Richard Linklaters Langzeitwerk BOYHOOD sorgt 2014 für offenstehende Münder und jede Menge Applaus. Einige bescheinigen ihm, der vielleicht beste Independentfilm aller Zeiten zu sein. In jedem Falle ist er einer der ungewöhnlichsten und äußerst sehenswert. Für die Beteiligten ist die dreizehnjährige Arbeit an dem Film deutlich angenehmer, als das Werk anschließend zu sehen. Und es bleibt die Erkenntnis, dass BOYHOOD zwar eine exzellente Zeitreise ist, aber kein Coming of Age Film – zumindest kein guter.
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Biancas Blick:
Man kann das Risiko, das Richard Linklater mit seinem
Filmexperiment BOYHOOD eingegangen ist, gar nicht hoch genug würdigen.
Natürlich gab es schon vorher ähnliche Langzeitprojekte.
Etwa die Reportage DIE KINDER VON GOLZOW von Barbara und Winfried Junge, die
Kinder des Ortes im ehemaligen Osten Deutschlands begleiteten – vom Jahr des
Mauerbaus 1961 bis 2007, ungescriptet und undramatisiert. Eine Langzeitstudie.
Oder Michael Apteds UP-Reihe, eine Dokumentarfilmreihe,
bei der Apted 14 Personen seit 1964 alle sieben Jahre aufsucht und begleitet.
Der letzte Teil lief 2012. Oder Francois Truffauts Figur Antoine Denoil, den er
über vier Spielfilme begleitet (u.a.1959 in SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN), allerdings
ist die Handlung hier dramatisiert.
Es gab also entweder reine Langzeit-Dokus oder Spielfilmreihen, die lange
Zeitabschnitte abdeckten. Aber kein Projekt, das beides zu vermischen versuchte.
Etwa 1999 entwickelt Linklater die vage Idee, einen dokumentationsähnlichen Spielfilm zu inszenieren, in der ein Junge die Schulzeit durchlebt. Ein Crossover von Fiktion und Dokumentation. (Einige Jahre später sollen ihm die sogenannten Mockumentarys zuvorkommen, die allerdings meist einen humorvollen Hintergrund haben.)
Achtung! Mit Stolpersteinen muss gerechnet werden!
Etwa 1999 entwickelt Linklater die vage Idee, einen dokumentationsähnlichen Spielfilm zu inszenieren, in der ein Junge die Schulzeit durchlebt. Ein Crossover von Fiktion und Dokumentation. (Einige Jahre später sollen ihm die sogenannten Mockumentarys zuvorkommen, die allerdings meist einen humorvollen Hintergrund haben.)
Zu dieser Zeit dreht Linklater den ersten Teil seiner
BEFORE-Trilogie, für die er ähnliche Ambitionen hegt und die er als Vorläufer
von BOYHOOD ansieht - ihn interessieren die Langzeitwirkungen von Beziehungen, die im Film meist nach zwei Stunden "fertig" sind.
Im Laufe von mittlerweile 18 Jahren folgt er in dieser Trilogie den drei Schlüsselmomenten eines jungen Paares, einer Französin (Julie Delpy) und eines Amerikaners (Ethan Hawke), die jeweils eine Nacht und einen Tag miteinander verbringen, reden, philosophieren, sich einander annähern, getrennte Wege gehen, um dann doch in einer Beziehung landen, die schließlich altert.
Im Laufe von mittlerweile 18 Jahren folgt er in dieser Trilogie den drei Schlüsselmomenten eines jungen Paares, einer Französin (Julie Delpy) und eines Amerikaners (Ethan Hawke), die jeweils eine Nacht und einen Tag miteinander verbringen, reden, philosophieren, sich einander annähern, getrennte Wege gehen, um dann doch in einer Beziehung landen, die schließlich altert.
Linklaters bisher 25 Jahre umspannende Karriere zeugt von dem enormen Drang, Neues zu versuchen und Genres zu vermischen. Er „erfindet“ die
Alltagsunterhaltung im Film, dreht Komödien, Dramen, Science Fiction, gibt
seinen Realfilmen WAKING LIFE und A SCANNER DARKLY per Rotoscope-Technik einen Zeichentricklook,
und wendet sich nun einem auf ganzer Breite der Zeitebene ausgebreiteten Filmexperiment,
das viele seiner bevorzugten Filmelemente vereint.
