23.03.18

Kinokritik: I, Tonya (USA 2017) – eiskaltes Drama und schneidender Witz

Sozialdrama? Sportler-Biopic? Heistfilm? Skurrile Komödie? Mediensatire?
Es fällt nicht leicht, Craig Gillespies kleines Meisterwerk I, TONYA einem Genre zuzuordnen, denn er ist alles – und vermengt seine absurde Mischung aus schrägen Figuren, widersprüchlichen Aussagen und dramatischen Sozialgefügen zu einem der sehenswertesten Filme des Jahres.
Dabei bleibt er eine Antwort bewusst schuldig: Wie war es denn nun wirklich?
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Marcos Blick:

Jedes Land hat seine großen, spektakulären Skandale und Kriminalfälle, die ihm ihren Stempel aufgedrückt haben. In Deutschland sind das etwa die Hitler-Tagebücher, der Tod Uwe Barschels, die Entführung von Hanns Martin Schleyer, der Kannibale von Rotenburg oder das Geiseldrama von Gladbeck – Geschichten, die sich tief in unser kulturelles Selbstbewusstsein eingefräst haben.
Man muss diese Beispiele anbringen, um einen Vergleich zu haben, zu den großen Kriminaldramen, die sich ebenso tief ins kollektive Gedächtnis der Amerikaner eingebrannt haben: Die Entführung des Lindbergh-Babys, die Morde der Manson-Family, der Prozess gegen O.J. Simpson – und der „Zwischenfall“ zwischen Tonya Harding und Nancy Kerrigan.

Man muss die Tragweite des Skandals einordnen können, um als Deutscher zu verstehen, welche Aufgabe sich Steven Rogers aufgebürdet hat, als er Tonya Harding fragt, ob er für 1.500 Dollar die Rechte an ihrer Lebensgeschichte für ein Drehbuch (mit der Option auf mehr geld, falls der Film gedreht wird) und einige Interviews haben kann, um den vielleicht bekanntesten Sportskandal der US-Geschichte aus der unerwartesten Sicht zu schildern: aus der Sicht der Täter.
Denn der spektakuläre Zwischenfall, der Anfang 1994 zuerst die amerikanische und dann die weltweite Presse zum Explodieren bringt, spaltet Amerika bis heute. Wer ist Opfer? Wer Täter? Für die einen ist Tonya Harding selbst ein Opfer der Umstände, für die anderen ist sie der eiskalte Engel mit dem Stahlrohr – oder die „Eishexe“, je nachdem wie lyrisch veranlagt die Person ist, die man fragt.

Mosaik ohne Schuldfrage


Steven Rogers geht also ein hohes Risiko ein, wenn er Tonya Harding – die in vielen Wohnzimmern und Stammkneipen Amerikas noch immer auf einer Stufe mit Charles Manson oder dem Entführer des Lindbergh-Babys rangiert – eine Plattform bietet.
Doch Rogers geht die Sache mit einem cleveren Kniff an: Statt sich der Frage um Schuld oder Unschuld zu widmen, breitet er vor dem Publikum das gesamte irrwitzige Mosaik aus, das er aus den höchst widersprüchlichen Aussagen der Beteiligten zusammengesetzt hat. Und weil er um die Irrwitzigkeit seiner Geschichte weiß, stellt er sie offen in den Mittelpunkt und inszeniert I, TONYA weder als moraltriefendes Biopic noch als differenziertes Lehrstück zur Wahrheitsfindung, sondern schlicht als skurrile Komödie aus der unteren Bevölkerungsschicht – das, was der Amerika so geringschätzig als „White Trash“ betitelt. Wer spöttisch genug ist, mag den Film als „WINTER'S BONE mit Eiskunstläuferin“ zusammenfassen.
Was dabei erfrischend ehrlich ist: Rogers weigert sich rigoros, Tonya Harding selbst irgendeine Schuld zu- oder abzusprechen. Dafür fehlen ihm auch die Mittel. Stattdessen richtet er seine Kritik an jene, die nachweislich schuldig sind: Hardings Umfeld, die Presse, das System des Eiskunstlaufs und nicht zuletzt an das Publikum selbst: Also an uns alle!
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Und so viel sei vorweggenommen: Hut ab, denn was Steven Rogers als Autor, Craig Gillespie als Regisseur und die Darstellerriege, angeführt von Margot Robbie, hier abliefern, ist einer der cleversten, bösesten und gleichzeitig witzigsten Filme des Jahres!

