Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger feiert ein neues,
kreatives Genre seinen rasanten Aufstieg. Meilensteine wie ALIEN, HALLOWEEN und
NIGHTMARE ON ELM STREET begründen den Aufstieg der populären Gruselfilme.
Knapp fünfzehn Jahre später allerdings hat sich der
Gruselfilm in eine Sackgasse manövriert, aus der er nicht mehr herausfindet. Die
Filme sind bis in den letzten Winkel durchritualisiert, vorhersehbar und langweilig
geworden.
Da rauscht ein kleiner, japanischer Independentfilm durch die Fantasy Filmfeste der Welt und erobert das Publikum im Sturm. In nur neunzig Minuten gelingt es RING, alles auf den Kopf zu stellen, was die westliche Welt über Gruselfilme weiß. Und haucht dem Genre so viel neues Leben, so viele neue Ideen ein, dass es noch sechzehn Jahre später davon zehrt.
Da rauscht ein kleiner, japanischer Independentfilm durch die Fantasy Filmfeste der Welt und erobert das Publikum im Sturm. In nur neunzig Minuten gelingt es RING, alles auf den Kopf zu stellen, was die westliche Welt über Gruselfilme weiß. Und haucht dem Genre so viel neues Leben, so viele neue Ideen ein, dass es noch sechzehn Jahre später davon zehrt.
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Ende der Neunziger sind westliche Horrorfilme, besonders die
aus Hollywood, vom ersten Bild bis hin zum letzten völlig vorhersehbar geworden.
Die Gruselformel
Sie beginnen stets mit einem Appetizer: Ein kurzer Blick auf
das Monster, auf ein Opfer, eine Ahnung davon, welche Schrecken der Film
verspricht. Der Ort des Grauens ist stets ein abgelegener, isolierter,
möglicherweise lebensfeindlicher Winkel der Welt.
Anschließend ein krasser Szenenwechsel: Die Figuren werden
eingeführt, meist zwischen fünf und acht Personen, in entspannter, fröhlicher
Atmosphäre. Man erfährt den Grund, weshalb sie an den abgelegenen, isolierten,
möglicherweise lebensfeindlichen Ort reisen müssen.
Dort angekommen spaltet sich die Gruppe auf: in jene, welche
merkwürdige Ereignisse beobachten und davor warnen oder davon berichten, und in
jene, die das als Unsinn abtun.
Der erste Akt endet mit dem ersten Opfer. Das erste
Gruppenmitglied, meist einer der „Ungläubigen“, der sich alle Warnungen in den
Wind schlagend in den dunklen Keller (oder so) gewagt hat, wird von der Gefahr
erfasst und brutal und blutig gemeuchelt oder verwandelt oder was auch immer.
Hauptsache blutig, brutal und voller Schreie.
Der zweite Akt erzählt den nun unvermeidbaren
Überlebenskampf der restlichen Gruppe. Diese muss ihre internen Streitigkeiten
überwinden und die Gefahr bekämpfen. Die lauert in diversen dunklen Ecken und
dezimiert die Gruppe Stück für Stück indem sie mit einem lauten Geräusch ins
Bild springt und ein blutiges Gemetzel anrichtet. Währenddessen wird deutlich,
wer aus der Gruppe eigentlich der Held des Films ist: Er findet durch kluges Zusammenfügen
der Hinweise heraus, was die Gefahr ist und was sie will.
Der zweite Akt endet damit, dass der Held und noch
übrig gebliebenen Überlebenden herausfinden, wie sie die Gefahr bekämpfen und
töten können.
Der dritte Akt schildert nun den Endkampf. Der Held muss
gegen alle Hindernisse die Gefahr besiegen und entkommen.
Hier liegt auch die größte Varianz des Genres: Stirbt der Held, oder entkommt er tatsächlich? In jedem Fall besiegt er die Gefahr, die
allerdings kurz vor Schluss noch einmal auftaucht. Entweder als letzter
Schreckeffekt, um eine Fortsetzung zu rechtfertigen, oder um zu zeigen, dass
das Böse nie wirklich besiegt ist.
Langeweile nach Schema F
Diese unabänderliche Formel für Horrorfilme bringt bald auch
mit sich, dass Einzelszenen verklausuliert werden. Horrorfilme haben nur eine
Möglichkeit, Angst zu erzeugen: Mit möglichst grausigen Bildern und Situationen
und sogenannten Scare-Jumps. Zum Archetypus wird der umgeklappte Spiegel im
Badezimmer: Klappt der ahnungslose Held diesen zu, steht das Monster plötzlich
hinter ihm. Oder er schließt eine offene Kühlschranktür, hinter der sich das
Monster versteckt.
