THE IMITATION GAME – erfolgreichster Independent-Film des
Jahres, einer der Topfavoriten für die Award-Season, umstrittenes Biopic. Der
kleine, britische Film über den größten Triumph des englischen Mathematikers
Alan Turing bietet vieles, allem voran einen Hauptdarsteller in Topform, eine
filmreife Entstehungsgeschichte und die Frage: Was genau ist ein „Imitation
Game“?
– Spoilerwarnung –
Dieser Beitrag enthält leichte Hinweise zur Handlung
Marcos Blick:
THE IMITATION GAME bringt auf leichtfüßige Art und Weise ein echtes Schwergewicht auf die Leinwand! Ein Biopic über einen der größten Mathematiker und Logiker der Geschichte, über eine der spannendstens Geheimschlachten des zweiten Weltkriegs, und eines der schamvollsten Kapitel britischer Justizgeschichte. Gleichzeitig bittet der Streifen sehr bewegend um die Achtung der Rechte Homosexueller.
Der Film erzählt die auf historischen Tatsachen beruhende
Geschichte des britischen Mathematikers Alan Turing, der während des Zweiten
Weltkriegs in der englischen Spionageeinrichtung „Bletchley Park“ daran
mitarbeitet, die Codes der deutschen Enigma-Maschinen zu knacken – und so einen
entscheidenden Vorteil im Krieg zu erringen.
Anfang der Fünfziger gerät Turin, dessen Kriegsbemühungen
öffentlich nicht bekannt sind, nach einem Einbruch in sein Apartment in die
Mühlen der Justiz – er wird für gleichgeschlechtliche Aktivitäten angeklagt,
zur chemischen Kastration verurteilt, und stirbt im Juni 1954 unter
ambivalenten Umständen, die einen Selbstmord nahelegen.
Kein anderer Antrieb als Enthusiasmus
Die Entstehungsgeschichte des Films ist dabei selbst
filmreif und beginnt im September 2009. Der nur leidlich erfahrene Produktionshelfer
Ido Ostrowsky, gerade dreißig, dessen Erfahrung sich darauf beschränkt,
Protokolle bei Storysitzungen der Serie GOSSIP GIRL geführt zu haben, stolpert
im Netz über eine Entschuldigung des britischen Premiers Gordon Brown für die
Behandlung Alan Turings durch den Staat und erkennt das erzählerische Potential
der Geschichte.
Die genauen Details zu Turings Leben kamen erst in den
Neunzigern ans Licht – vorher waren sie als Verschlusssache nicht zugänglich –
und sind bereits dramatisch aufgearbeitet worden. Nicht zuletzt Robert Harris‘
Roman „Enigma“, der unter gleichem Namen verfilmt worden war, widmete sich,
stark fiktionalisiert, Turings Arbeit an der Enigma-Entschlüsselung.
Doch niemand hatte bisher dem Leben Turings selbst ein
filmisches Denkmal gesetzt.
Ostrowsky macht seine gute Freundin Nora Grossman auf die
Geschichte aufmerksam. Grossmann ist Mitte Zwanzig und hat in einer
Produktionsfirma Kaffee gekocht und Akten sortiert – mehr Erfahrung weist auch
sie nicht auf.
Doch je tiefer beide in Turings Leben eintauchen, desto
faszinierter und enthusiastischer werden sie, dass sich hier ein fantastischer
Film verbirgt.
Schließlich fasst Grossman sich ein Herz und fliegt nach
London, wo sie Andrew Hodges trifft, den Autor der 600seitigen Turing Biografie
„Alan Turing: The Enigma“, die bereits 1992 erschienen ist. Und tatsächlich
überzeugt sie ihn, das Werk zu einem Drehbuch verarbeiten zu dürfen.
Zurück in L.A. verfassen Grossman und Ostrowsky eine
einseitige Synopsis, die sie ihren alten Bossen zeigen, bei denen sie ihre
Praktika absolviert haben, darüber hinaus Freunden und jedem, der irgendwie
Kontakte hat. Doch, wie sie sagen: „Niemand las es, und niemand meldete sich
bei uns.“
Bei einem kleinen Dreh trifft Nora Grossman auf den
Drehbuchautor Graham Moore, der von Turing fasziniert ist, und sofort ebenso
große Begeisterung für das Projekt aufbringt. Auch wenn Moore als Comedy-Autor
arbeitet, nutzt er seine Freizeit und verfasst vier Drafts eines Drehbuchentwurfs.