Altbekannter Krimi


I, TONYA ist einer dieser Filme, deren Inhalt seltsam ambivalent wirken. Auf der einen Seite erzählt der Film eine durchaus spannende Krimigeschichte – deren Kenntnis er auf der anderen Seite fast wieder voraussetzt. Wer also tatsächlich nicht weiß, und noch nicht wissen will, wodurch Tonya Harding 1994 „weltberühmt“ wurde, der sollte diesen Absatz einfach überspringen.
Alle anderen seien kurz an die Rahmenhandlung erinnert:

Ende der Achtziger / Anfang der Neunziger gilt Tonya Harding als eine der besten Eiskunstläuferinnen der Welt. Berühmt wird sie allerdings weniger durch ihren gestandenen Triple-Axel, sondern vor allem durch ihr „unschickliches“ Benehmen. Harding kommt aus einfachem Hause und hat auch nie das Ziel, eine Eisprinzessin zu werden. Wie manche es ausdrücken: Sie hatte keinen Ausdruck, aber Athletik.
Am 6. Januar 1994 entlädt sich Amerikas gespaltenes Verhältnis zu der talentierten „Eisgöre“ in blindem Hass: Während der Trainingsvorbereitungen wird auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan ein schwerer Angriff verübt, bei dem ihr ein Mann mit einem Schlagstock auf den rechten Unterschenkel schlägt.
Die Aufnahmen, wie Kerrigan ins Krankenhaus gebracht wird, und dabei laut jammernd klagt: „Warum? Warum? Warum?“, gehen um die Welt.
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Es dauert nicht lange, bis die Polizei die extrem untalentierten Drahtzieher des Angriffs ermittelt hat: Es sind Tonya Hardings Ex-Mann Jeff Gillooly und sein Freund Shawn Eckardt.

Was folgt, ist der Prozess in einem der skurrilsten Kriminalfälle der US-Geschichte, der vor allem eine Frage aufwirft, die bis heute nicht endgültig zu klären ist: Wusste Tonya Harding von dem Angriff? Und hat sie ihn vielleicht sogar in Auftrag gegeben?
An eben dieser Frage entzündet sich bis heute eine hitzige Debatte, denn im Prozess selbst wird sie zwar von ihrem Ex-Mann als Komplizin schwer belastet, streitet jedoch vehement ab, vor dem Angriff von dessen Planung gewusst zu haben. Erst im Januar 2018 gibt sie an, einige Wochen vorher mitbekommen zu haben, dass ihr Ex-Mann „irgendeinen Angriff auf ihre Konkurrenz plane“, bestreitet aber weiterhin, einen Angriff in Auftrag gegeben oder geplant zu haben. Doch bis heute fällt es vielen Leuten schwer, ihr das zu glauben – zumal es durchaus Grund zum Zweifeln gibt. Und so bleibt es, wie es die letzten 24 Jahre über war: Die letztendliche Wahrheit, so scheint es, weiß allein Harding.

Kritik und Schelte


Daher macht sich I, TONYA auch gar nicht erst die Mühe, irgendeine Wahrheit zu suchen, sondern beleuchtet stattdessen den Weg, der zu jenem unglückseligen Zwischenfall geführt hat.
Man sieht Hardings erste Gehversuche auf dem Eis, die Beziehung zu ihrer durchaus kratzbürstigen Mutter, ihre ebenso problematische Ehe zu Jeff und immer wieder ihren Kampf gegen die ungeschriebenen Regeln des Eiskunstlaufs. Harding ist keine Eisprinzessin, und will auch gar keine sein, und doch entkommt sie dem Zwang nicht, nicht nur „gut“ zu sein, sondern auch „hübsch“. „Ich hasste das Wort 'feminin'“, erklärt sie später. „Das erinnerte mich an Tampons und Damenbinden.“

