Weihnachten ist so unterschiedlich wie die Menschen, die es
feiern. Und doch ist es für alle das Fest der Liebe – wenn auch jeder etwas
anderes unter Liebe versteht.
Diesem Ansatz wird 2003 ein Film gerecht, der sich selbst
als „ultimative Liebeskomödie“ feiert. Und in vieler Hinsicht ist er das auch,
da er sämtliche Regeln bisheriger Liebeskomödien in einem Film vereint und um
die Emotionalität der Weihnachtszeit erweitert. Heraus kommt einer der
(buchstäblich) liebevollsten Weihnachtsfilme der Geschichte: TATSÄCHLICH ...
LIEBE!
1967 komponiert der Brite Reg Presley für seine Band The
Troggs das Stück „Love is all around“.
Der Song schafft es auf Platz 5 in England und Platz 7 in den USA.
Obwohl das Lied mehrfach gecovert wird, wird es erst 1994
zum Megaseller: Als Titelsong der britischen Erfolgskomödie VIER HOCHZEITEN UND
EIN TODESFALL wird die Version von Wet Wet Wet zum internationalen Superhit. In
England bleibt der Song 15 Wochen auf Platz 1, bis heute gelang es nur zwei
Songs, länger an der Spitze zu bleiben.
Neun Jahre nach VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL nutzt
dessen Autor Richard Curtis den Song als Inspiration für einen besonders
romantischen Ausflug in die Seele Weihnachtens. Die absolut jedem Engländer
bekannte Songzeile führt zu der Filmerkenntnis: „Love actually is all around“,
was Curtis zum Filmtitel LOVE ACTUALLY verkürzt.
Vier Filme und ein Planerfolg
LOVE ACTUALLY, oder auf Deutsch TATSÄCHLICH ... LIEBE, sieht
sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, ein kalkulierter Erfolg zu sein. Bei einem
Budget von 45 Mio. Dollar und einem Einspielergebnis von 250 Mio. ist der
Erfolg auch nicht von der Hand zu weisen.
Autor Richard Curtis beginnt seine Karriere als Autor von
BLACK ADDER und SPITTING IMAGE und ist maßgeblich an der Reihe MR. BEAN
beteiligt. Seinen ersten Film schreibt er mit DAS LANGE ELEND, bevor er 1994
mit VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL den Knüller landet: Der Film wird zu
einem der erfolgreichsten des Jahres und gilt bis heute als eine der
erfolgreichsten britischen Komödien aller Zeiten. Auch mit NOTTING HILL und
BRIDGET JONES – SCHOKOLADE ZUM FRÜHSTÜCK gelingen Curtis gigantische Erfolge.
2003 wagt sich Englands erfolgreichster Drehbuchautor
endlich, sein neues Werk selbst zu inszenieren - und bedient sich für sein
Regiedebüt TATSÄCHLICH ... LIEBE großzügig an VIER HOCHZEITEN UND EIN
TODESFALL, angefangen mit dessen erfolgreichem Titellied. Curtis gibt später
unumwunden zu, dass er sich für die Eröffnung von TATSÄCHLICH ... LIEBE gezielt
eine Weihnachtsversion von “Love is all around“ ausgewählt habe. Zum Einen empfindet
er es als Spaß, den Engländern erneut einen Film mit dem Titel zu präsentieren,
zum anderen sieht er es als „billigen Versuch“, damit die in England
traditionell wichtige Weihnachts-Nummer-1 der Charts zu werden (was am Ende
aber „Mad World“ von Michael Andrews und Gary Jules aus dem Soundtrack zu
DONNIE DARKO gelingt).
Noch dazu imitiert Curtis für Billy Macks Musikvideo
gnadenlos die Robert Palmer Videos der Achtziger.
©Universal Pictures Home Entertainment |
Curtis‘ Idee für TATSÄCHLICH ... LIEBE sieht vor, die
Weihnachtszeit als Hintergrund zu nehmen, um alle möglichen Formen von Liebe in
einem Film vorzustellen, deren Figuren mehr oder weniger lose miteinander
verbunden sind. So gibt es den heimlich Verliebten, die unglücklich Verliebte,
deren Privatleben eine Beziehung unmöglich macht, freundschaftliche Liebe,
familiäre Liebe, die Liebe von und zu Kindern, Teenagerliebe, alte Liebe,
Männerliebe, geschiedene Liebe, die abgekühlte Liebe, die freie Liebe und, und,
und.