Das Risiko, soviel Arbeit in ein nicht bestelltes Script zu investieren ist
erheblich – und bisher findet sich kein ernsthafter Interessent.
Nach zwei Jahren sind noch immer nur drei Personen an dem
Projekt beteiligt, die nichts als persönliche Befriedigung dafür erhalten
haben. Doch Moores vierter Entwurf ist tatsächlich so gut, dass es Aufsehen
erregt. Cumberbatch sagt dazu: „Das Drehbuch verlangt nicht, dass man Alan
Turing mag. Es verlangt nur, dass man ihn akzeptiert!“
Das Script findet einen Abnehmer in den Warner Brothers, die
für eine siebenstellige Summe zuschlagen, vor allem, weil Leonardo DiCaprio
Interesse zeigt, Turing zu spielen. Schließlich landet das Drehbuch zu THE
IMITATION GAME sogar – mit weitem Abstand! – auf Platz 1 der „Black List 2011“.
Die „Black List“ ist eine jährliche Umfrage unter knapp 250 Filmproduzenten,
welches ihr liebstes, bisher noch unproduziertes Drehbuch des Jahres ist. THE
IMITATION GAME ist der bisher einzige Eintrag, der hier jemals über 100 Stimmen
erhält.
2012 jedoch verliert das Projekt an Fahrt. DiCaprio steigt
aus, und damit auch Warner, die das Drehbuch zurück auf den Markt geben. Im Grunde
ein Todesstoß: Ein glühendheißes Script, das von der ganzen Branche geliebt
wird, aber immer noch keinen einzigen Schritt in Richtung Produktion geschafft
hat – kaum ein Film, der so weit zurückfällt, kommt noch einmal auf die Beine.
Zwar haben noch immer etliche Studios und Verleiher
Interesse – doch dem Projekt fehlte der große Name, um als Zugpferd zu agieren
und das Geld locker zu machen.
Der Investor
An diesem Punkt hilft nur noch pures Glück weiter, in diesem
Fall in der Person von Teddy Schwarzman!
Schwarzman ist Anfang Dreißig, Sohn eines Multimilliardärs
und gerade interessiert daran, Filme zu finanzieren. Seine Produktionsfirma
Black Bear Productions, die später auch das Redford Vehikel ALL IS
LOST auf die Leinwand bringt, ist so begeistert von dem Script, dass er den
Film auch ohne Starnamen finanziert. Allerdings will er daraus einen englischen
Film machen, immerhin gehe es hier um eine englische Legende.
Schwarzman will den Film produzieren, egal wie, egal mit
welchem Cast, solange es rein englisch bleibt. „Um den Vertrieb“, erklärt er,
„kümmern wir uns in Berlin“, und meint damit, dass er auf dem Europäischen
Filmmarkt im Rahmen der Berlinale einen Vertrieb finden will, wenn der Film
fertig ist.
Von nun an geht es für Odrowsky und Grossman tatsächlich
relativ reibungslos vorwärts. Schwarzman engagiert den norwegischen Regisseur
Morten Tyldum, der mit der Jo Nesbø Verfilmung HEADHUNTERS gerade den
erfolgreichsten norwegischen Film aller Zeiten abgeliefert hat. Tyldum erwägt
zwar auch Stars wie Andrew Garfield und James McAvoy für die Rolle des Turing,
entscheidet sich aber schließlich für Benedict Cumberbatch. Der ist bereits
interessiert, als Warner noch an dem Projekt hängt, wird damals aber noch als
zu kleiner Name abgelehnt.
© SquareOne Entertainment |
Doch die Mühen lohnen sich! THE IMITATION GAME begeistert
nicht nur das Publikum sondern wird zum erfolgreichsten Independentfilm des
Jahres 2014 und hat bisher knapp 70 Millionen Dollar eingespielt.
Aber das war doch alles ganz anders!
Doch trotz aller Begeisterung erntet der Film auch Kritik.
Schon während der Produktionsphase beklagen sich schwul-lesbische
Verbände, dass Turings Homosexualität im Film kaum Raum einnehme, bzw. nicht
entsprechend herausgestellt würde. Tatsächlich spart der Film diesen Aspekt
einigermaßen aus und bringt ihn erst am Ende als dramatisches Element ein, doch
versichert Autor Moore, anders als es ihm stellenweise vorgehalten wird, dass
niemals ein Entwurf existiert habe, der Turings Homosexualität ausgespart habe
oder der ihn heterosexuell dargestellt hätte.