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Hawke erfährt als erster von LInklaters Idee, dieses
einzigartige Langzeitprojekt zu inszenieren. Hawke ist sofort Feuer und Flamme
und sagt seine Mitwirkung zu. Hawke ist nach seinem Durchbruch als Todd
Anderson im 1989er Schuldrama DER CLUB DER TOTEN DICHTER inzwischen in der
A-Liga des Independentfilms angekommen und etabliert.
Mit Patricia Arquette bekommt das Projekt eine zweite solide
Säule und die Drehbuchentwicklung beginnt.
Linklaters Tochter Lorelei, damals sieben Jahre alt, will
ebenfalls unbedingt mitmachen und erhält somit die Rolle der Sam, Masons
älterer Schwester.
Als
Hauptfigur Mason castet Linklater schließlich den jungen Ellar Coltrane, dessen
Kindheit und Jugend wir durch seine Augen erleben.
Linklater sagt später in einer Pressekonferenz, das größte
Risiko sei gewesen, einen Sechsjährigen für ein Langzeitprojekt zu casten. Ihm
standen keine Möglichkeiten zur Verfügung, den Jungen zu binden. 13-Jahresverträge
gäbe es nunmal nicht. Er musste also darauf vertrauen, dass Ellar bis zum Schluss
im Projekt bleiben wolle.
Auch war nicht abzusehen, in welche Richtung Ellar sich möglicherweise
entwickeln würde. „Wäre er als Teenager 250 Pfund schwer, wäre das
wahrscheinlich eine komplett andere Geschichte geworden“, witzelt Linklater.
In den Drehpausen verbringen Linklater und Coltrane viel Zeit
miteinander. Sie wohnen in dergleichen Stadt, gehen oft ins Kino. Coltrane wird
zu Hause unterrichtet, hat also einen komplett anderen Background als Mason im
Film, was den Dreh zunächst erschwert. So lehnten sich beide Kinder beispielsweise
gegen ihre Filmkleidung auf, mit der Begründung, privat würden sie so was nie
tragen.
Coltrane wächst jedoch im Laufe der Jahre immer besser in
seine Rolle hinein, ebenso Lorelei Linklater.
Gedreht wird alle neun bis achtzehn Monate für vier oder fünf Tage. Linklater entwickelt das Drehbuch jährlich weiter und fügt die fertigen Szenen sofort ans bereits vorhandene Material an, damit der Fluss erhalten bleibt.
Besser gut improvisiert als schlecht gespielt
Gedreht wird alle neun bis achtzehn Monate für vier oder fünf Tage. Linklater entwickelt das Drehbuch jährlich weiter und fügt die fertigen Szenen sofort ans bereits vorhandene Material an, damit der Fluss erhalten bleibt.
Linklater selbst sagt zur Drehbuchentwicklung, er habe nie
zuvor einen Film realisiert, bei dem sich das Drehbuch so eigenständig
entwickelt habe wie bei BOYHOOD. Es habe seine eigene Geschichte gefunden und
erzählt, besonders, wenn die Drehtage nahten. Insgesamt verfasst Linklater
12(!) Drehbücher. Das gibt ihm die Möglichkeit, felxibel zu bleiben. Er kennt
zwar grob die Handlung, aber jeder Dreh verändert die Umstände ein wenig. Vor
allem fließen die Charaktere der Schauspieler immer wieder ein, mit denen
Linklater sich vor dem Dreh bespricht. Der Film entwickelt sich immer
selbständiger.
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Auch Ellar Coltrane und Lorelei Linklater, welche die Drehs
als jährliches Treffen mit Freunden bezeichnet, entwickeln ihre Texte selber, je
älter sie werden, allerdings weniger pointiert und zielgerichtet.
Patricia Arquette und Ethan Hawke als Masons Eltern füllen
ihre kurzen Auftritte mit Spielfreude und glaubwürdigen Handlungsimpulsen. Sie
sind durch ihre Aktionen diejenigen, die, drehbuchgebunden, die Handlung
vorantreiben. Sie verändern sich von Revoluzzern und von der Liebe enttäuschten
und nach Anerkennung suchenden Endzwanzigern zu gereiften und gesetzten
Mittvierzigern.