Manche Kritiker machen dem Film genau das zum Vorwurf, indem
sie feststellen, dass Curtis mit dem Konzept wirklich jeden Zuschauer
zufriedenstellen möchte, jedes Klischee aus über 100 Jahren Liebesfilm
verwende, und am Ende ein verwässertes Buffet anbiete. Ein Kritiker formuliert
seinen Eindruck, dass es Curtis eher um eine alle Zuschauer ansprechende Masse
statt um Klasse ginge, so: „Was als deliziöses Mehrgangmenü beginnt, entwickelt
sich irgendwann zum Hot Dog Wettessen.“
Am Ende gelingt dem Film in jedem Fall ein Rekord: Er wird
zu Englands meistgeliehener DVD 2004!
Minus zwei macht neun, minus zwei macht acht
Richard Curtis jongliert in den knapp 130 Minuten des Films
mit insgesamt neun Handlungssträngen – kein Liebesfilm zuvor hat so viele
Handlungen und Paare vereint. Noch dazu macht Curtis sich die Mühe, die
auftretenden Figuren miteinander zu verknüpfen, indem sie miteinander verwandt
sind, Arbeitskollegen oder anderweitig befreundet.
Ausnahme sind der Rockmusiker Billy Mack und sein Manager,
deren „Weihnachtshit“ „Christmas is all around“ allerdings mehr oder weniger
direkt auf die Leben der anderen Figuren einwirkt. Curtis‘ ursprüngliches
Konzept sah sogar elf Handlungsstränge vor. Einen zehnten dreht er sogar noch,
lässt ihn jedoch im Schneideraum liegen: In diesem haben die Kinder von Alan
Rickman und Emma Thompson eine Betreuerin, die zu Hause eine sterbende
Lebensgefährtin versorgt.
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An den Kindern lässt Curtis auch eines seiner Markenzeichen aus:
Curtis, der von seiner Freundin einst für einen Jungen namens Bernard verlassen
wurde, baut in seine Filme häufig eine unangenehme Figur namens Bernard ein, in
diesem Falle den etwas unfreundlichen Sohn des alternden Ehepaares.
In wenigstens einer Version des Films bleiben sogar nur acht
Erzählungen übrig: Als ein amerikanischer Familiensender den Film im
Nachmittagsprogramm ausstrahlt, schneidet er ersatzlos den Strang um John und
Judy heraus – das Körperdouble-Paar beim Pornodreh.
Stars und Spaß am Set
TATSÄCHLICH ... LIEBE ist einer der ersten britischen Filme,
die eine überbordende Masse englischer Film- und Fernsehstars vereint.
Mittlerweile sind selbst die seinerzeit eher unbekannten Darsteller echte Superstars,
etwa Martin Freeman oder Andrew Lincoln.
Dass der Film trotz seines kleinen Budgets so ein
Starvehikel wird, liegt vor allem daran, dass die Rollen recht klein
sind, wodurch selbst vielbeschäftigte Topstars wie Liam Neeson, Bill Nighy,
Colin Firth, Emma Thompson und Hugh Grant Platz in ihrem Terminkalender finden.
Für ihren wenige Sekunden dauernden Cameo-Auftritt erhält
Claudia Schiffer übrigens, gerüchteweise, 200.000 britische Pfund – womit sie
Sean Connerys vielbeachteten teuren Kurzauftritt in ROBIN HOOD –KÖNIG DER DIEBE
locker übertrumpft.
Problematisch wird für Regisseur Curtis allerdings die
Besetzung der Sarah: Obwohl er sich Dutzende talentierter Schauspielerinnen
anschaut, lehnt er jede ab, weil er „jemanden wie Laura Linney“ sucht. Genervt
fordern die Produzenten ihn schließlich auf, Laura Linney (eine in England vergötterte
Theaterschauspielerin) anzufragen. Die kommt zum Casting und erhält die Rolle.
Da sie zeitgleich in Boston für MYSTIC RIVER vor der Kamera steht, muss sie
innerhalb weniger Wochen mehrmals über den Atlantik fliegen.
Ein wenig zur Senkung des Budgets trägt auch Kris Marshall
bei, der den nach Amerika zu den leichten Mädchen fliehenden Colin spielt. Der
gibt seinen Scheck über einen Drehtag zurück, an dem er für eine Szene
einundzwanzig Mal von January Jones, Elisha Cuthbert und Ivana Milicevic
ausgezogen wird – ein Spaß, für den er sich unmöglich reinen Gewissens bezahlen
lassen kann.