Grusel wird beim Zuschauer durch die Erwartung erzeugt, dass
das Monster/die Gefahr jederzeit aus einer dunklen Ecke ins Bild „springen“ und
sie erschrecken kann. Als sich das Element abnutzt, kommt der „falsche
Schreckmoment“ zum Einsatz: Der Badezimmerspiegel bleibt so leer wie der Platz
hinter der Kühlschranktür. Kaum hat der Zuschauer sich vom nicht erfolgten
Schrecken erholt, dreht die Figur sich mit einem schnellen Kameraschwenk zur
Seite – und rennt dem Monster in die Arme.
Egal wie, die Art und Weise, mit denen westliche Filmemacher
ihr Publikum noch zu ängstigen oder gar erschrecken könnten, wird immer ideenloser
und verzweifelter. Ideen, so scheint es, gibt es keine mehr. Das führt dazu,
dass selbst ein Film wie SCREAM frenetisch bejubelt wird. Dem fällt zwar nichts
Neues ein, aber wenigstens behandelt er die Regeln und Konventionen des Genres
und unterhält damit auf einer Meta-Ebene. (Darüber hinaus bringt er dem Genre
des Teenie-Slashers Mitte der Neunziger einen kurzen, unverhofften Aufschwung!)
Dann aber kommt RING – und fürchtet die Menschen zu Tode.
Jedenfalls im Westen ist diese Art und Form des psychologischen Horrors nahezu
unbekannt. Die Geschicklichkeit, mit der RING ohne Monster in dunklen Ecken,
ohne Blut, und ohne das „Zehn kleine Monsteropfer“-Prinzip auskommt, ist ebenso
atemberaubend wie seine Fähigkeit, den Zuschauern lediglich potentielle Bilder
in den Kopf zu zaubern, welche diese gar nicht sehen wollen! RING ist die westliche
Geburtsstunde des psychologischen Horrors.
Schwarz-weiß im Brunnen
Dabei ist die Grundgeschichte von RING in Japan ein alter
Hut!
Japans Filmwelt ist im Westen so gut wie unbekannt. Ein paar
Grindhouse-Liebhaber können vielleicht mit den SASORI-Filmen etwas anfangen.
Ein paar Fans gewinnt auch der Manga, der mit AKIRA auf der westlichen
Bildfläche erschien und in den Neunzigern zu veritablen Erfolgen wie GHOST IN
THE SHELL und UROTSUKIDOJI führt. Aber sonst kennt man den japanischen Filme
eigentlich nur für Akira Kurosawas Klassiker und GODZILLA!
Doch die japanische Kultur kennt schon seit Jahrhunderten
die Geschichte von Rachegeistern, die dort sowohl Folklore als auch urbane
Legende sind.
Die Figur des Rachegeists geht wenigstens bis ins 8.
Jahrhundert zurück. Die wahlweise als „Onryō“ (Rachsüchtiger Geist) oder „Yūrei“ (Verschwommene Seele) bezeichneten
Geister, sind nur zwei Beispiele der an Geistern nicht armen japanischen
Mythologie. Dieser liegt zugrunde, dass man nicht das nächste Leben erreicht,
wenn man voller Zorn oder unter brutalen Umständen aus dem Leben gerissen
wurde.
Schon im
japanischen Mittelalter entwickelt sich im populären Kabuki-Theater die gängige
Kostümierung dieser Rachegeister: ein weißer Toten-Kimono, lange, schwarze,
ungepflegte Haare und eine schlaffe, unnatürliche Körperhaltung mit knorrigen
Armen.
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In allen Varianten
geht eine der Platten verloren oder kaputt, oft als Teil einer unglücklichen Liebesgeschichte
oder -intrige, die Okiku mit einem ihrer adeligen Herren verbindet. In allen
Varianten stirbt Okiku einen brutalen Tod durch Folter und Vergewaltigung und
wird in einen Brunnen geworfen.
Als Folge hört man nun ihre Stimme vom Grund eines Brunnen heraufkriechen, wie sie wieder und
wieder neun Keramikplatten zählt, stets auf der Suche nach der Zehnten. Andere
meinen, Okiku in der Nähe des Brunnens herumwandern zu sehen, stets auf der
Suche nach der zehnten Keramikplatte. Und in manchen Versionen kriecht Okiku
weißgewandet, nass und tot über den Rand des Brunnens, wenn sie den
vermeintlichen Dieb ausgemacht zu haben glaubt, um diesen mit ihrer Rachsucht heimzusuchen.