Etliche Zuschauer und Kritiker bekunden nach der Sichtung
des Filmes, dass sie den Film für eine Dokumentation gehalten hätten, wenn
Arquette und Hawke nicht so bekannt gewesen wären.
Altern mal ganz natürlich
Auch für die Beteiligten ist der Film bei Erscheinen keine
leichte Kost. Linklater hat die fertigen Szenen seit Beginn zurückgehalten. Erst
jetzt sehen die Darsteller das Ergebnis.
Patricia Arquette sagt, nachdem sie den Film gesehen hat, es
sei außergewöhnlich und nicht immer leicht gewesen, sich selbst innerhalb so
kurzer Zeit völlig natürlich auf der Leinwand altern zu sehen, ohne Make Up
oder Spezialeffekte. Dennoch bewundert sie das Projekt und ist froh, teilgenommen
zu haben.
Immer wieder bekunden alle Beteiligten, wie lebensbegleitend
der Dreh war. Arquette wird während der Drehzeit Mutter und geschieden, ebenso Ethan Hawke.
Alle verlieren Familienmitglieder und erfahren andere fundamentale Umwälzungen
im Leben. Damit wird BOYHOOD auch real zu einem Zeitdokument, bei dem die
Darsteller die Drehzeit und einzelnen Episoden mit realen Geschehnissen
verbinden.
Auch die „Kinder“ Lorelei Linklater und Ellar Coltrane dürfen
den Film erst nach Beendigung sehen. Lorelei sagt, dass es schwer gewesen sei,
ihre ganze Jugend und Entwicklung innerhalb so kurzer Zeit wieder aufleben zu
sehen, und dass sie geweint habe.
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Marcos Blick:
BOYHOOD wird von dem zusammengehalten, was Richard Linklater
am besten kann: Das entspannte Dahintreiben auf dem Fluss des Lebens.
Von daher ist es einer seiner besten Filme, weil es ihm durch
Geduld und Ausdauer gelingt, den langen ruhigen Fluss des Lebens in
Originalzeit zu bereisen. Nicht nur für die Darsteller, auch als Zuschauer eine
faszinierendes Erfahrung.
Linklaters Stärke erweist sich hier allerdings auch als
seine Schwäche. Denn wenn ein Film einen jungen Protagonisten über dreizehn
Jahre durch die gesamte Schulzeit hindurch begleitet, muss er es sich gefallen
lassen, ein Coming of Age Film zu sein. Und genau hier offenbart BOYHOOD seine vielleicht
einzige echte Schwäche.
Des Bauernkindes Lehrjahre
Ein Blick zurück an die Wurzeln des Coming of Age Themas
offenbart das Brachland des Mittelalters.
In vielerlei Hinsicht ist das Leben bis ins 16. Jahrhundert
hinein deutlich einfacher gestrickt. Vor allem, weil sich keine Notwendigkeit ergibt,
sich zu überlegen, was man mit seinem Leben anfängt.
Das Leben gilt als vorherbestimmt. Als prädeterminiert.
In den meisten Fällen tut es das aus Notwendigkeit und
Mangel an Alternativen. Wer als Sohn eines Bauern auf die Welt kommt, wird sein
Leben mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Hof verbringen. Irgendwann wird er
ihn führen, seine Eltern versorgen, und eigene Kinder aufziehen.
Wer in der Stadt lebt, wird ein Handwerk erlernen, häufig
das des Vaters, und in diesem sein Dasein fristen. Er wird seine Eltern
versorgen und eigene Kinder aufziehen.
Kaufmannssöhne werden Kaufmänner, Tischlersöhne Tischler,
Bauernsöhne Bauern. Mädchen heiraten, oft genug in Familien aus dem gleichen
Stand: Kaufmannstöchter heirateten Kaufmänner, Tischlertochtern Tischler und
Bauerntöchter Bauern.
Waisenkinder landen oft in den weniger beliebten Berufen – können
sich aber hier tatsächich etwas entfalten. Ansonsten bleibt das Leben meist von
Geburt an relativ klar vorgezeichnet.