I, TONYA prangert in großen Lettern Amerikas Umgang mit seinen ach so geliebten Eiskunstläuferinnen an, sowie das Publikum, das mehr Wert auf den Schein, als die athletische Kunst zu legen scheint.
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Denn, auch das macht I, TONYA klar: Dass der Skandal um Harding und Kerrigan überhaupt eine derartige Tragweite in den USA erreichen konnte, liegt vor allem an der Art, wie das Land seine Eiskunstläuferinnen vergöttert, die mit Erwartungen erdrückt; eine klare Parallele zu O.J. Simpson, dessen Anklage wegen Mordes nicht zuletzt deshalb so tief in Amerikas Bewusstsein einsickern konnte, weil Simpson eine Football-Legende war.
Auch Nancy Kerrigan galt seinerzeit als Legende und eine der populärsten Sportlerinnen der USA. Dass ausgerechnet Amerikas Liebling von der ach so umstrittenen „Göre“ Harding außer Gefecht gesetzt worden war, ist allein schon Grund dafür, dass viele Amerikaner sich beinahe persönlich beleidigt fühlen – und Harding mit Hass überschütten.

Auch hier trumpft I, TONYA auf, denn der Film entlarvt den Fall als das, was er ist: Eine kriminalistische Bagatelle, die nicht annähernd mit den Greueltaten eines Charles Manson oder eines Lindbergh-Entführers zu vergleichen ist, und dennoch einen ähnlichen Stellenwert genießt.
Heute, in Zeiten, in denen Amokläufe an Schulen beinahe wöchentlich in den USA stattfinden, klingt es geradezu absurd, dass ein ganzes Land wegen eines leicht verletzten Unterschenkels (Nancy Kerrigan erholt sich innerhalb kürzester Zeit und holt sieben Wochen später bei der Olmypiade Silber, das ebenso hätte Gold sein können) Gift und Galle spuckt, obwohl der Vorfall selbst im Vergleich zu anderen Zwischenfällen kaum eine Randnotiz wert sein dürfte.
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Es sind die Umstände, die Popularität des Sports und Kerrigan als Opfer, sowie die schon damals spürbare Unbeliebtheit Hardings, die aus dem Zwischenfall ein nationales Trauma machen.
Dass I, TONYA viele Details ausspart, liegt vor allem daran, dass der Fall bis heute jedem Kind der USA bekannt ist. Jahr um Jahr erscheinen noch immer unzählige Dokumentationen, Berichte, Analysen, Fernsehfilme, Artikel und Meinungen zu dem Zwischenfall. Auffällig dabei ist, dass kaum jemand die wahren Begebenheiten kennt (ein Umstand, den I, TONYA in einer äußerst witzigen Sequenz aufgreift!), sondern alle irgendeine verschwommene Vorstellung davon haben, dass Harding selbst Kerrigan das Knie mit einer Eisenstange zertrümmert habe.

Das einzige Mal, dass sich I, TONYA klipp und klar auf die Seite seiner Protagonistin stellt, ist denn auch das Ende des Prozesses, bei dem Harding, deren Beteiligung an einer zwar komplett unmoralischen, letzten Endes aber vergleichsweise harmlosen Straftat nie bewiesen werden konnte, ein absurd hohes Strafmaß erdulden muss.
Und obwohl sich Rogers sehr davor scheut, sich offen auf Hardings Seite zu schlagen, wird genau das einer der Kritikpunkte der Kerrigan-Fraktion in den USA. Sie werfen dem Film und seinen Machern vor, eine Schwerstkriminelle als Opfer zu inszenieren, und das wahre Opfer totzuschweigen. Noch heute kochen die Gemüter in den USA hoch, wenn es um Harding und Kerrigan geht.
Auf der anderen Seite finden Film und Harding viel Zuspruch von Hardings Fans, die darin ein Stück Wiedergutmachung erkennen. Man sieht: Bis heute können die Amerikaner, die Kerrigan anhimmeln, in Harding wenig mehr sehen als ein Monster mit Stahlrohr, während Hardings Fans sie als Opfer von Misshandlung und Armut deuten.

