine Stärke in wuchtvollen, tiefgründigen Figuren liegt. Eine Erkenntnis, die er vielleicht auch aus dem kurzen, erfolglosen Versuch Hollywoods gezogen hat, ihn mit Filmen wie PRINCE OF PERSIA und LOVE AND OTHER DRUGS als Actionheld oder Herzensbrecher zu etablieren.
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Seither reiht Gyllenhaal mit Filmen wie SOURCE CODE, END OF WATCH, PRISONERS und ENEMY eine überragende Leistung an die Nächste. 
Wie üblich bereitet Gyllenhaal sich akribisch auf seine Rolle vor: Er hungert sich neun Kilo ab, was den Wahn und die Fokussierung seines Lou Bloom unterstreicht und etwas Dämonisches in seinem Gesicht aufleuchten lässt. Dazu erarbeitet er sich eigenständig und glaubwürdig die Manierismen seiner Figur und nutzt seinen (realen) Hunger, um den (fiktiven) Hunger nach Erfolg seiner Figur spürbar zu machen.
In einer Szene, in der er einen Spiegel zertrümmert, verliert er sich so sehr in seiner Figur, dass er sich Schnitte zufügt, die mit 40 Stichen genäht werden müssen.

Auch Drehbuchautor Dan Gilroy, der hier sein Regiedebüt abliefert, zeigt Mut, wie er seinen Landsleuten mit einer süffisanten Hauptfigur unter die Haut geht. So sehr man Lou Bloom für seine Taten verabscheut, so sehr bewundert man ihn für seine Zielstrebigkeit. Und erfreulicherweise will Gilroy lieber informieren statt zu moralisieren – was seinem Film sein grandioses Ende verleiht.

Der handelnde Reporter


Fast im Vorbeigehen präsentiert der Film dabei noch eine andere ungemütliche Wahrheit, mit der die Kommunikationswissenschaft sich seit Jahrzehnten herumschlägt: der Frage, wann aus einem Beobachter ein Akteur wird, und weshalb das problematisch ist.
Denn traditionell und nach Definition haben Journalisten und Nachrichtenmacher die Aufgabe, Beobachter zu sein. Sie sollen die Welt beobachten, wichtige Informationen herausfiltern, aufbereiten und an die Zuschauer weiterleiten, damit diese sich eine Meinung bilden können.
Aber was  geschieht, wenn aus den passiven Beobachtern handelnde Akteure werden? Wenn die Journalisten die Welt und die Nachrichten nicht mehr nur wiedergeben, sondern aktiv mitgestalten, um bessere Quoten und eine bessere Auflage zu erreichen?

Wann immer ein solcher Fall enthüllt wird, erschüttert er die Grundfesten des Journalismus.
Für deutsche Journalisten bleibt der bis heute traumatischste und schwärzeste Zwischenfall das Geiseldrama von Gladbeck, das im August 1988 die Republik erbeben lässt und die dunkelsten Seiten überehrgeiziger Reporter aufzeigt (auch wenn das Hauptversagen bei der Polizei zu suchen ist).
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Nachdem die Bankräuber Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner eine Bank in Gladbeck überfallen haben, entkommen sie mit einigen Geiseln in einem Fluchtauto. Die folgenden beiden Tage kommt es zu einer Hetzjagd mit der Polizei, vor allem aber der Presse, die über Bremen, die Niederlande und Köln bis zu einem blutigen Ende auf der Autobahn bei Bad Honnef führt.
Es ist der bis dato größte und spektakulärste Kriminalfall der deutschen Nachkriegsgeschichte – und die deutschen Journalisten verlieren jeglichen Bezug zu ihrer Aufgabe. Die beiden Schwerverbrecher werden zu medialen Superstars, das ganze Land sitzt gebannt vor den Fernsehern und verfolgt die Entwicklung. Angeheizt durch den Erfolg und das Zuschauerinteresse kommt es in Köln zur journalistischen Katastrophe!