Damit die zeit auf Erden nicht allzu trist und sinnlos erscheint,
gibt es die Religion. Solange die Menschen aus ihrem starren Berufskorsett
nicht herauskönnen, bietet der Glaube ihnen die Möglichkeit, ihr Leben sinnvoll
zu gestalten. Ob man Gottes Liebe oder Verdammnis empfängt, hat man selbst in
der Hand. Sinn und Ziel des Lebens ist nicht die berufliche Erfüllung, sondern
der Einzug ins Paradies.
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Damit ist das übliche Ausmaß der Entscheidungsfreiheit
bereits ausgeschöpft.
Dann kommt eine Bewegung auf, die das ändert: Die
Aufklärung! Mit dem Ansteigen der Bildung wachsen die Möglichkeiten. Und mit
den Möglichkeiten kommt der Zweifel an der Prädeterminiertheit des Lebens. Und
damit der Zweifel an Gott.
Die Gesellschaft beginnt, ihr Schicksal aus Gottes Hand zu holen
und selbst Verantwortung zu übernehmen. Plötzlich kann jeder, in gewissem
Rahmen, entscheiden, was er mit seinem Leben anstellen will.
Bis dieses neuartige Konzept allerdings Einzug in die
Literatur findet, dauert es noch. Doch als es kommt, kommt es mit einem
Donnerschlag! Zwischen 1795 und 1796 erscheint Johann Wolfgang von Goethes
„Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – der erste bedeutende Entwicklungsroman und
direkter Vorläufer der modernen Coming of Age Geschichten!
Bildung für alle! Selbst Katzen!
Goethes Werk ist revolutionär. Bisher sind Romanfiguren bis
in den letzten Winkel vorherbestimmt. Ihr Schicksal, ihr Leben, alles ist Teil
von Gottes Plan. (Einige wenige Romane wie „Der grüne Heinrich“ bringen bereits
Entwicklungselemente ein, aber keiner so konsequent und fokusiert wie Goethes „Lehrjahre“.)
Wilhelm Meister aber führt ein gänzlich ungeplantes Leben. Er lässt das Gewerbe
seines Vaters stehen und zieht in die Welt mit dem Wunsch, Schauspieler zu
werden. Doch diverse Begegnungen, Erfahrungen, gescheiterte Versuche und
geglückte Zufälle führen ihn schließlich in eine gänzlich andere Richtung.
Wilhelm Meister nimmt seine Erlebnisse und Erfahrungen an und auf und
entwickelt sich an ihnen weiter. Durch sie findet er seinen Weg im Leben, den
er gehen will.
Goethes Roman ist bei Erscheinen ein umwälzendes Werk. Die
Vorstellung, eine Romanfigur – oder ein Mensch! – könne sich verändern und
entwickeln, schon die Vorstellung, der Mensch würde sich anhand seiner
Erlebnisse entwickeln, scheint vielen Suspekt. Goethe nimmt viele psychologische
Aspekte der menschlichen Entwicklung vorweg, fast hundert Jahre, bevor die
Psychologie überhaupt aufkommt.
Den stets streitbaren E.T.A. Hoffmann inspiriert Goethes
revolutionär-ketzerisches Werk zu seiner Satire „Lebens-Ansichten des Katers
Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in
zufälligen Makulaturblättern“, in dem er seine eigene Katze Murr auf ihrem an
Wilhelm Meister angelehnten Bildungsweg begleitet.
Doch die Entwicklung ist nicht mehr aufzuhalten – die
zunehmendes Bildung und der durch die Industrialisierung aufkommende Wohlstand
löst die Vorherbestimmtheit der jungen Generation mehr und mehr auf. Goethe
soll recht behalten: Bald wird nahezu jeder Mensch – von gewissen
Einschränkungen wie Rasse, Geschlecht, Religion oder anderen oft verfolgten
Merkmalen abgesehen – selbst in der Hand haben, was er aus seinem Leben machen
will.
Mehr und mehr gerät die Jugendzeit zu einer Zeit der
Selbstfindung. Was den Kern der Coming of Age Geschichte ausmacht.
Das kommende Alter
Im Kern ähneln sich sämtliche Coming of Age Geschichten: Es geht
um junge Menschen, oft Jugendliche, die nicht wissen wer sie sind, aufgrund
ihrer Erlebnisse aber herausfinden, was sie sein wollen.
Manchmal geschieht das schlaglichtartig wie „Der Fänger im
Roggen“, der Holden Caulfields Wandlung vom Kind zum Mann an einem Wochenende
folgt. (Ähnlich in DER DUFT DER FRAUEN.)