Ausdrucksnoten


Tatsächlich spielt Nancy Kerrigan in dem Film keine Rolle und ist allenfalls am Rande zu sehen. Doch spielt der gesamte Angriff auf Kerrigan kaum eine Rolle. (Wenngleich der Angriff selbst spektakulär in Szene gesetzt ist!)
I, TONYA versucht viel eher, das teilweise haarsträubende Leben einer „Göre“ nachzuzeichnen, der nie etwas geschenkt wurde. Dass das gelingt, ist nicht zuletzt den Schauspielern zu verdanken. Wer Sebastian Stan nur als Bucky Barnes aus den Marvel-Filmen kennt (seine bisher berühmteste Rolle), wird ihn hier nicht wiedererkennen. Margot Robbie haucht ihrer Figur vielschichtiges Leben ein und wird zu Recht für sämtliche Schauspielpreise des Jahres nominiert. Kritisch anmerken muss man, dass sie zu früh in die Rolle eingeführt wird. Auch wenn Harding erst 24 war, als das Drama über sie hereinbrach, spielt Robbie sie bereits mit 15 – deutlich zu früh, denn das nimmt man ihr dann doch nicht ab.
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Zum Niederknien und über jede Kritik erhaben ist allerdings Allison Janney, die hier (obwohl sie an großen Rollen nicht arm ist) eine der Glanzleistungen ihrer Karriere hinlegt, und dafür zu Recht sämtliche großen Preise der Saison abräumt, darunter die „großen Vier“, SAG-Award, BAFTA, Golden Globe und Oscar. Jeder ihrer Auftritte als Hardings schnodderige Mutter wird zu einem absoluten Highlight des Films.
Als heimlicher Star sei übrigens noch Paul Walter Hauser genannt, der Shawn Eckardt mit derartig peinlicher Skurrilität spielt, dass es nur so eine Freude ist, ihm dabei zuzuschauen.

Ein weiterer Kritikpunkt sei noch angeführt: Die Effekte, mit denen Robbie aufs Eis gezaubert wurde, überzeugen nicht so ganz; ihr CGI-Grinsen verliert sich eindeutig im „Uncanny Valley“. Dafür sind die Szenen auf dem Eis filmisch hervorragend inszeniert, was nicht zuletzt den Schlittschuhkünsten des Kameramannes Dana Morris zu verdanken ist, der hier mit einer Steadicam übers Eis gleitet.

Fazit


I, TONYA ist ein kleines aber feines Meisterwerk: Lehrreich und spannend, dabei aber dramatisch und überaus witzig schildert er das Leben einer überaus talentierten Sportlerin, die durch eine kleinkriminelle Tat zum Objekt weltweiter Hassorgien, und zum Opfer von Medien und Öffentlichkeit wird. Der Film trumpft dadurch auf, dass er weder eine Wahrheit sucht, noch allzu viel wertet, und sich stattdessen in der Skurrilität der Figuren und der Situationen suhlt und der immer wieder die vierte Wand durchbricht, um sich selbst zu kommentieren (ähnlich wie schon THE BIG SHORT).
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Übrigens: Die Macher scheinen sich bewusst gewesen zu sein, WIE skurril ihre Figuren teilweise dastehen, und scheinen sich von dem Vorwurf reinwaschen zu wollen, in irgendeiner Form übertrieben zu haben. Wer sich also selbst davon überzeugen will, dass einige der seltsamsten und absurdesten Szenen des Films NICHT frei erfunden wurden, der sollte unbedingt den Abspann anschauen!
Für uns gehört I, TONYA jedenfalls zu den bisherigen Topfilmen des Jahres.

Genug entschuldigt?!


Heute ist Tonya Harding 47, und übrigens immer noch eine sprungsichere Eiskunstläuferin, die dreimal die Woche übt. Sie lebt in L.A., hat geheiratet, und erklärt, welchen Nutzen ihr neuer Nachname hat. Dass sie nicht mehr sofort erkannt wird. Dass für sie Tonya Harding ein anderer Mensch ist, dem das alles zugestoßen ist. Heute ist sie Tonya Price, auch wenn Leute, die sie kennenlernen, sie immer anschauen, als würden sie sie kennen.
Bis heute fühlt sie sich ungerecht behandelt. In dem Film sieht sie vor allem eine Chance, endlich einmal ihre Seite der Geschichte erzählen zu können (wenngleich sie auf einige Ungereimtheiten hinweist, etwa, dass sie sich als Jugendliche einen Pelzmantel gekauft hat, während der Film durch seinen Schnitt andeutet, dass sie … nun, anders an das Kleidungsstück herankommt), denn wann immer sie sich in die Öffentlichkeit wagte, um sich ein wenig zu rehabilitieren, wurde sie immer wieder mit denselben Fragen konfrontiert: Was wusste sie? Was hatte sie angeordnet? Hat sie sich entschuldigt? Tut es ihr leid?