Die Legende gräbt
sich so tief in die japanische Seele ein, dass bei einer weiträumigen
Brunnenvergiftung Ende des 18.
Jahrhunderts ein „Okiku-Wurm“ verantwortlich gemacht wird.
Körperlos gefundener Horrorboom
Und sie dient Kōji
Suzuki als Vorlage für seinen 1991 erscheinenden Roman „Ring“, in dem der
Reporter Kazujuki mit seinem Freund Ryuji einem mysteriösen Videoband auf die
Spur zu kommen versucht – denn jeder, der das Video anschaut, stirbt eine Woche
später.
Der Roman wird
bereits 1995, sehr originalgetreu, für einen Fernsehfilm adaptiert, bevor 1998
die Kinoversion realisiert wird. Diese weist einige Veränderungen zum Roman
auf. Die bedeutendsten sind der Wandel des Helden in eine Heldin (Reiko) und
das bemerkenswerte Ende des Films. Die Szene, die den Horrorschocker berühmt
macht, findet sich nicht im Buch, da dort der Fluch des Videobands anders
funktioniert.
Der Film wird in
Japan ein Straßenfeger und zum bis dato erfolgreichsten Horrorfilm aller Zeiten.
Bei einem Budget von umgerechnet 6 Millionen Dollar spielt er allein in Japan
fast 140 Millionen Dollar ein!
So dauert es nicht
lange, bis Sadako und ihr Fluch über die Fantasy Filmfeste auch einem
westlichen Publikum bekannt werden. Und sie begeistern restlos.
RING bringt eine
Menge Änderungen in den Westen. Erstmals gelangt auch hier der sogenannte
„Psychologische Horror“ in den Fokus, bei dem es nicht so sehr darum geht, dass
jeden Augenblick etwas ins Bild gesprungen kommen könnte, das die Helden blutig
zerreißt, sondern der mit der Frage gruselt: Wer oder was ist neben der Figur
noch im hell erleuchteten Zimmer? Es ist das unbestimmte Gefühl, nicht allein
zu sein, das einem Schauer über den Rücken jagt.
Der Erfolg rührt
daher, dass mit RING erstmals körperlose Geister in die westlichen Sehgewohnheiten
dringen. Die Idee, einen Geist in der Reflektion des Fernsehers einzuspielen, der
aber nicht mehr da ist, sobald Reiko sich umdreht, mag mittlerweile
abgedroschen sein, ist zu Zeiten von RING aber revolutionär neuartig und sorgt
für Gänsehaut beim Zuschauer. (Für Japaner ist diese Form des Grusels alles
andere als neu. Schon der Gruselklassiker ONIBABA von 1964 arbeitet mit vielen
Elementen, die auch RING auszeichnen, die im Westen aber völlig unbekannt
sind.)
Ein Jahr später bringt
Amerika ebenfalls eine revolutionäre Neuerung ins Kino, die ihre Ideen eng von
RING übernommen zu haben scheint: Mit THE BLAIR WITCH PROJECT erscheint der
erste Found-Footage-Horrorfilm überhaupt. Unter der Prämisse, die Aufnahmen im
Wald gefunden zu haben, begleitet man drei Filmstudenten auf der Suche nach
einem Geist oder einer Hexe, die in den Wäldern leben soll. Hier gelingt es einem
Horrorfilm erstmals, den Grusel endgültig ohne jegliches Monster zu
inszenieren.
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RING löst einen
wahren Boom japanischer Horrorfilme aus! Endlich können sich selbst
gestandene Gruselfilmexperten wieder richtig gruseln! Mit JU-ON, DARK WATER,
THE CALL und PULSE gelangen eine Handvoll Klassiker in die Kinos, die allesamt,
genau wie RING, erfolgreiche US-Remakes nach sich ziehen.
Den US-Remakes
gelingt es dabei, den japanischen Originalen treu zu bleiben und dennoch
eigenständig zu werden. Meist erweitern sie die japanische Version um 10 bis 30
Minuten, fügen einige Elemente ein, und verbessern vor allem die Effekte, was nicht selten den im Endeffekt besseren Film ergibt.