Einige Filmkritiker bemängeln später, dass der Film sich mit
einer angedeuteten Romanze zu Turings Kurzverlobten Joan Clarke anbiedern
wolle. Ob das stimmt, oder hier lediglich eine ambivalente Freundschaft
inszeniert wurde, muss jeder Zuschauer selbst für sich entscheiden.
Kritik erfährt der Film auch dafür, dass er sich, obwohl er
sich in den generellen Fakten eng an die Realität hält, in den Details
deutliche Freiheiten herausnimmt.
Darunter fallen etwa folgende Punkte: (Achtung, die
Aufzählung enthält Spoiler!)
Während der Kino-Turing starke Anzeichen eines Asperger
Syndroms aufweist, soll der echte Turing tatsächlich äußerst gesellig und
humorvoll gewesen sein, wenn auch ziemlich exzentrisch.
Turings chemische Kastration hat seinen Verstand in keiner
Weise vernebelt. Obwohl er wohl in der Folge an Gynäkomastie litt, nutzte er
seine körperliche Wandlung, um einige bahnbrechende Beiträge zur Theoretischen
Biologie zu liefern, einer Unterart der Wissenschaft, die biologische Phänomene
mathematisch zu erklären versucht.
In Bletchley Park arbeiteten natürlich nicht fünf Techniker,
die nach vier Jahren einen einzigen Durchbruch feierten, sondern Tausende von Experten,
die sich ein jahrelanges Wettrüsten mit den Deutschen lieferten. Immer wieder
gab es Erfolge und Rückschläge, und immer wieder passten die Deutschen ihre
Enigma-Maschinen an und stellten Bletchley Park damit vor neue
Herausforderungen.
Auch fällten nicht die Codebrecher die Entscheidung, auf
welche dekodierten Nachrichten man reagierte, sondern diese Entscheidung wurde
deutlich weiter oben in der Befehlskette getroffen.
© SquareOne Entertainment |
Und Turing baute nicht alleine an einer „Turing Maschine“,
die er „Christopher“ nannte, sondern entwickelte mit Hunderten Kollegen eine
Verbesserung der polnischen „Bombe“-Maschine, die den Namen „Victory“ trug.
Auch in den Personen gab es einige Veränderungen, am
stärksten in der Figur der Joan Clarke, die deutlich weniger glamourös war und
auch nie vor ihren Eltern floh.
Nun bleibt die Frage, inwieweit das relevant ist, wenn ein
Film die Realität dramatisiert, vereinfacht und auf eine oder zwei Kernaussagen
herunterbricht.
Drehbuchautor Moore erklärt dazu: „Natürlich ging es uns
nicht darum, eine Reihe von Fakten zu präsentieren. Viel zu viele Filme wirken,
als lese einem jemand die Wikipedia-Seite vor. Wir wollten ein Stück Kunst
schaffen. Uns ging es darum, ein Gefühl zu erwecken und zu vermitteln. Ein Gefühl
dafür, wer Alan Turing war. Was seine Geschichte war. Wie es sich angefühlt
haben mag, Alan Turing zu sein. Da ist das Ziel eines Kunstwerks.“
Would the real Alan Turing please stand up
Dennoch bleibt die Frage: Wenn der Film so viel verändert,
steckt dann vielleicht ein Grund dahinter?
Ich denke schon, und noch dazu ein sehr ehrenhafter. Um das zu erklären, muss man allerdings kurz darstellen, was die Arbeit des echten Alan Turings eigentlich ausgezeichnet hat – und was sein „Imitation Game“ genau ist!
Ich denke schon, und noch dazu ein sehr ehrenhafter. Um das zu erklären, muss man allerdings kurz darstellen, was die Arbeit des echten Alan Turings eigentlich ausgezeichnet hat – und was sein „Imitation Game“ genau ist!
© SquareOne Entertainment |
Das berühmteste davon ist seine sogenannte
„Turing-Maschine“. Rein mit den Mitteln der Mathematik und der Logik – also
allem, was bis heute die Funktionsweise von Computern bestimmt – erschafft
Turing einen hypothetischen Apparat, der mithilfe einer Handvoll
vorherbestimmter (programmierter) Befehle die Informationen auf einem –
ebenfalls nur theoretischen – Magnetband verändern kann.
Anhand dieses Gedankenexperiments können Turing und andere
Forscher die Strukturen und Arbeitsweisen eines Computers und einer
Programmierung verstehen und analysieren.
Was Turing hier 1936 als theoretisches Konstrukt entwirft,
bildet mit dem Aufkommen des Magnetbandes in den Siebzigern tatsächlich die Basis
für die ersten, nicht auf Lochkarten basierten Computer!