Tonya Harding ist 24, als sie tote Ratten im Briefkasten findet, ihr Haus und ihr Auto mit Kot und Unrat überzogen werden. Bis heute wird sie mit Gesten und Wörtern beleidigt, wenn sie jemand erkennt. Ein Jahr lang ist sie die Pointe in jeder Late-Talk-Sendung. Ihr Name wird zum Verb und Synonym dafür, einem Konkurrenten mit unfairen Mitteln Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Doch damit ist sie fertig. „Ich habe mich genug entschuldigt. Nancy hat ihr Leben, und ich habe meines, und wir haben wunderbare Leben.“
Tonya Harding bleibt ein schwieriger Fall. Sie tut sich schwer damit, Reue oder Schuld für den Zwischenfall zu zeigen, und auch wenn sie immer wieder alles abstreitet, verstrickt sie sich in Widersprüche. Dann wiederum erklärt die Journalistin Taffy Brodesser-Akner, die Harding interviewt hat, sie sähe in ihr so vieles, was sie auch bei anderen Menschen sieht, die traumatisiert sind, die sich selbst immer wieder Wahrheiten erzählen müssen, um die Realität zu ertragen, und die ein schwieriges Verhältnis zwischen den eigenen Wahrheiten und den Wahrheiten der anderen haben. Auch hier weiß wohl nur Tonya Harding selbst, was wahr ist, und was nicht. Oder vielleicht weiß sie es nicht einmal selbst.
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Was aber festzustehen scheint: Tonya Harding hat einen liebenden Ehemann und einen Sohn. Sie hat etwas gefunden, das ihr damals immer gefehlt zu haben scheint: eine Familie. Und was ihr besonders wichtig ist: Sie versucht, eine liebende Mutter zu sein.


Biancas Blick:

I, TONYA erzählt die Geschichte Tonya Hardings, die aufgrund ihres sozialen Umfeldes von der Sportpresse geschasst und verhöhnt wurde, nie eine reelle Chance erhielt, geliebt und verehrt zu werden, und am Ende – möglicherweise – zu illegalen Mitteln griff, wobei dieser Umstand nie ganz geklärt wurde. Sie steht im Mittelpunkt des zu Recht gefeierten Films I, TONYA. Ihre Geschichte, die Geschichte der „Eishexe“, die wir auch hier in Deutschland 1994 minutiös mitverfolgen konnten. Vorverurteilt von einer Presse, die nur eines wollte: Auflagen verkaufen. Dafür jedoch braucht es ein Narrativ, einen Kampf von Gut gegen Böse. Dazu bietet sich die Geschichte geradezu an. Schnell sind „Täter“ und „Opfer“, „Heldin“ und Schurkin“ besetzt, was Emotionen und damit Auflage und Quote garantiert.

Nancy Kerrigan – Die andere Seite


Der „Täterin“ Harding gegenüber steht das „Opfer“: Nancy Kerrigan, die „Eisprinzessin“. Ihre Geschichte streift der Film nur marginal, was immer wieder als einer der Hauptkritikpunkte angesehen wird.
Wir finden die Herangehensweise und die Fokussierung auf Tonya Hardings Perspektive dramaturgisch zwingend, was aber nicht bedeutet, dass die Kehrseite der Medaille nicht ebenfalls erwähnt werden sollte. Und so wollen wir die Chance ergreifen, die „andere Seite“ ebenfalls zu beleuchten und zu Wort kommen zu lassen. Denn auch Nancy Kerrigan geht aus diesem Sportskandal nicht unbeschädigt hervor und gerät in die Mühlen eines Skandals, der weit größer ist als ihre Verletzung. Zunächst bejubelt, gefeiert und verhätschelt, wird sie bald von Presse und Fans angeklagt, aus den Vorkommnissen Kapital zu schlagen und sich dafür stärker als nötig als Opfer zu inszenieren.
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Nancy Kerrigan wird 1969 in Massachusetts geboren und möchte zunächst, wie ihre Brüder, professionell Eishockey spielen. Da dies aber damals ein für Frauen unakzeptierter Sport ist, wendet sie sich dem Eiskunstlauf zu. Um seiner Tochter das Training finanzieren zu können, nimmt ihr Vater, ein gelernter Schweißer, zeitweise drei Jobs an. Im Alter von 22 Jahren steht sie erstmals auf dem Treppchen: Sie belegt den dritten Platz bei den amerikanischen Meisterschaften – hinter Tonya Harding! 1992 erlangt sie bei ihren ersten Olympischen Spielen die Bronzemedaille. Ein Jahr später wird Kerrigan, trotz fehlerhaftem Lauf, amerikanische Meisterin.
Kerrigan steht in den Augen des Publikums für Eleganz, Zartheit, Charme und Grazie – anders als Harding, die grob, schnodderig und ja – arm  wirkt. Wo Harding sich ihre Kostüme selbst schneidert, bekommt Kerrigan sie umsonst angefertigt – von einer Designerin.