Und die Welle, die
RING ausgelöst hat, ebbt bis heute nicht ab. Selbst moderne Horrorklassiker wie
MAMA, THE CONJURING oder PARANORMAL ACTIVITY bedienen sich der Techniken, die
RING (und später THE BLAIR WITCH PROJECT) in die westliche Erzähltradition
eingebracht hat. Der unsichtbare Horror im Kopf, die Andeutung von etwas Grausamem,
der Geist, der getrieben und rachsüchtig neue Opfer sucht, und der einen
perfiden Exorzismus und ein Opfer erfordert.
Auch das ist einer
der Erfolgsgründe für RING – es gibt keine klaren Opfer und Helden mehr, kein
klares „die Gefahr besiegen oder sterben“. Seit RING dürfen Gruselfilme
ambivalent enden, kann ein Happy End selbst dann erfolgen, wenn das Monster
lebt und der Held stirbt oder selbst zum Mörder wird.
Keine Filmreihe hat
diese Formel, die Kombination aus RING und BLAIR WITCH PROJECT, schließlich
derart konzentriert (und erfolgreich!) auf die Leinwand gebracht wie PARANORMAL
ACTIVITY. Mit der unscharfen Found-Footage-Technik von BLAIR WITCH und dem
Grauen im Kopf von RING, gelingt es der PARANORMAL-Reihe mit aktuell fünf
Teilen (es folgen noch weitere!), mit nichts als abgefilmten Haushaltsgegenständen
die Zuschauer zu gruseln!
Technische Folklore und mobile Spukschlösser
Zwar gab es auch in der westlichen Filmwelt bereits Horrorfilme, die moderne Technikelemente einbrachten, etwa NIGHTMARE ON ELMSTREET 3, in welchem Freddy Krueger sich in einen Fernseher verwandelt. Auch in POLTERGEIST spielt ein Fernseher eine entscheidende Rolle, ebenso wie in SHOCKER, in dem ein Serienmörder nach dem Tod auf dem elektrischen Stuhl als Strommonster für Opfer sorgt.
Allerdings ist RING
der erste Film, der traditionelle, folkloristische Motive mit moderner Technik
wie Fernsehen und Video kombiniert. Auch das trägt viel dazu bei, dass der Film
im Gedächtnis bleibt.
Spuk, Geister und
Flüche sind für gewöhnlich an Orte wie alte Gemäuer und Schlösser gebunden, oder
auf bestimmte Personen begrenzt, etwa die verfluchten Nachfahren in NIGHTMARE ON
ELM STREET. Dass der Fluch eines Geists an ein Video gebunden ist und damit
nicht nur willkürliche Opfer sucht, sondern einen auch jederzeit an jedem Ort
treffen kann, ist vollkommen ungewöhnlich. (Diese Grundthematik wird später in
PULSE und THE CALL weitergeführt, während JU-ON und DARK WATER sich eher der
klassischen Spukschloss-Thematik bedienen.) Vor allem, da die Opfer ohne
eigenes Zutun allein durch den passiven (und alltäglichen!) Akt des Videoguckens
verflucht werden, während in vergleichbaren westlichen Horrorfilmen ein aktiver
Akt notwendig ist – wie etwa das fünfmalige Aufsagen von CANDYMAN in einen
Spiegel.
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Auch das bringt
frischen Wind in den westlichen Horrorfilm: Verfluchte Gegenstände wie in POSSESSION werden auch in Hollywood endlich salonfähig.
Der Quotenjapaner
Und schließlich
bringt RING noch einen waschechten Star hervor. Der aufgeklärte, gewitzte Ryuji
wird vom außerhalb Japans völlig unbekannten Hiroyuki Sanada gespielt und
beschert dem charismatischen Mimen den Durchbruch. Neben den Fortsetzungen ergattert
er die Rolle in THE TWILIGHT SAMURAI, der ihn dank seiner Oscarnominierung auch
endlich auf Hollywoods Radar erscheinen lässt. Ein Jahr später darf er bereits
den misstrauischen Ujio in THE LAST SAMURAI spielen, und wandert 2007 nach
Hollywood aus. Dort kann er in Danny Boyles SUNSHINE, in RUSH HOUR 3 und dem
eher durchwachsenen SPEED RACER der Wachowskis mitspielen, bevor er als
tragende Figur in der letzten Staffel von LOST gecastet wird.
Mittlerweile ist er
einer der populärsten Darsteller japanischer Figuren in Hollywood, etwa in
WOLVERINE: WEG DES KRIEGERS oder in 47 RONIN. Daneben durfte er zuletzt in
HELIX eine, diesmal nicht speziell auf einen Japaner zugeschnittene, Rolle
spielen und wird auch in Zukunft noch oft zu sehen sein.
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