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Einen Spaß macht sich auch die portugiesische Casterin, die
mit der ebenfalls portugiesischen Schauspielerin Lúcia Moniz befreundet ist,
als sie deren Unterlagen an die Filmmacher schickt. Zur völligen Überraschung
der beiden erhält Moniz nicht nur ein Casting, sondern am Ende sogar die Rolle
der Haushälterin Aurelia.
Auch an anderer Front wird Moniz das Team auf Trab halten:
Für die Szene im See (der nur knietief ist – für die „Schwimmszenen“ müssen sie
und Colin Firth sich hinknien) bespricht das Team beinahe eine Stunde, welche
Farbe ihre Unterwäsche haben soll.
Politik und Lokalkolorit
Der Film schafft es schließlich sogar in die britische Realpolitik.
Aber zuerst schafft Regisseur Curtis es in die „Downing Street Number 10“.
Um den Sitz des britischen Premierministers nachbauen zu
können, bekommen Curtis und sein Produktionsdesigner Jay Clay eine
Sonderführung durch den Sitz des damaligen Staatsoberhaupts Tony Blair. Sie
dürfen weder Fotos noch Notizen machen, Clay baut den Amtssitz später aus der
Erinnerung nach.
Der Film schließt einen Handlungsstrang zudem mit einer
deutlichen Rede des von Hugh Grant gespielten (fiktiven) Premierministers, in
dem dieser klar macht, dass man sich nicht länger von den USA herumschubsen
lassen wolle. Damit spricht er einigen Engländern aus der Seele. 2005 sagt der
(reale) Premierminister Blair: „Ich weiß, einige von uns würden sich wünschen,
dass ich wie Hugh Grant in TATSÄCHLICH ... LIEBE Amerika die Leviten lesen würde.
Aber der Unterschied zwischen einem guten Film und dem echten Leben ist der,
dass das echte Leben immer einen nächsten Tag, ein nächstes Jahr, ein nächstes
Leben bedenken muss und die ruinösen Konsequenzen des kurzen Applauses.“
Als Blair schließlich das Zepter an Gordon Brown übergibt,
nennen das viele Kommentatoren einen „TATSÄCHLICH ... LIEBE Augenblick“, weil
sie sich einen Wandel der Beziehungen zu den USA wünschen.
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Curtis‘ stellt dem Film die These voran, dass man am
Flughafen sehen könne, dass tatsächlich Liebe überall sei. Die im Film
gezeigten Szenen sind dabei echte Szenen, die ein kleines Team zwei Wochen lang
in Heathrow sammelt. Auch die abschließenden Einblendungen sind, sobald die
Filmhandlung auserzählt ist, real. Die Bildcollage, die die Filmcollage abschließt,
zeigt ganz am Ende für eine kurze Sekunde passenderweise noch – ein Herz!
Die Folgen der Episoden
Der Erfolg von TATSÄCHLICH ... LIEBE ist unübersehbar. Nicht
nur erschafft er nahezu ein eigenes Genre, er wird auch zu einem wild und frei nachgemachten
Film auf der ganzen Welt.
Trotz aller Kalkulation kommt die herzergreifende Geschichte
an. So gut wie jeder Zuschauer kann sich in irgendeiner der Figuren wiederfinden
und mitfühlen. Hinzu kommt, dass der Film bei aller Sentimentalität jenen
unvergleichlichen britischen Curtis-Humor mitbringt, dass man ihm selbst seine
Macken verzeiht. Genau das ist es auch, was vielen Nachahmern fehlt. Nicht nur
zieht der Film weitere Feiertags-Collagen nach sich wie NEW YEARS EVE oder
VALENTINSTAG (beide von Garry Marshall inszeniert und von Katherine Fugate
geschrieben), sondern er wird auch international als Weihnachtsfilm gecovert. So
erscheint 2007 in Indien SALAAM-E-ISHQ: A TRIBUTE TO LOVE (nach zwei Jahren
Drehzeit mit einer Laufzeit von 216 Minuten) und in Japan 2013 IT ALL BEGAN
WHEN I MET YOU – beides Kulturkreise, in denen Weihnachten eine gänzlich andere
Bedeutung hat. In Polen eifert man 2011 mit BRIEFE AN DEN WEIHNACHTSMANN dem
britischen Original nach, und aktuell läuft in deutschen Kinos mit ALLES IST LIEBE
ein direktes Remake des niederländischen Films ALLES IST LIEBE, der aber auch
nur wieder ein unverhohlener Abklatsch von TATSÄCHLICH ... LIEBE ist.
Am Ende fehlt allen Nachahmern die kongeniale Mischung des Originals.