Schon früh entwickeln sich Harding und Kerrigan zu einem gefundenen Fressen für das Publikum: Annähernd ähnlich leistungsstark (wobei Harding die bessere Läuferin ist), verkörpern beide zwei diametrale entgegengesetzte Enden einer Skala, hier die strahlende Kerrigan, dort die Göre Harding. Ein Vorspiel, das seinen Höhepunkt Anfang 1994 findet.

Plötzlich ist alles anders


Während eines Trainings zur Vorbereitung auf die amerikanischen Meisterschaften 1994 – quasi die Olympiaqualifikation für die Läuferinnen – ereignet sich „das Eisenstangenattentat“. Beauftragt von Hardings Ehemann, verletzt der Gelegenheitsschläger Shane Stant Nancy Kerrigan auf dem Weg in die Kabine so schwer, dass sie den Wettbewerb nicht fortsetzen kann. Den Titel gewinnt zunächst Harding, allerdings wird er ihr nach Bekanntwerden der Mittäterschaft ihres Mannes wieder aberkannt, da  man schnell vermutet, auch sie hätte etwas mit dem Anschlag zu tun.
Die Bilder der weinenden Kerrrigan, die sich das Bein hält und schreit, gehen um die Welt.

Obwohl Nancy Kerrigan den Wettkampf nicht bestreitet, erhält sie eine Wildcard und darf ebenfalls zu den Spielen nach Lillehammer. Nur sieben Wochen nach dem Angriff läuft sie die vermutlich beste Kür ihres Lebens und gewinnt olympisches Silber – mit einem Zehntelpunkt Rückstand auf die Ukrainerin Oksana Bajul, die Gold holt.
Beide müssen während der Vorbereitungen damit leben, dass das IOC sich den Wünschen des amerikanischen Verbands verweigert, die beiden Läuferinnen zu trennen. Sie müssen sich gemeinsam aufwärmen und einspringen.
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Dieses letzte direkte Aufeinandertreffen der beiden Sportlerinnen – beide beenden nach Olympia '94 ihre Karrieren – macht den Eiskunstlauf in Lillehammer 1994 zu einem wahren TV-Event. Mehr als 100 Millionen Zuschauer sitzen vor den Bildschirmen und werden Zeuge des Finales einer Seifenoper, die nicht besser hätte inszeniert werden können. Hochgeputscht von den Medien, Gut gegen Böse, die Prinzessin gegen die Hexe. Und nicht nur Harding muss diesem medialen Druck standhalten, sondern auch Kerrigan. Und auch sie wird im Nachhinein daran zerbrechen. 

Kritik und Karriereende


Denn auch Nancy Kerrigan steht nach dem Angriff in den Schlagzeilen, wird idealisiert, gezwungen, sich zu inszenieren und nutzt die Chance, ordentlich Kapital aus dem Skandal zu schlagen. Sie, die Schöne, die Unschuldige, wird ihre Kür in Rosé laufen, Rosé wie die Unschuld, die Zerbrechliche, die Zarte. Sie erntet frenetischen Applaus und Standing Ovations. Sie positioniert sich als Opfer, gibt sich dem hin (oder versucht einfach, dem Druck standzuhalten) und wird dafür arge Kritik ernten. Allein schon das pathoshaft ausgerufene „Warum?“ nach dem Attentat wird kritisch aufgenommen und affekthaschrisch gedeutet. Sie sagt: „Die ganze Sache war verrückt. Ich war das Opfer, das war meine Rolle."