Doch Turings Interesse geht noch viel weiter: Neben den
Grundlagen der Informatik wirft er auch Fragen auf, wie weit künstliche
Intelligenz gehen kann. Turing beschäftigt sich Jahrzehntelang mit der Frage
„können Maschinen denken?“, wobei er gleich zu Beginn klarstellt, dass man
dafür zunächst die Begriffe „Maschine“ und „denken“ definieren müsse, das aber
nicht möglich sei.
Also wählt Turing einen anderen Ansatz, erneut einen rein
hypothetischen – er entwickelt ein Gedanken-Spiel.
Wer Imitiert hier wen?
Turings Spiel benötigt (vereinfacht dargestellt!) drei
Spieler, die in drei separaten Räumen sitzen. Einer der drei Spieler ist der
„Richter“. Er kommuniziert mit den anderen beiden Spielern über einen Monitor.
Einer seiner Mitspieler ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide
Mitspieler haben nun die Aufgabe, den Richter davon zu überzeugen, dass sie der
Mensch sind und der andere Mitspieler die Maschine. Am Ende der Unterhaltung
muss der „Richter“ sein Urteil fällen.
Gelingt es der Maschine, den Richter für sich einzunehmen,
gewinnt sie das Spiel.
In diesem Falle, so Turing, ist es ihrer Programmierung
gelungen, menschliches Verhalten so gut zu imitieren, dass man sie als
menschlich ansehen kann.
Dieses Gedankenspiel nennt Turing Das Imitations Spiel –
„The Imitation Game“.
© SquareOne Entertainment |
Sie ehren Turings Andenken, indem sie den Film dazu nutzen,
mit dem Zuschauer Turings Imitation-Game durchzuexerzieren. Sie machen den
Zuschauer zum „Richter“, und inszenieren Turing auf eine Weise, dass den
Zuschauer zwingt sich zu entscheiden: Hält er Turing für einen Menschen oder
eine Maschine? Das bringt zwar einige Änderungen realer Hintergründe mit sich,
dient dem Genie aber als zusätzliche Ehrung.
Das Apfel-Problem
Schwierig erweist sich für Regisseur Tyrdum das Ende des
Films – und die Frage, ob man Turings vermeintlichen Selbstmord zeigen soll
oder nicht.
Turing stirbt im Juni 1954, als er in einen mit Zyankali
bedeckten Apfel beißt. Später entspinnt sich die urbane (und falsche!) Legende,
dass Steve Jobs sein Apple-Logo auf diesem Umstand designte.
Aber starb Turing nun freiwillig?
Befürworter der Selbstmordtheorie meinen, dass Turing bewusst
durch den Biss in einen Apfel starb, um sein mutmaßliches Lieblingsmärchen
„Schneewittchen“ nachzustellen.
Zweifler an der Selbstmordthese glauben, dass es ein Unfall war,
und der Apfel nur versehentlich und als Nebenprodukt von Turings Forschungen
mit Zyankali bedeckt worden sei.
Eine dritte Fraktion wiederum glaubt, dass Turing sich
bewusst so ambivalent umgebracht habe, um seiner Mutter die Möglichkeit zu
lassen, an einen Unfall zu glauben.
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Das letzte Wort ...
Auch in der Realität bemüht man sich, dem Film einen positiven
Ausklang zu geben. Am 23. Januar 2015 startet der populäre LGBT-Aktivist und
Filmemacher Stephen Fry mit Unterstützung von Harvey Weinstein, Benedict
Cumberbatch und anderen Stars eine Kampagne mit dem Ziel, nicht nur Alan Turing
im Nachhinein zu begnadigen, sondern auch jeden anderen der gut 49.000 wegen
Homosexualität verurteilten Engländer zu begnadigen.
Die simpelste Erklärung dazu liefert erneut Benedict
Cumberbatch:
Alan Turing wurde von der Regierung nicht nur verurteilt,
sondern höchstwahrscheinlich auch zu einem frühen Selbstmord gezwungen. Man
schimpfte ihn einen Kriminellen, aus dem einfachen Grund, dass er die Liebe
suchte, die er verdiente, wie es alle Menschen tun. Sechzig Jahre später
erklärt dieselbe Regierung, dass sie ihm “vergebe”, indem sie ihn begnadigt. Ich
finde das bedauernswert. Denn Turings Taten erfordern keine Vergebung – die Taten
der Regierung tun das! Und dasselbe gilt für all die anderen 49.000
verurteilten Männer.
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