Nicht nur ist es eben schwer, eine derart emotionale Liebescollage außerhalb
der Weihnachtstage zu erzählen, zum anderen ist es eben der typische
Curtis-Humor, der die teilweise arg kitschigen oder anrührigen Szenen angenehm
auflockert und damit verzeihlich macht.
Biancas Blick:
Der Klassiker...
Auch wenn TATSÄCHLICH ... LIEBE einer der ausladendsten
Liebes-Episoden-Filme ist, ist er bei Weitem nicht der erste. Der klassische
Episodenfilm hat eine lange Tradition.
Im klassischen Sinne werden dabei mehrere „Episoden“ erzählt
und zu einem Ganzen gefügt.
Zu Beginn der Episodenfilme sind die einzelnen Erzählstränge
zunächst chronologisch und in sich abgeschlossen aufeinander folgend, ähnlich
einer Serie.
Der erste Episodenfilm ist der 1916 entstandene Film
INTOLERANCE von D.W. Griffith. In diesem Stummfilmklassiker werden vier
Geschichten aus vier verschiedenen Epochen erzählt.
Akira Kurosawa gelingt mit RASHOMON eine etwas abgewandelte
Form des Episodenfilms: Er lässt seine Figuren einen Tathergang aus
verschiedenen Sichtweise erzählen und löst die Tat schlussendlich auf. Hier
werden also parallel ablaufende Episoden gegenübergestellt.
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Etwas klassischer wiederum ist Max Ophüls‘ DER REIGEN von
1950: Durch eine Liebschaft zwischen einem Offizier und einer Prostituierten
werden zehn Handlungen ausgelöst, die nacheinander erzählt werden.
In DER GELBE ROLLS ROYCE wechselt das titelgebende Fahrzeug
vier Mal den Besitzer und erzählt kurze Ausschnitte aus deren Leben. Hier liegt
der Kunstgriff darin, ein verbindendes Element zu schaffen, das alle Episoden
locker miteinander verknüpft. Ähnlich wie es später in dem TWILIGHT ZONE Film
UNHEIMLICHE SCHATTENLICHTER
Ähnliche Elemente nutzen später beispielsweise die Filme
UNHEIMLICHE SCHATTENLICHTER, FOUR ROOMS, das in einem Hotel von dessen Gästen
erzählt, NIGHT ON EARTH von Jim Jarmusch um Taxifahrer und deren Gäste in New
York und natürlich Robert Altmans SHORT CUTS!
11'09"01 - September 11 von 2002 zeigt in einzelnen
Episoden, wie der 11. September sich auf Menschen in unterschiedlichen
Kulturkreisen auswirkt.
... und seine Variationen
Bereits 1932 entsteht mit MENSCHEN IM HOTEL eine stark
variierte Form des klassischen Episodenfilms: In diesem Klassiker werden
verschiedene Erzählstränge chronologisch erzählt, jedoch nicht sofort in sich
abgeschlossen, sondern immer in kurzen Auszügen, bevor dann wieder ein kurzer
Auszug einer parallel laufenden Handlung eingeblendet wird.
Tarantino dekonstruiert den Episodenfilm 1994 schließlich
endgültig und wagt etwas ganz Neues: PULP FICTION ist ein Thriller, der seine
durchgehende Handlung in einzelne Handlungsstränge auflöst und diese in
unchronologischer (!) Reihenfolge zeigt. Zwar besteht auch dieser Film aus
mehreren Personen und deren Lebensauszügen, aber Tarantino setzt zu
unterschiedlichen Zeiten in deren Geschichten ein, so dass manch ein
Erzählstrang, der gerade erst begonnen hatte, im nächsten Einschnitt bereits
beendet wird, um im dritten Teil seine Haupthandlung erzählt zu bekommen.
Das ist neu, das ist revolutionär und bis heute unerreicht!
MAGNOLIA, Paul Thomas Andersons wuchtiges Drama von 1999,
nimmt wieder die chronologische Erzählstruktur auf, und erzählt wieder einen unterbrochenen
Episodenfilm von Figuren, die am Ende durch ein gemeinsames Erlebnis
zusammengeklammert werden. Ähnlich funktioniert L. A. CRASH, der rassistische
und soziale Themen anhand unterschiedlicher Figuren beleuchtet, die alle mehr
oder weniger stark durch einen Autounfall verbunden werden.
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Obwohl dieses Konzept seither immer wieder kopiert wird,
gelingt es bis heute keinem Film, das so leicht und ungekünstelt nachzubauen,
wie dem Original: TATSÄCHLICH ... LIEBE.
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