Dieser Wechsel in der öffentlichen Wahrnehmung Kerrigans (die nach dem Angriff äußerst wohlwollend war) ist dabei auch das Ergebnis einer weiteren Panne, des an Pannen und Missgeschicken reichen Wettkampfs: Der Gewinn der Goldmedaille für die Ukraine ist womöglich etwas unerwartet, zumindest ist keine Aufnahme der ukrainischen Nationalhymne verfügbar. (So kurz nach dem Zerfall des Ostblocks vielleicht auch nicht verwunderlich.) Es kommt zu einer halbstündigen Verzögerung, bei der Kerrigan und die Bronzeläuferin Chen Lu auf die Gewinnerin warten müssen. Kerrigan wird fälschlicherweise mitgeteilt, man warte darauf, dass die Siegerin Bayul ihr verweintes Make-up auffrischt, worauf diese, sichtlich frustriert über den knapp verpassten Sieg, vor laufenden Kameras stöhnt: „Och kommt schon. Die heult sich das hier draußen doch eh wieder runter.“ CBS sendet den Ausschnitt und lässt Kerrigan damit als schlechte Verliererin dastehen.

Nach Lillehammer beendet Kerrigan ihre sportliche Karriere, läuft aber kommerziell weiter in Revuen und einer Art neugegründeter Profiliga. Sie hat zwar Silber gewonnen, aber ihr Leben wie es war, verloren, ebenso wie Harding. Schließlich studiert sie Wirtschaft in Boston und gründet eine Stiftung für Sehbehinderte, da ihre Mutter Betroffene ist.

Anschließend zieht sie sich fast zwanzig Jahre komplett aus der Öffentlichkeit zurück und lebt bis heute äußerst zurückgezogen. 2010 erschüttert erneut ein Skandal ihr Leben. Ihr Vater stirbt vermutlich bei einem Kampf mit ihrem Bruder, wofür dieser zweieinhalb Jahre Haftstrafe absitzen muss. 2017 berichtet sie im Rahmen ihrer Teilnahme an DANCING WITH THE STARS, dass sie nach der Geburt ihres Sohnes 1996 sechs Fehlgeburten hatte und erst mithilfe einer künstlichen Befruchtung einen weiteren Sohn und eine Tochter bekommen konnte.
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Zu I, TONYA sagt sie nur, dass sie den Film nicht sehen will. Diese Vergangenheit sei kein Teil mehr von ihr. Sie lebt weiterhin fernab der Öffentlichkeit mit ihrem Mann und ihren drei Kindern und gibt nach wie vor nur sehr selten Interviews.

Übrigens: Der Attentäter selbst, Shane Stant, der damals 22 Jahre alt war, und für 6.500 Dollar einer fremden Eiskunstläuferin mit einem Teleskopschlagstock gegen ihr Knie schlug, musste für 14 Monate ins Gefängnis. Später ändert er seinen Namen und immer wieder seinen Wohnort, will sein früheres Leben hinter sich lassen, behauptet, ein besserer und gläubiger Mensch gewesen zu sein.Er hat sich nie bei Nancy Kerrigan für den Angriff entschuldigt.

2 Kommentare:

  1. Wow, endlich komme ich mal wieder dazu eine eurer Kritiken zu lesen und ich finde, ihr habt gut alle Aspekte des Films abgedeckt. Allison Janney und Margot Robbie spielen absolut göttlich. Ich mochte auch sehr die widersprüchliche Erzählweise und dass es keine klaren Antworten auf die vielen Fragen gibt.

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  2. Das Lob freut uns sehr.
    Wir waren begeistert vom Film und den Darstellern und Darstellerinnen.
    Und es tut immer wieder gut, Filme zu sehen, die es sich nicht zur Aufgabe gemacht haben, Antworten zu liefern, sondern die zugrundeliegende Geschichte erzählen und Rückschlüsse den Zuschauern überlassen. Vielleicht, weil es manchmal auch keine klaren Antworten gibt.
    Mehr davon!

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