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Coming of Age Filme nutzen junge Figuren, um moralische,
politische, philosophische oder soziale Themen anzusprechen und zu behandeln.
Die Ereignisse im Film prägen die junge Figur. Sie wird weniger naiv, reifer,
willensstärker, entschlossener, weiser, reichhaltiger, strukturierter,
zielgerichteter oder einfach verständnisvoller. In jedem Fall führen die
Ereignisse zu einer Entwicklung, dazu, dass eine junge, durchs Leben treibende
Figur sich etwas klarer positionieren kann, etwas klarer weiß, was es vom Leben
erwartet oder will.
Ziellos sentimental
All das sind allerdings keine Merkmale eines Richard
Linklater – und damit auch nicht von BOYHOOD.
Man sollte meinen, wenn man zweieinhalb Stunden zuschaut,
wie aus einem sechsjährigen Jungen ein neunzehnjähriger Collegestudent wird,
würde er weiser aus der Geschichte herauskommen, als er hineingegangen ist.
Doch genau das bietet Linklaters Film nicht.
Dass Mason mit sechs Jahren noch nicht weiß, was er mit
seinem Leben anfangen will, ist verständlich. Dass er es nach diversen
Entwicklungen mit neunzehn immer noch nicht weiß, wirkt hingegen künstlich.
Nun ist es Linklaters Markenzeichen, „Slacker“ zu
inszenieren – Figuren, die ohne den Wunsch nach viel Verantwortung durchs Leben
treiben, und morgens noch nicht wissen, was sie abends tun werden.
Dabei ist Linklater kein Neuling im Coming of Age Genre. Schon
öfter inszenierte er Jugendliche und andere an der Schwelle zum Erwachsensein
Stehende. Wie in BOYHOOD ist das immer interessant, immer emotional – nur eben
nicht zielgerichtet.
Bei vielen seiner Figuren ist das auch durchaus passend. Es
sind Mittzwanziger oder Mittdreißiger, die sich gezielt davor drücken, etwas zu
wollen. Das Ergebnis sind spannende Dialoge über alle möglichen Themen. Es ist
dieses Verharren im Augenblick, das niemand besser inszeniert als Linklater.
Genau diesen Genuss des Augenblicks bietet auch BOYHOOD. Zur
Genüge.
Ethan Hawke erklärt über seinen Freund „Rick“ Linklater: "Als
wir an BEFORE SUNRISE arbeiteten, fürchteten wir, der Film könne langweilig werden.
Rick sagte: ‚Ich war noch nie in einem Flugzeugabsturz, einem Feuergefecht oder
Teil einer Regierungsverschwörung. Trotzdem ist mein Leben voller traumatischer
Erlebnisse. Das Traumatischste, was mir je geschehen ist, war der Kontakt zu
anderen Menschen.‘“
Damit gibt Hawke Linklaters Welt nahezu perfekt wieder.
Linklater sucht die Dramen und Traumata im Alltag, gerade im Alltag des
Erwachsenwerdens. Seine Jugendfilme sind Filme über das Trauma des Erwachsenwerdens,
das jeder von uns durchmacht – weshalb seine Filme stets so sentimental wirken.
Sie erinnern einen schnell an die eigene Kindheit.
Auch BOYHOOD ist bis obenhin angefüllt mit den Traumata des Erwachsenwerdens,
vom Heilen der Wunden, von der Assimilation ins eigene Leben. Das macht den
Film so gut, und in Kombination mit seiner Langzeitproduktion auch so angenehm
wuchtig.
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Dennoch bleibt ein Hauch von Enttäuschung, dass es eben kein Coming of Age Film ist. Es bleibt
enttäuschend, dass Mason mit 19 immer noch nicht weiß, wohin sein Leben führen
soll. Er begegnet den Unbillen des Lebens durchgehend stoisch und mit einem
Achselzucken. Die fehlende Wandlung und Reife wirkt hier besonders schmerzlich,
wenn eine Figur, die offensichtlich politische Ansichten hat, moralische Werte,
die mit der Fotografie kurzzeitig einem Hobby frönt, am Ende einzig darauf
reduziert wird, dass sie über die Trennung von der High School Freundin
hinwegkommt.