Schon in Bremen verlieren die ortsfremden Polizisten aus Nordrhein-Westfalen den Anschluss an das Fahrzeug. Die Reporter heften sich den Geiselnehmern an die Fersen. Der Appell der Polizei, bis zur Befreiung der Geiseln auf eine Berichterstattung zu verzichten, wird vollkommen ignoriert.
Die Verbrecher entführen einen vollen Bus. Einen Kontakt zur Polizei gibt es nicht, stattdessen verhandeln die Täter mit den Journalisten, die ihnen Fotos der Polizisten zuspielen, damit ihnen bei einem Geiselaustausch keine Beamten untergejubelt werden können.
Es kommt zu der absurden Situation, dass die in dem Bus um ihr Leben bangenden Geiseln von frei ein- und ausgehenden Reportern fotografiert und interviewt werden. Einer der Pressefotografen nennt das noch heute „Eine Jahrhundertchance, die wir nicht verstreichen lassen konnten.“
Später wechseln die Bankräuber mit zwei Geiseln wieder in einen PKW.  

Mit diesem landen sie schließlich in Köln inmitten einer Fußgängerzone. Sie werden zunächst von Passanten umringt und schließlich von Fotografen und Reportern, die einen Schutzwall bilden. Sie machen einen bereits geplanten polizeilichen Zugriff völlig unmöglich. Während die Geiseln starr vor Angst dasitzen, geben Degowski und Rösner gutgelaunt Interviews an die einen Schritt entfernt stehenden Reporter. Sie alle suchen das Exklusivmaterial, das eine Bild, das sie reich und berühmt macht und ihre Nachrichten von den anderen abhebt!
An einem besonderen Tiefpunkt bittet ein Fotograf den Täter Degowski, einer Geisel für ein weiteres Bild noch einmal die Waffe ans Kinn zu halten. Degowski kommt der Bitte freundlich nach.

Später setzt sich ein Reporter, wie er selbst sagt "im Rausch" und "um der Story noch mehr Kick zu geben", mit ins Fluchtauto, um die ortsfremden Geiselnehmer zur Autobahn zu geleiten. Dort kommt es nach 54 Stunden endlich zum völlig misslungenen Zugriff die Geisel, der Degowski kurz zuvor noch auf Bitten des Fotografen bildgerecht die Waffe ans Kinn hält, stirbt durch einen Schuss der Geiselnehmer. 
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Das Geiseldrama von Gladbeck ist eines der weltweit krassesten Beispiele dafür, dass Journalisten jegliche Distanz und Verantwortung verlieren können und ein Verbrechen nicht mehr nur beobachten, sondern es aktiv mitgestalten.
Das ist deshalb so verstörend, weil es klar macht, dass vieles von dem, was NIGHTCRAWLER als vermeintliche Fiktion zu dramatisieren versucht, bereits vor dreißig Jahren ganz real stattgefunden hat.

Are you not entertained?


NIGHTCRAWLER schiebt die Verantwortung allerdings nicht auf die Journalisten, sondern auf das Publikum!
Der Erfolg, den Lou Bloom mit seinen Manipulationen und extremen Methoden einfährt, wird ihm von den Zuschauern ermöglich! Es sind die steigenden Einschaltquoten seiner spektakulären Bilder, die ihm seine Position der Stärke geben.

Der Film behandelt den, ebenfalls unangenehmen, Punkt: Wenn das Publikum immer mehr will – mehr Blut, mehr Dramatik, mehr Spektakel –, kommt irgendwann der Punkt, an dem die Realität dies nicht mehr bieten kann. NIGHTCRAWLER lässt offen, ob dieser Punkt bereits erreicht ist. Er zeigt lediglich auf, was geschieht, wenn er erreicht wird.
Damit wirft NIGHTCRAWLER seine deviante Hauptfigur immer wieder auf die Zuschauer zurück. Lou Bloom ist nur ein Dealer, der erkennt:  Die Nachrichten, die ihr sehen wollt, sind nicht mehr zu erhalten, wenn wir nicht nachhelfen. Das Produkt, mit dem wir eure Sucht befriedigen, ist ein künstliches, ein manipuliertes, ein aufgebauschtes. Fragt nicht, woher euer Stoff kommt, genießt ihn einfach!

NIGHTCRAWLER ist ein zutiefst amerikanischer Film, der mitten ins Herz all dessen schlägt, was Amerikas Identität ausmacht, und der aufzeigt, wie hässlich und menschenverachtend diese Identität in ihrer Undifferenziertheit eigentlich ist.
Er ist aber auch ein wichtiger Film über unsere mediale Gegenwart und die Frage, wohin unsere Gesellschaft sich entwickelt. Ein Amerika, und eine mediale Welt, die einem Menschen wie Lou Bloom Erfolg schenkt und Applaus spendet – ist es das, was wir wollen?
© 2014 Concorde Filmverleih GmbH

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