Damit entlässt der Film einen nach dreizehn Jahren: Mason
findet ein neues Mädchen interessant!
Dass es eben auch anders ginge, zeigen die Figuren von Ethan
Hawke und Patricia Arquette! Beide entwickeln sich weiter, lernen aus den
Jahren, finden neue Einflüsse und Inspirationen. Beide sind am Ende gereifter
und weiser, ruhiger und auch etwas furchtsamer. Beide wachsen und reifen.
Linklaters Schwerpunkt liegt eindeutig nicht darauf, dass
seine Figuren „lernen“ oder mit einer Erkenntnis aus dem Film kommen. Linklater
sucht (und findet) die Gefühle, die Ängste und Sorgen und eben Traumata des
Erwachsenwerdens, besonders schön eingefangen in einer Szene, in der Mason
erkennt, dass es in der echten Welt keine Magie gibt – oder zumindest nicht die
Magie, die er als Kind stets für glaubwürdig gehalten hat.
Aber ein Coming of Age Film erfordert, dass, in irgendeiner
Art und Weise, der älterwerdende Charakter aus dem Älterwerden eine Erkenntnis
mitnimmt. Die bietet BOYHOOD aber nicht – aus welchen Gründen auch immer.
Trotz all der spannenden Erlebnisse ihrer Jugend bieten weder Mason noch seine
Schwester (die von Jahr zu Jahr gelangweilter in die Kamera schaut) viel
interessante Entwicklung.
Ellar Coltrane, mittlerweile 19, mit Regisseur Richard Linklater. Ein spannendes Experiment, dem Jungen beim Aufwachsen zuzusehen. © 2014 Universal Pictures Home Entertainment |
Aber für einen Jugendfilm, für einen Coming of Age Film, ist BOYHOOD zu unfokussiert, zu ungeplant und bietet keine Erkenntnis, die man eventuell aufs eigene Leben übertragen könnte. Das ist schade, weil man sich wünscht, dass ein so geduldig erzählter Film irgendeinen Eindruck auf das eigene Leben haben kann, außer dass man sich daran erinnert, selbst mal Kind gewesen zu sein. Dafür fehlt dem Film allerdings die Wucht, und wenn, dann kommt sie aus den Figuren der Erwachsenen, nicht der Kinder – die damit zu Nebendarstellern verkommen.
So ist BOYHOOD ein Film, der emotional so gehaltvoll ist, wie er an Erkenntnis unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Ich habe euren Blog zufällig entdeckt. Das ist spannend, wie mehrere Meinungen nebeneinander stehen und konkurrieren.Die Filmauswahl spricht mich auch an und die Gründlichkeit und Sorgfalt der Texte.
AntwortenLöschenÜbrigens finde ich schon, dass "Boyhood" genug Wucht hat. Es sind die Dramen des Alltags, die für den, der sie erlebt, spektakulär sein können. Ein Regisseur muss sie nur gut genug inszenieren, etwa den letzten Blick des Jungen zurück aus dem Auto auf die Straße und den Freund, die er beim Umzug gerade zum letzten Mal sieht. Darüber habe ich auch zwei Artikel geschrieben:
http://filme-sehen.blogspot.de/2014/07/boyhood-drama-of-life_19.html
http://filme-sehen.blogspot.de/2014/08/boyhood-kinder-sind-keine-pawlowschen.html
http://filme-sehen.blogspot.de/
munaretto2014@gmail.com
Hallo Stefan,
AntwortenLöschenvielen Dank für das Kompliment.
Natürlich hast du recht, dass die kleinen Alltagsdramen in BOYHOOD wuchtvoll sein können und für die Figuren ja auch sind.
Die Frage, an der sich das aufreibt ist die, ob eine in sich geschlossene, für die Figuren dramatische Situation ausreicht, oder ob der Film als (nahezu dreistündiges) Kunstwerk für die Zuschauer eine Form von paraphrasierter Aussage bereitstellt.
In unseren Augen ist Letzteres im Film zu dünn gesät. Du legst in deinen Artikeln aber auch gut dar, dass es durchaus reichen kann, Filmimmanent dramatisch zu bleiben.
Das ist tatsächlich eine Frage persönlicher Neigung und Erwartung.
Danke für den spannenden Zusatz. :)